Dreizehnter Brief

[606] Beim ersten Anblick scheint nichts einander mehr entgegengesetzt zu sein als die Tendenzen dieser beiden Triebe, indem der eine auf Veränderung, der andre auf Unveränderlichkeit dringt. Und doch sind es diese beiden Triebe, die den Begriff der Menschheit erschöpfen, und ein dritter Grundtrieb, der beide vermitteln könnte, ist schlechterdings[606] ein undenkbarer Begriff. Wie werden wir also die Einheit der menschlichen Natur wiederherstellen, die durch diese ursprüngliche und radikale Entgegensetzung völlig aufgehoben scheint?

Wahr ist es, ihre Tendenzen widersprechen sich, aber, was wohl zu bemerken ist, nicht in denselben Objekten, und was nicht aufeinandertrifft, kann nicht gegeneinanderstoßen. Der sinnliche Trieb fodert zwar Veränderung, aber er fodert nicht, daß sie auch auf die Person und ihr Gebiet sich erstrecke: daß ein Wechsel der Grundsätze sei. Der Formtrieb dringt auf Einheit und Beharrlichkeit – aber er will nicht, daß mit der Person sich auch der Zustand fixiere, daß Identität der Empfindung sei. Sie sind einander also von Natur nicht entgegengesetzt, und wenn sie dessen ungeachtet so erscheinen, so sind sie es erst geworden durch eine freie Übertretung der Natur, indem sie sich selbst mißverstehen und ihre Sphären verwirren3. Über diese zu[607] wachen und einem jeden dieser beiden Triebe seine Grenzen zu sichern, ist die Aufgabe der Kultur, die also beiden eine gleiche Gerechtigkeit schuldig ist und nicht bloß den vernünftigen Trieb gegen den sinnlichen, sondern auch diesen gegen jenen zu behaupten hat. Ihr Geschäft ist also doppelt: erstlich: die Sinnlichkeit gegen die Eingriffe der Freiheit zu verwahren: zweitens: die Persönlichkeit gegen die Macht der Empfindungen sicherzustellen. Jenes erreicht sie durch Ausbildung des Gefühlvermögens, dieses durch Ausbildung des Vernunftvermögens.

Da die Welt ein Ausgedehntes in der Zeit, Veränderung ist, so wird die Vollkommenheit desjenigen Vermögens, welches den Menschen mit der Welt in Verbindung setzt, größtmöglichste Veränderlichkeit und Extensität sein müssen. Da die Person das Bestehende in der Veränderung ist, so wird die Vollkommenheit desjenigen Vermögens, welches sich dem Wechsel entgegensetzen soll, größtmöglichste Selbständigkeit und Intensität sein müssen. Je vielseitiger sich die Empfänglichkeit ausbildet, je beweglicher dieselbe ist, und je mehr Fläche sie den Erscheinungen darbietet, desto mehr Welt ergreift der Mensch, desto mehr Anlagen entwickelt er in sich; je mehr Kraft und Tiefe die Persönlichkeit, je mehr Freiheit die Vernunft gewinnt, desto mehr Welt begreift der Mensch, desto mehr Form schafft er außer sich. Seine Kultur wird also darin bestehen: erstlich: dem empfangenden Vermögen die vielfältigsten Berührungen mit der Welt zu verschaffen und auf seiten des Gefühls die Passivität aufs höchste zu treiben: zweitens: dem bestimmenden Vermögen die höchste Unabhängigkeit von dem empfangenden zu erwerben und auf seiten der Vernunft die Aktivität aufs höchste zu treiben. Wo beide Eigenschaften sich vereinigen, da wird der Mensch mit der höchsten Fülle von Dasein die höchste Selbständigkeit und Freiheit verbinden und, anstatt sich an die Welt zu verlieren, diese vielmehr mit der ganzen Unendlichkeit ihrer Erscheinungen in sich ziehen und der Einheit seiner Vernunft unterwerfen.[608]

