Gesang und Kuß

[332] Wenn fremde Blicke wachsam uns umgeben,

Und unsre tiefe Sehnsucht, ungestillt,

Sich in der Heiterkeit Geberde hüllt,

Und leise kaum den Busen wagt zu heben:


Dann ist nur eins, o mein geliebtes Leben!

Was mein Gemüth mit Wonn' und Ahndung füllt:

Die Melodie, so deinem Mund' entquillt,

Der seelenvollen Töne sanftes Schweben.


Wie Liebesodem fühl' ich den Gesang

Auf diesen Lippen, die vergebens glühen;

Zum Kuße wird mir jeder zarte Klang.


Und nenne dieß nicht eitle Phantasieen.

Vernehm' ich nicht im schweigenden Umfang

Auch deines Herzens schöne Harmonieen?

Quelle:
August Wilhelm von Schlegel: Sämtliche Werke Band 1, Leipzig 1846, S. 332-333.
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