Die Erfindung des Kußes

1.

[72] Die Grazien besprachen mit einander

Sich von der Menschenbildung Zügen einst,

Wie die Natur in ihrer holden Zierde

Die Seele ausgesprochen, und wie jedem

Belohnende Bestimmung sie verliehn.

Die Stirne, denkend, thront im Antlitz oben,

Es schlingt sich über ihrer offnen Fläche

Der Haare vielfach wechselnd Diadem:

Denn der Gedank' ist König in dem Geist.

Der Nase, die von ihr sich niedersenkt,

Des Ebenmaßes unverrückte Säule,

Weht huldigend der Frühling seine Düfte,

Und Zephyr linden lauen Hauch entgegen.

Das Ohr, bescheiden seitwärts angefügt,

Trinkt achtsam doch des Wohllauts ganze Fülle.

Die Wangen blühen so durchsichtig zart,

Daß bald der jungen Freude leichtes Wallen,

Und bald die Scham, bei'm leisesten Berühren, –

Nicht ohne süßes Bangen, denn sie ist

Die Morgenröthe seliger Gefühle, –[73]

Mit Rosenglut sie überströmen kann.

Die Augen geben und empfangen Strahlen,

Die Welt ist ihre, von dem Aug' der Sonne

Mit aller Farben Glorie ausgestattet.

Doch kehren sie von ihren weiten Flügen

Gern wieder in die Näh'; es sucht der Blick

Verbrüdertes, worin er sich erkenne,

Und Auge spiegelt sich in Aug' entzückt.

Wenn es sich dann, von vielem Sehn ermüdet,

Mit seiner Wimper seidnem Vorhang schirmt,

So dämmern noch im eng verhüllten Lager

Zerfließende Gestalten vor ihm auf.

Die Lippen aber, die beseelten Rosen,

So sprach Euphrosyne, die sich gefällig

Zu Red' und Lächeln regen, stets gesellig,

Beredt zu schweigen wißen, wie zu kosen,

Sie, die das innerste Gemüth erschließen:

Was wurde für ein Lohn zu Theil den süßen?

Daß sie die Nahrung, die der Leib empfängt,

Zuerst berühren? Das ist wieder Dienst,

Belohnung nicht: verschmähn sie doch zu kosten,

Und gönnen gern dem Gaume seine Freuden.

Und was ist Hybla's Honig, was der Saft

Von Lesbos, selbst des Göttertisches Gaben,

Verglichen mit der Worte süßer Kraft,

Worin sich, froh berauscht, die Seelen laben?

Ja müssen nicht die geistigen sich schämen,

Das irdische Bedürfniß hinzunehmen?


Wie du doch eiferst, Schwester, so erwiedert

Aglaja lächelnd; nimm dich nur in Acht,[74]

Daß nicht der zu bewegten Rednerin

Des Mundes leicht geschwungner Zug sich krause,

Und deine Sorg' um ihn ihn selbst entstelle.

Ist denn des schönen Thuns Gefühl nicht Lohn?

Und fühlen nicht die Lippen, wie sie reden

Und wie sie lächeln?

Das Auge sieht sich nicht, es grüßt im Auge

Des Andern aus der Ferne nur den Geist;

Und sind sie doppelt schon, und thun das Gleiche,

Doch rollet in der eignen Sphäre jedes,

Und unbewußt ist ihre Harmonie.

Die Lippen aber sind die Dienerinnen

Der freundlichen Geselligkeit, und selbst

Gesellig: ist ihr Leben und Bewegen

Nicht ewig wiederholter zarter Gruß?

Weil sie denn so als Paar sich innig fühlen,

Vereinigt athmen und vereinigt spielen,

So laß sie sich mit andern Lippen paaren,

Um ihre eigne Süße zu erfahren.


Der Grazien jüngste hört' es liebevoll,

Und neigte sich der Schwester, die gesprochen.

Ihr reger Busen, kaum entknospet, schwoll

Von ihres Herzens ahndungsvollem Pochen.

Sie öffnet halb den Mund, der Anmuth haucht,

Und Lippe wird an Lippe sanft getaucht.

Da war mit reinem zärtlichen Verlangen

Der erste Kuß gegeben und empfangen.


2.

[75] Cythere, hingelehnt in Myrtenschatten,

Belauschte sie, und sagte zu sich selbst:

Ihr holden Kinder, was vermöchten Lippen

Zu Red' und zu Gesang, wenn nicht die Zunge

In ihren Schranken wohnt', und schwünge sich

Mit unermüdlicher Gewalt? Ist sie

Das goldne Plectrum für die Silbersaiten

Der Stimme nicht? sie nicht der Pfeil des Bogens,

Der glühnde Worte schnellt? der Sprache Zügel?

Wenn sich, in sanften Wünschen eingeschloßen,

Jungfräuliche Gemüther liebend finden,

Da mögen Lippen sich bescheiden drücken,

Und gnügen wird dieß Zeichen des Vereins.

Ihr kennt nicht jenes namenlose Streben,

Das jedes andern Triebes Banden lös't,

Sich selber, Seel' und Leib, und Füll' und Leben

An den Geliebten opfernd hinzugeben,

Die beiden Wesen ganz in eins verflößt.

Wenn dieß der Sinn' und Herzen sich bemeistert,

Dann soll die Zunge auch, zum Kuß begeistert,

Das Mark durchblitzen gleich Cupido's Pfeilen

Mit Wunden, die nur süßer Tod kann heilen.
[76]

Von solchen Küßen lehrte Cypris Gunst

Den schönen Jäger, bei noch sprödem Muthe,

Zuerst vor allen Sterblichen die Kunst,

Wie sie bei ihm in kühler Waldnacht ruhte.

Es ward ihr Kuß zum heißen Liebesschwur,

In dem erstummt die Zungen sich verwirrten,

Daß Wonne schauernd durch die Wipfel fuhr,

Und buhlender der Göttin Tauben girrten.

Quelle:
August Wilhelm von Schlegel: Sämtliche Werke Band 1, Leipzig 1846, S. 72-77.
Lizenz:
Kategorien:

Buchempfehlung

Gryphius, Andreas

Papinianus

Papinianus

Am Hofe des kaiserlichen Brüder Caracalla und Geta dient der angesehene Jurist Papinian als Reichshofmeister. Im Streit um die Macht tötet ein Bruder den anderen und verlangt von Papinian die Rechtfertigung seines Mordes, doch dieser beugt weder das Recht noch sich selbst und stirbt schließlich den Märtyrertod.

110 Seiten, 6.80 Euro

Im Buch blättern
Ansehen bei Amazon

Buchempfehlung

Geschichten aus dem Biedermeier III. Neun weitere Erzählungen

Geschichten aus dem Biedermeier III. Neun weitere Erzählungen

Biedermeier - das klingt in heutigen Ohren nach langweiligem Spießertum, nach geschmacklosen rosa Teetässchen in Wohnzimmern, die aussehen wie Puppenstuben und in denen es irgendwie nach »Omma« riecht. Zu Recht. Aber nicht nur. Biedermeier ist auch die Zeit einer zarten Literatur der Flucht ins Idyll, des Rückzuges ins private Glück und der Tugenden. Die Menschen im Europa nach Napoleon hatten die Nase voll von großen neuen Ideen, das aufstrebende Bürgertum forderte und entwickelte eine eigene Kunst und Kultur für sich, die unabhängig von feudaler Großmannssucht bestehen sollte. Für den dritten Band hat Michael Holzinger neun weitere Meistererzählungen aus dem Biedermeier zusammengefasst.

444 Seiten, 19.80 Euro

Ansehen bei Amazon