Achtzehntes Kapitel

[145] Am Eingange des Hauses ward Florentin nach einem Seitenflügel gewiesen. Er trat in einen hochgewölbten Gang; zwischen den Säulen gingen mehrere Personen still hinauf, nach dem Ende des Ganges, wo sich eine große Flügeltüre öffnete. Es war alles feierlich ernst; die Schritte hallten von dem Boden wider; die Idee eines Wohnhauses war verschwunden, es war der Eingang zum Tempel. Jetzt öffneten sich die Flügeltüren für ihn, ein hoher Dom umfing ihn. Er hörte noch die letzten Worte der Messe, die Versammlung erhob sich von ihren Knien, einige einzelne verweilten noch in tiefer Andacht.

Der Orgel gegenüber befand sich ein Monument. Florentin ging näher hinzu, um es zu betrachten. Auf einem Sarkophag ruhte ein Genius in Gestalt eines Kindes, die Fackel entsank verlöschend seiner Hand; es war nicht gewiß, ob er tot oder schlafend abgebildet war. Auf den Seiten des Sarkophags zeigten sich in halb erhobener Arbeit die Horen, die traurend, mit verhülltem Angesicht, eine nach der andern hinschlichen; über dem Monument befand sich das Gemälde der heiligen Cäcilia, der Beschützerin der Tonkunst und Erfinderin der Orgel. Florentin erschrak fast, als er seine Augen zu dem Bilde aufhob; es war die göttliche Muse, die in lichter, freudenreicher Glorie des großen Gedankens, über Tod und Trauer siegend schwebte.

Das Gemälde jener heiligen Anna, das ihn, als er es zuerst gesehen, so ergriffen hatte, war nur ein schwacher Abglanz dieser Herrlichkeit. Im Anschauen verloren, vergaß er es völlig, daß es Clementinens Porträt sei, von dem er schon soviel gehört hatte. Nichts was an Menschen und Menschenwerk erinnert, war seiner[145] Seele dabei gegenwärtig, nie hatte er die Göttlichkeit der Musik so verstanden, als vor diesem Angesicht.

Die Sonne warf im Untersinken noch einen blendenden Strahl durch die hohen Fenster, die weißen Kerzen schimmerten blaß hindurch, alle Gegenstände leuchteten auf eine seltsame Weise, und bewegten sich wie Geister. Der Strahl fiel gerade auf das Gesicht der heiligen Cäcilia; Farben und Züge waren verschwunden, es war nur ein blendender Glanz; Florentin hätte in die Knie sinken mögen vor dieser Herrlichkeit. –

Die Betenden standen auf: zuletzt erhob sich langsam von den Stufen des Altars die Gräfin Clementina. Es war eine edle schlanke Gestalt, etwas über die gewöhnliche Größe. Ein schwarzes glänzendes Kleid floß in reichen Falten bis zu ihren Füßen herab, und bedeckte die Arme bis zur weißen, feinen Hand. Auf der linken Seite trug sie ein Kreuz von Diamanten; ein langer schwarzer Schleier verhüllte Kopf und Haare, so daß man nur die erhabene Haltung wahrnehmen konnte, auch das Gesicht war ganz davon verdeckt; in der einen Hand, die sich auf Betty stützte, hielt sie ein weißes Tuch, die andre trug herabhängend eine Rolle. So wankte sie, sichtbar ermattet, vor Florentin vorüber, ohne ihn wahrzunehmen, ihre Augen blieben fest am Boden geheftet. Neben dem Monument war ein halb vergitterter Sitz, dort setzte sie sich; Betty und einige junge Mädchen, die ihr gefolgt waren, bemühten sich geschäftig um sie her; diese entfernten sich, und Clementina blieb allein. Sie hatte ihren Schleier aufgeschlagen, und sah die Blätter durch, die nun aufgerollt vor ihr lagen. Ihr Gesicht zeigte mehr als Reste ehmaliger erhabener Schönheit; die Züge standen im reinsten, edelsten Verhältnis, aber eine Marmorblässe bedeckte sie. Waren ihre Augen unter den schöngewölbten Lidern gesenkt, so schien sie mit der leuchtenden Stirn, den bleichen, mit den Spuren des Grams nur leicht gezeichneten Wangen, und den feinen, fest geschloßnen, farblosen Lippen, nicht mehr dem Leben dieser Erde zu gehören. Aus diesen Zügen schien das Leben entwichen und ganz nach den großen Augen entflohen zu sein, die in ihrem schwarzen nächtlichen Glanze, wenn sie sie langsam erhob, wie einsame Sterne durch den umwölkten Himmel funkelten.

