Der gespaltene Berg

[96] Dort, wo sich an des Mittelmeeres Wogen

Gaeta's schroffer Felsenwall erhebt,

Wo, rechts und links am Ufer hingezogen,

Der freie Blick zwo Buchten überschwebt,

Wo noch nicht in Vergeßenheit entflogen

So manch' uralte Heldensage lebt,

Wie seiner Amme hier zum Angedenken

Aeneas Grab und Namen wollte schenken:


Da siehest du der Bergeshöhen eine

Gespalten ganz durch eine selt'ne Kluft.

Es geht der Riß hinab im harten Steine

Vom Gipfel an bis in die tiefste Gruft,

Doch hemmt die beiden Wände vom Vereine

Nur enger Raum und wenig Himmelsluft,

Also, daß Einer nur und nach dem Andern

Den dunkeln Fußsteig mag hinunter wandern.


Und es berichten uns die heil'gen Sagen:

Derselbe Berg war vormals fest und dicht.

Doch als der Heiland, an das Kreuz geschlagen,

Für unsre Sünd' erlitten das Gericht,[97]

Und als der Schrei von seinem letzten Zagen,

Der durch der Erde Schooß erschütternd bricht,

Die Hüll' am Allerheiligsten zerrißen;

Da hat sich auch des Felsen Brust zersplißen.


Die Kirche, von der Andacht Trieb geleitet,

Hat dieses Wunderzeichen wohl gehegt.

Hier ist ein Weg zur Pilgerfahrt bereitet,

Wobei die Seele Christi Leid erwägt;

An dreizehn Stellen, wie man nieder schreitet,

Erscheint das Bild des Kreuzes eingeprägt;

Bald murmelnd, bald geräuschig, spült die Welle

Am Ausgang um die heimliche Kapelle.

Quelle:
August Wilhelm von Schlegel: Sämtliche Werke Band 1, Leipzig 1846, S. 96-98.
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