Dieses Verhältnis nun kann der Mensch umkehren und dadurch auf eine zweifache Weise seine Bestimmung verfehlen. Er kann die Intensität, welche die tätige Kraft erheischt, auf die leidende legen, durch den Stofftrieb dem Formtriebe vorgreifen und das empfangende Vermögen zum bestimmenden machen. Er kann die Extensität, welche der leidenden Kraft gebührt, der tätigen zuteilen, durch den Formtrieb dem Stofftriebe vorgreifen und dem empfangenden Vermögen das bestimmende unterschieben. In dem ersten Fall wird er nie er selbst, in dem zweiten wird er nie etwas anders sein; mithin eben darum in beiden Fällen keines von beiden, folglich – Null sein4.

Wird nämlich der sinnliche Trieb bestimmend, macht der Sinn den Gesetzgeber, und unterdrückt die Welt die Person, so hört sie in demselben Verhältnisse auf, Objekt zu sein, als sie Macht wird.[609] Sobald der Mensch nur Inhalt der Zeit ist, so ist er nicht, und er hat folglich auch keinen Inhalt. Mit seiner Persönlichkeit ist auch sein Zustand aufgehoben, weil beides Wechselbegriffe sind – weil die Veränderung ein Beharrliches und die begrenzte Realität eine unendliche fodert. Wird der Formtrieb empfangen, das heißt, kommt die Denkkraft der Empfindung zuvor und unterschiebt die Person sich der Welt, so hört sie in demselben Verhältnis auf, selbständige Kraft und Subjekt zu sein, als sie sich in den Platz des Objektes drängt, weil das Beharrliche die Veränderung, und die absolute Realität zu ihrer Verkündigung Schranken fodert. Sobald der Mensch nur Form ist, so hat er keine Form; und mit dem Zustand ist folglich auch die Person aufgehoben. Mit einem Wort: nur insofern er selbständig ist, ist Realität außer ihm, ist er empfänglich; nur insofern er empfänglich ist, ist Realität in ihm, ist er eine denkende Kraft.

Beide Triebe haben also Einschränkung und, insofern sie als Energien gedacht werden, Abspannung nötig; jener, daß er sich nicht ins Gebiet der Gesetzgebung, dieser, daß er sich nicht ins Gebiet der Empfindung eindringe. Jene Abspannung des sinnlichen Triebes[610] darf aber keineswegs die Wirkung eines physischen Unvermögens und einer Stumpfheit der Empfindungen sein, welche überall nur Verachtung verdient; sie muß eine Handlung der Freiheit, eine Tätigkeit der Person sein, die durch ihre moralische Intensität jene sinnliche mäßigt und durch Beherrschung der Eindrücke ihnen an Tiefe nimmt, um ihnen an Fläche zu geben. Der Charakter muß dem Temperament seine Grenzen bestimmen, denn nur an den Geist darf der Sinn verlieren. Jene Abspannung des Formtriebs darf ebensowenig die Wirkung eines geistigen Unvermögens und einer Schlaffheit der Denk- oder Willenskräfte sein, welche die Menschheit erniedrigen würde. Fülle der Empfindungen muß ihre rühmliche Quelle sein; die Sinnlichkeit selbst muß mit siegender Kraft ihr Gebiet behaupten und der Gewalt widerstreben, die ihr der Geist durch seine vorgreifende Tätigkeit gerne zufügen möchte. Mit einem Wort: den Stofftrieb muß die Persönlichkeit, und den Formtrieb die Empfänglichkeit oder die Natur in seinen gehörigen Schranken halten.