Florentin konnte die seinigen nicht von ihr abwenden, sie bemerkte ihn aber nicht, war auch überhaupt bloß mit den Blättern beschäftigt und sah sich nach niemand um. Indem er sie aber immer schärfer ansah, dünkten ihm ihre Züge je länger je mehr bekannt. Die Szenen seiner Kindheit wurden wieder lebendig vor ihm; die Erinnerung an[146] Manfredi drängte sich ihm besonders wieder auf, und alle Begebenheiten jener Zeit.

Nach einer kurzen feierlichen Stille erschollen wie vom Himmel nieder die Stimmen der unsichtbaren Sänger! Begleitet von den Tönen der allmächtigen Orgel schwoll der Gesang des heiligen Chorals in tief ausströmenden Akzenten, wälzte sich an der hohen Kuppel hinauf, und zog die Andacht des tiefsten Herzens wie in einer Weihrauchsäule mit sich zum Himmel auf. Wie zum ersten Male hörte Florentin diese himmlische Musik wieder, die er in seiner Jugend so oft gehört zu haben sich erinnerte. Niemals hatte er aber sich so davon durchdrungen gefühlt als jetzt. Er wußte nicht, ward sie hier vollkommner noch ausgeführt, oder war sein Gemüt empfänglicher dafür geworden?

Der schwebende Nachhall des Chorals erstarb in einen leisen Hauch; da erscholl die Posaune durch Herz und Gebein rufend, und nun begannen die Chöre bald abwechselnd sich einander antwortend, bald vereinigt vom Aufruf einer einzelnen Stimme geweckt, zur mächtigen, alles mit sich fortreißenden Fuge anzuwachsen, bis Himmel und Erde in den ewigen, immer lauter werdenden Wirbel mit einzustimmen schienen, und alles wankte und bebte und zusammenzustürzen drohte. Die Brust des Knaben auf dem Sarkophag schien sich vom gewaltigen Gesange zu heben; staunend erwartete Florentin, er würde sich aufrichten und seine Stimme mit einmischen in die Stimmen der ganzen Welt für die Ruhe der Seelen, und mit der heiligen Cäcilia, die ihre Lippen zu öffnen schien, beten für die Erlösung der Büßenden.

Clementina war wie in Entzückung gehoben; ihre Augen ruhten entweder auf der Rolle, die sie rasch umblätterte, oder sie wendete sie glänzend freudig in die Gegend, wo die Stimmen der Sänger herabkamen; dann ruhte sie wieder wie verloren in sich selbst, sanfte Tränen gleiteten langsam über das heilige Gesicht herab, die sie weder zu hemmen noch zu verbergen bedacht war.

Florentin war aus der Menge ihr gegenüber getreten, um sie genau mit der heiligen Cäcilia vergleichen zu können, zu der sie in ihrer Begeistrung ein wahrhaftes Urbild war. Die Musik war beinah zu Ende; zu Anfang des herrlichen sanft aushauchenden Schlußchors kam Betty wieder zu Clementinen, die ihr einige freundliche Worte sagte. Betty sah sich hierauf in der Versammlung umher; da sie Florentin erblickte, grüßte sie ihn freundlich. Clementina schien sie etwas zu fragen, worauf jene eine bezeichnende Bewegung mit der Hand machte, gegen Florentin. Clementina stand auf und suchte ihn[147] mit den Augen; zufällig wichen einige vor ihm Stehende zurück, so daß er deutlich vor ihr stand. Einige Augenblicke blieb sie, weit hervor sich beugend, in derselben Stellung, ihre Augen fest mit sichtbarem Erstaunen auf ihn geheftet; eine schnelle Röte überflog den Marmor ihres Gesichts, dann erblaßte sie wieder, ihre Augen schlossen sich, und sie sank ohnmächtig zurück. Betty faßte sie in ihre Arme, einige andre eilten ihr zur Hülfe, sie wurde hinausgetragen, Betty folgte. Bald darauf war auch die Musik geendigt, deren Schluß Florentin nicht vernommen hatte. Betäubt eilte er hinaus und in den Garten.

