Fragment

[26] Im Sommer 1791.


Und schmacht' ich so mit allen meinen Sinnen

Nach deinem süßen, labungsvollen Kuß,

Und kann nicht Einen Blick von dir gewinnen,

Nicht Einen Hauch, nicht Einen leisen Gruß –

O Traute, welch unseliges Beginnen,

Daß ich von dir mich selbst verbannen muß?

So glühend jung, du Göttin meiner Freuden,

Soll ich vom Sonnenblick der Liebe scheiden?


Soll einsam nun auf fernen, öden Fluren –

Doch nein! auch hier ist Gottes freie Welt;

Kein Raum begränzt die himmlischen Azuren:

Ich ruh' auch hier umwölbt vom Sternenzelt.

Die Pflegerin der irdischen Naturen,

Die alles Dasein schafft und trägt und hält,

Seh' ich sie nicht ringsum die Wesen laben?

Versagt sie mir auf ewig ihre Gaben?


Getrost! ich hab' aus ihrer ew'gen Fülle

An deinem Busen Labung eingesaugt.

Dein gütevoller unbegränzter Wille

Hat in ein Meer von Wonne mich getaucht;[27]

Muthwill'ge Schönheit in der Unschuld Hülle

Hat flüsternd mir Gewährung zugehaucht,

Hat schüchtern sich mit holdem Widerstreben

Der glühenden Umarmung hingegeben.

Quelle:
August Wilhelm von Schlegel: Sämtliche Werke Band 1, Leipzig 1846, S. 26-28.
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