3

Sobald man einen ursprünglichen, mithin notwendigen Antagonism beider Triebe behauptet, so ist freilich kein anderes Mittel, die Einheit im Menschen zu erhalten, als daß man den sinnlichen Trieb dem vernünftigen unbedingt unterordnet. Daraus aber kann bloß Einförmigkeit, aber keine Harmonie entstehen, und der Mensch bleibt noch ewig fort geteilt. Die Unterordnung muß allerdings sein, aber wechselseitig: denn wenngleich die Schranken nie das Absolute begründen können, also die Freiheit nie von der Zeit abhängen kann, so ist es ebenso gewiß, daß das Absolute durch sich selbst nie die Schranken begründen, daß der Zustand in der Zeit nicht von der Freiheit abhängen kann. Beide Prinzipien sind einander also zugleich subordiniert und koordiniert, d.h. sie stehen in Wechselwirkung; ohne Form keine Materie, ohne Materie keine Form. (Diesen Begriff der Wechselwirkung und die ganze Wichtigkeit desselben findet man vortrefflich auseinandergesetzt in Fichtes »Grundlage der gesamten Wissenschaftslehre«, Leipzig 1794.) Wie es mit der Person im Reich der Ideen stehe, wissen wir freilich nicht; aber daß sie, ohne Materie zu empfangen, in dem Reiche der Zeit sich nicht offenbaren könne, wissen wir gewiß; in diesem Reiche also wird die Materie nicht bloß unter der Form, sondern auch neben der Form und unabhängig von derselben etwas zu bestimmen haben. So notwendig es also ist, daß das Gefühl im Gebiet der Vernunft nichts entscheide, ebenso notwendig ist es, daß die Vernunft im Gebiet des Gefühls sich nichts zu bestimmen anmaße. Schon indem man jedem von beiden ein Gebiet zuspricht, schließt man das andere davon aus und setzt jedem eine Grenze, die nicht anders als zum Nachteile beider überschritten werden kann.

In einer Transzendentalphilosophie, wo alles darauf ankommt, die Form von dem Inhalt zu befreien und das Notwendige von allem Zufälligen rein zu erhalten, gewöhnt man sich gar leicht, das Materielle sich bloß als Hindernis zu denken und die Sinnlichkeit, weil sie gerade bei diesem Geschäft im Wege steht, in einem notwendigen Widerspruch mit der Vernunft vorzustellen. Eine solche Vorstellungsart liegt zwar auf keine Weise im Geiste des Kantischen Systems, aber im Buchstaben desselben könnte sie gar wohl liegen.

4

Der schlimme Einfluß einer überwiegenden Sensualität auf unser Denken und Handeln fällt jedermann leicht in die Augen; nicht so leicht, ob er gleich ebenso häufig vorkommt und ebenso wichtig ist, der nachteilige Einfluß einer überwiegenden Rationalität auf unsre Erkenntnis und auf unser Betragen. Man erlaube mir daher, aus der großen Menge der hieher gehörenden Fälle nur zwei in Erinnerung zu bringen, welche den Schaden einer der Anschauung und Empfindung vorgreifenden Denk- und Willenskraft ins Licht setzen können.

Eine der vornehmsten Ursachen, warum unsre Naturwissenschaften so langsame Schritte machen, ist offenbar der allgemeine und kaum bezwingbare Hang zu teleologischen Urteilen, bei denen sich, sobald sie konstitutiv gebraucht werden, das bestimmende Vermögen dem empfangenden unterschiebt. Die Natur mag unsre Organe noch so nachdrücklich und noch so vielfach berühren – alle ihre Mannigfaltigkeit ist verloren für uns, weil wir nichts in ihr suchen, als was wir in sie hineingelegt haben, weil wir ihr nicht erlauben, sich gegen uns herein zu bewegen, sondern vielmehr mit ungeduldig vorgreifender Vernunft gegen sie heraus streben. Kommt alsdann in Jahrhunderten einer, der sich mit ruhigen, keuschen und offenen Sinnen naht und deswegen auf eine Menge von Erscheinungen stößt, die wir bei unsrer Prävention übersehen haben, so erstaunen wir höchlich darüber, daß so viele Augen bei so hellem Tag nichts bemerkt haben sollen. Dieses voreilige Streben nach Harmonie, ehe man die einzelnen Laute beisammen hat, die sie ausmachen sollen, diese gewalttätige Usurpation der Denkkraft in einem Gebiete, wo sie nicht unbedingt zu gebieten hat, ist der Grund der Unfruchtbarkeit so vieler denkenden Köpfe für das Beste der Wissenschaft, und es ist schwer zu sagen, ob die Sinnlichkeit, welche keine Form annimmt, oder die Vernunft, welche keinen Inhalt abwartet, der Erweiterung unserer Kenntnisse mehr geschadet haben.