Der Abend senkte sich dämmernd nieder. Der große Garten war voller Menschen. Fröhliches Lachen und muntere Gespräche ertönten von allen Seiten. Auf dem Rasen tummelten sich liebliche Kinder; hier saß eine Gruppe, die zu einer Gitarre sang; dort waren andre um eine Flasche Wein versammelt. Auf den versteckteren Plätzen im dichteren Gebüsch wandelten liebende Paare in süßer Vertraulichkeit; der ganze Garten war ein fröhliches liebliches Bild eines kummerfreien vergnügten Lebens, für jedes Alter und jedes Gemüt.

In einer andern Stimmung wäre Florentin dieser Anblick höchst erquickend gewesen; jetzt suchte er aber einen einsamen Ort, um sich zu sammeln; er war unruhig und zerstreut. – Warum, dachte er, warum ist diese Clementina und alles was sie umgibt, grade mir wie eine Erscheinung, da sie doch unter den übrigen Menschen wie eine längst bekannte Mitbürgerin wandelt? Warum wird jede ferne Erinnerung wieder wach in mir? Was tut sich die Vergangenheit, dies längst verdeckte Grab, gegen mich auf? Warum kann ich nicht mit den andern des gegenwärtigen Augenblicks froh werden? – Er suchte endlich dem Eindrucke der Musik die Unruhe zuzuschreiben, die immer noch in seiner Seele widerhallte.

Aus dem geöffneten Gartensaal kam ihm der Doktor entgegen. – »Die Gräfin ist erst jetzt wieder zu sich gekommen«, sagte er, »und ist noch sehr ermattet. Die Anstrengung war zu groß für sie. Da ihr jede Bewegung und auch das Sprechen untersagt ist, so hat sie mir aufgetragen, sie bei Ihnen zu entschuldigen, daß sie nicht zur Gesellschaft herunterkömmt; sie ist heute nicht imstande, Sie zu sehen, sie hofft, Sie würden noch einige Tage länger hier verweilen.« – Hier kamen Betty, der Rittmeister und noch einige andre zu ihnen. – Der Doktor entfernte sich, die Gräfin hatte ihn zu sprechen verlangt.

Dem Rittmeister schien sein Versprechen, sich gesitteter gegen Florentin zu betragen, entweder zu reuen, oder unmöglich zu halten, er war widerwärtiger als jemals gegen ihn. Während Betty zu[148] erwarten schien, daß es zwischen ihnen zu einem Gespräch kommen sollte, fing der Rittmeister an in seiner gewöhnlichen Manier Florentin um seine Uniform zu befragen; dieser antwortete kurz ab, mit sichtbarer Verachtung. Endlich stand Walter auf und ging mit den andern in eine Ecke des Saals, wo er auf eine beleidigende Weise bald halb laut mit ihnen flüsterte, dann überlaut lachte. Die arme Betty war wie auf Kohlen. – »Ich kenne Sie heute gar nicht«, sagte sie leise zu Florentin, »wie zeigen Sie sich so widerspenstig?« – »Das nicht«, sagte er, »aber auf der Folter bin ich; dieser Walter und ich sind notwendig Feinde. Auch weiß ich selbst nicht, wie ich verstimmt bin; erst die Musik –« – »Sie scheint Ihnen also keinen angenehmen Eindruck gemacht zu haben?« fragte sie, ihn laut unterbrechend. – »Sie mißverstehen mich, Betty!« – Er suchte die unangenehme, drückende Gegenwart der übrigen zu vergessen, und erzählte ihr ganz so, wie er es fühlte, und als ob er allein von ihr gehört würde, den Eindruck, den die erhabne Musik auf ihn gemacht hatte. – »Fragen Sie mich um keine einzelne Stelle«, fuhr er fort, »deren entsinne ich mich keiner einzigen; aber mein Gemüt war gelöst von allem Kummer dieses Lebens. Wie auf Engelschwingen fühlt' ich mich durch die allmächtigen Töne der Erde entnommen und sah eine neue Welt sich vor meinen Augen auftun.« – Walter kam hier wieder zu ihnen und störte die Unterredung und Florentins Begeisterung. Man sprach von andern Dingen, und zuletzt vom Monument in der Kapelle. Florentin erkundigte sich nach der Veranlassung. – »Die Tante«, sagte Betty, »hat es, soviel ich weiß, nach ihrer Angabe für sich verfertigen lassen, das ist aber schon sehr lange her, vielleicht noch eh' ich geboren ward. Es ist ihr heilig, eine nähere Veranlassung hat sie aber keinem von uns mitgeteilt.« – »Schade nur«, rief der Rittmeister, »daß die ganze Stadt von dem heiligen Geheimnis sehr wohl unterrichtet ist.« – »Ich weiß nicht, was Sie damit sagen wollen?« sagte Betty schüchtern. – »Wie sollten Sie das wissen können, Liebe?« erwiderte er; »es ist ja auch schon, wie Sie selber bemerkten, eine sehr alte Geschichte.« – Betty schien aufgebracht und verlegen wegen dieser Ausfälle. – Sie ist gerettet, dachte Florentin, wenn sie erst zum deutlichen Gefühl, sich seiner zu schämen, zu bringen ist! – Er fragte nun absichtlich nach manchen Dingen, die sie interessieren mußten, und ließ sich geduldig vom Rittmeister durch boshafte, witzig sein sollende Anmerkungen, hämische Verdrehungen und unmäßiges Lachen unterbrechen. Ihm war es recht, je mehr jener sich selbst herabsetzte. Betty sprang endlich ungeduldig[149] auf, nahm Florentin am Arm, und lief nach dem Garten hinaus; die übrigen folgten, Walter mit sichtbarem Grimm.

