Die gefangnen Sänger

[283] Hörst du von den Nachtigallen

Die Gebüsche wiederhallen?

Sieh', es kam der holde Mai.

Jedes buhlt um seine Traute,

Schmelzend sagen alle Laute,

Welche Wonn' im Lieben sei.


Andre, die im Käfig leben,

Hinter ihren Gitterstäben

Hören draußen den Gesang;

Möchten in die Freiheit eilen,

Frühlingslust und Liebe theilen:

Ach! da hemmt sie enger Zwang.


Und es drängt sich in die Kehle

Aus der gramzerrißnen Seele

Schmetternd ihres Lieds Gewalt,

Wo es, statt im Weh'n der Haine

Mitzuwallen, von der Steine

Hartem Bau zurücke prallt.
[284]

So, im Erdenthal gefangen,

Hört des Menschen Geist mit Bangen

Hoher Brüder Harmonie,

Strebt umsonst zu Himmelsheitern

Dieses Dasein zu erweitern,

Und das nennt er Poesie.


Aber scheint er ihre Rhythmen

Jubelhymnen auch zu widmen,

Wie aus lebenstrunkner Brust:

Dennoch fühlen's zarte Herzen,

Aus der Wurzel tiefer Schmerzen

Stammt die Blüthe seiner Luft.

Quelle:
August Wilhelm von Schlegel: Sämtliche Werke Band 1, Leipzig 1846, S. 283-285.
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