Ebenso schwer dürfte es zu bestimmen sein, ob unsre praktische Philanthropie mehr durch die Heftigkeit unsrer Begierden oder durch die Rigidität unsrer Grundsätze, mehr durch den Egoism unsrer Sinne oder durch den Egoism unsrer Vernunft gestört und erkältet wird. Um uns zu teilnehmenden, hülfreichen, tätigen Menschen zu machen, müssen sich Gefühl und Charakter miteinander vereinigen, sowie, um uns Erfahrung zu verschaffen, Offenheit des Sinnes mit Energie des Verstandes zusammentreffen muß. Wie können wir, bei noch so lobenswürdigen Maximen, billig, gütig und menschlich gegen andere sein, wenn uns das Vermögen fehlt, fremde Natur treu und wahr in uns aufzunehmen, fremde Situationen uns anzueignen, fremde Gefühle zu den unsrigen zu machen? Dieses Vermögen aber wird sowohl in der Erziehung, die wir empfangen, als in der, die wir selbst uns geben, in demselben Maße unterdrückt, als man die Macht der Begierden zu brechen und den Charakter durch Grundsätze zu befestigen sucht. Weil es Schwierigkeit kostet, bei aller Regsamkeit des Gefühls seinen Grundsätzen treu zu bleiben, so ergreift man das bequemere Mittel, durch Abstumpfung der Gefühle den Charakter sicherzustellen; denn freilich ist es unendlich leichter, vor einem entwaffneten Gegner Ruhe zu haben, als einen mutigen und rüstigen Feind zu beherrschen. In dieser Operation besteht dann auch größtenteils das, was man einen Menschen formieren nennt; und zwar im besten Sinne des Worts, wo es Bearbeitung des innern, nicht bloß des äußern Menschen bedeutet. Ein so formierter Mensch wird freilich davor gesichert sein, rohe Natur zu sein und als solche zu erscheinen; er wird aber zugleich gegen alle Empfindungen der Natur durch Grundsätze geharnischt sein, und die Menschheit von außen wird ihm ebensowenig als die Menschen von innen beikommen können.

Es ist ein sehr verderblicher Mißbrauch, der von dem Ideal der Vollkommenheit gemacht wird, wenn man es beider Beurteilung anderer Menschen und in den Fällen, wo man für sie wirken soll, in seiner ganzen Strenge zum Grund legt. Jenes wird zur Schwärmerei, dieses zur Härte und zur Kaltsinnigkeit führen. Man macht sich freilich seine gesellschaftlichen Pflichten ungemein leicht, wenn man dem wirklichen Menschen, der unsre Hülfe auffodert, in Gedanken den Idealmenschen unterschiebt, der sich wahrscheinlich selbst helfen könnte. Strenge gegen sich selbst, mit Weichheit gegen andre verbunden, macht den wahrhaft vortrefflichen Charakter aus. Aber meistens wird der gegen andere weiche Mensch es auch gegen sich selbst, und der gegen sich selbst strenge es auch gegen andere sein; weich gegen sich und streng gegen andre ist der verächtlichste Charakter.

Quelle:
Friedrich Schiller: Sämtliche Werke, Band 5, München: Hanser 31962, S. 606-611.
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