Es war stiller in dem Garten geworden, nur einzelne Personen wandelten in der Entfernung in den hohen Gängen, bis auch diese sich allmählich verloren. Sie stiegen eine Terrasse hinauf, die mit hohen Bäumen besetzt war, und dem Hause gegenüber den Garten am Ufer des Sees begrenzte. In der Mitte der Terrasse stand ein kleiner runder Tempel auf weißen Marmorsäulen mit Rosen- und Jasminbüschen umgeben. Von hier hatte man die freie Aussicht über den jenseits liegenden, bekannten See, mit seinem Kranz von wohltätigen Pflanzungen. Darüber hinaus ging der Blick in weite Ferne, bis dunkel am Horizont das bläuliche Gebirge ihn begrenzte. Der Mond stieg eben herauf, und schien eine hochrote verzehrende Flamme durch die fernen Dünste, bis er sich plötzlich völlig hinaufgeschwungen hatte, und rein und silberhell seine Bahn betrat.

Tief im Herzen ward nun Florentin die Gegenwart der rohen Gesellen zuwider. Anfangs war er zwar willens gewesen, sich mit ihnen zu belustigen, aber er war es nicht imstande. Im Freien, in einer schönen Gegend, dünkten ihm verhaßte Personen noch verhaßter als im Zimmer. –

Er erkundigte sich bei Betty, ob der Garten immer, so wie heute, für jedermann frei wäre? – »Immer«, sagte sie; »hier ist der beliebteste, besuchteste Spaziergang der Einwohner, und der liebe Spielplatz der Kinder. Man kömmt und geht, wenn man will, und jeder genießt der unumschränktesten Freiheit.« – Einer von den Begleitern bezeigte seine Verwunderung, daß die Gräfin weder Beschädigung noch Unordnung befürchtete bei dieser allgemeinen Freiheit. – »Mißbrauch der Freiheit, sagt die Tante, ist bei weitem nicht so sehr zu befürchten, als Schadloshaltung für den Zwang! Sei es nun dies oder die allgemeine Achtung und Liebe für sie, kurz es ist noch niemals etwas Verdrüßliches vorgefallen, soviel ich weiß.« – »Es kömmt darauf an«, fuhr Walter wieder dazwischen, »was man so dafür annehmen will oder nicht, gegen gewisse Dinge dieser Art ist man auch ziemlich nachsichtsvoll.« – »Ist denn«, fing Florentin wieder an, »der Gräfin die Menge niemals lästig? Sehnt sie sich niemals nach einer einsamen Stille? Im Garten, dächte ich, müßte man diese gern suchen.« – »Nein, sie liebt es, grade hier viel fröhliche Menschen zu sehen und zu begegnen. Recht einsam, sagt sie, bin ich doch nur in meinem Zimmer; die Häuser sind ursprünglich erfunden, sich von den andern abzusondern. Was mich im Freien umgibt, was ich dort sehe und empfinde, läßt mich von selbst nicht einsam sein. Der Aufenthalt im Freien, sagte sie auch einmal, hätte für[150] sie eine gewisse Zauberkraft; die Geliebten stehen ihr hier näher und die Beschwerlichen entfernter.« – »Das heißt«, unterbrach sie der Rittmeister: »die alte Dame braucht Gesellschaft. Sie selber hat weder zu verlieren noch zu fürchten, wenn der Garten von Menschen allerlei Art wimmelt, und für die jungen Damen im Gefolg ist es sehr erwünscht.« – »O Walter! Sie wissen nicht was Sie sprechen«, rief Betty aus. – »O Betty!« rief er, sie parodierend, »Sie werden nie die Augen öffnen!« – Betty verbarg ihre hervorströmenden Tränen in ihrem Tuche; und schluchzte endlich laut, da er nicht aufhörte, sie zu ärgern. Florentin ward dies zuviel, er verwies ihm mit Mäßigung sein Betragen; Walter aber, der es nur zu erwarten geschienen, daß dieser sich mit einmischen sollte, fragte ihn mit trotzigem Hohn: ob die irrende Ritterschaft wieder erstanden sei, den beleidigten Jungfrauen Schutz zu gewähren? – So kam es zu beleidigenden Reden und Antworten hin und her, denn Florentin hielt sich länger nicht. Bis zur Wut gereizt zog Walter den Degen, und rief jenem zu, sich zu verteidigen. Betty schrie laut auf vor Entsetzen. – »Nicht hier, Herr Rittmeister«, sagte Florentin; »Sie vergessen, was Sie diesem Orte schuldig sind! Kommen Sie, Fräulein, ich führe Sie nach dem Hause; Sie, Herr Rittmeister, erwarten morgen früh Nachricht von mir.« – »Nicht hier von der Stelle, feiger Schurke!« rief der tolle Walter, »nicht von der Stelle! Ich lasse hier mein Leben oder –« – Den andern, die ihn zurückzuhalten suchten, befahl er drohend, sich ruhig zu verhalten, und so drang er voll Wut auf Florentin ein, dieser mußte sich zur Wehr setzen. Nach einigen Gängen, da Walter trotz seiner überlegenen Stärke, im Nachteil gegen Florentins Gewandtheit kam, der sich geschickt und gelassen bloß verteidigte, führte er mit hämischer Wut einen Streich gegen das Gesicht seines Gegners, der, wenn er ihm gelungen wäre, ihn aufs Leben unglücklich gemacht hätte. – »Bube!« rief Florentin, dem die boshafte Absicht nicht entging; und im Moment hatte er durch eine kühne, geschickte Wendung ihm den Degen aus der Hand gewunden und in Stücken gebrochen zu seinen Füßen geworfen.

Betty war, sobald der Kampf begann, nach dem Hause zurück mehr geflogen als gelaufen, unaufhörlich nach Hülfe rufend. Durch den Garten kam sie, ohne jemand zu begegnen; die Bedienten, die sie unten im Hause fand, liefen sogleich, ohne zu wissen, was sich zutrüge, ihrer Bezeichnung nach, in den Garten. Unaufgehalten flog sie die Treppe hinauf, und stürzte, immer noch nach Hülfe rufend, bleich, atemlos, mit herunterhängenden Haaren, in Clementinens Zimmer, die eben eingeschlummert war. Der Doktor saß lesend in einer Ecke des[151] Zimmers. Clementina fuhr erschrocken auf, der Doktor eilte herzu, Betty sank ohnmächtig an Clementinens Ruhebett nieder. – »Im Tempel ... im Garten ...–« rief sie, als sie wieder zu sich kam, mehr brachte man nicht von ihr heraus, ihre Sinne waren wie verwirrt vom Entsetzen. – »Eilen Sie hin, lieber Freund«, sagte Clementina; »sehen Sie selbst nach, was dem unbesonnenen Kinde widerfahren sein mag.« – »Walter ... Florentin ... –« rief Betty wieder, noch außer Atem. – »Um des Himmels willen«, rief Clementina, »eilen Sie, eilen Sie!« –

Man hatte in der Verwirrung nicht darauf geachtet, daß ein Wagen rasselnd vorgefahren, und ein blasender Postillion gehört wurde. Jetzt öffnete sich die Türe; Juliane und Eduard traten herein. – »Was ist hier? um Gottes willen!« rief Juliane, indem sie bei Clementina niederkniete. – »Warum haben wir niemand im Hause gefunden?« rief Eduard, »was geht hier vor? welche Verwirrung!« – Der Doktor wiederholte ihnen Bettys Ausruf. – »Walter haben wir hier nicht weit vom Hause stehen, und mit einigen andern heftig sprechen hören; ich irre nicht, es war Walter.« – »So ist er nicht tot?« rief Betty. – »Tot? Wie das?« – »Und Florentin?« fragte Clementina. – »Ist Florentin noch hier?« rief Eduard wieder.

»Mein Kind! mein gutes Mädchen!« sagte Clementina, und küßte die sich fest an sie schmiegende Juliane. »Müßt ihr, meine Lieben, gerade jetzt erscheinen –« – »O, lieber Doktor«, unterbrach Betty sie mit Ungeduld, »es kömmt noch niemand zurück, wollen Sie nicht in den Garten gehen? auf der Terrasse.« – Er ging, die andern drangen in Betty, den Vorfall zu erzählen. – »Es gab ein Gefecht zwischen den beiden, auf das übrige muß ich mich erst besinnen, jetzt weiß ich nichts, gar nichts.« – Sie kniete neben Juliane vor Clementina nieder, und weinte über ihre dargebotene Hand. – »Fasse dich nur, du heftiges Kind«, sagte Clementina beruhigend, »geh jetzt auf dein Zimmer, und versuche es, etwas ruhiger zu werden.« – »O nein, Tante, schicken Sie mich nicht fort, ich kann nicht allein bleiben, ich fürchte mich.« – Die Bedienten kamen hier zurück, die zuerst auf Bettys ängstliches Hülferufen in den Garten geeilt waren. Sie hatten den ganzen Garten durchsucht und niemand gefunden, es war alles ruhig. – »So können wir es ja auch wohl sein fürs erste«, sagte Clementina, »es wird sich alles aufklären. Und nun, meine teuren Gäste, sagt mir, wie kommt ihr so unerwartet und doch so längst erwartet?« – »Wir gedachten Sie eigentlich auf eine ganz andre Art zu überraschen, als es uns gelungen ist«, sagte Juliane. »Wir wollten noch zur Musik hier sein, wollten uns unbemerkt unter die Zuhörer mischen, um zu sehen, ob Sie uns[152] herausfinden würden. Es zerbrach aber etwas an unserm Wagen, wir mußten uns einige Stunden aufhalten, die Freude war verdorben, und beim Eintritt fanden wir uns mehr überrascht, als Sie selbst. Aber, liebe Tante, wir kommen auch eigentlich mit darum, um die Eltern und die Kinder zu melden, sie werden gewiß in wenigen Stunden hier sein.« – »So müßt ihr mich jetzt verlassen, ihr Lieben, ich muß nun zu ruhen suchen, um auf die Freude des morgenden Tages gestärkt zu sein.« – »Erst Ihren Segen, Tante, eh' wir Sie verlassen! Segen für uns!« – »Gott segne meine lieben Kinder! Mögt ihr nie die Leiden der Liebe erfahren! Gott segne euch!« – Eduard war über ihre Hand gebeugt, Juliane hob ihre Augen zum Himmel, um Erfüllung des segnenden Wunsches zu erflehen; Betty weinte, ihr Gesicht mit beiden Händen verdeckend.

Eduard ging dem Doktor im Garten nach; da sie nun daselbst alles still fanden, so gingen sie von der andern Seite der Terrasse am See hinunter, und suchten an dem bestimmten Ort den Kahn, der zur Überfahrt immer bereit war; da sie ihn aber nicht fanden, vermuteten sie sogleich, daß Florentin sich nach dem Hause des Doktors übergesetzt hätte. Sie eilten zurück, ließen anspannen, und fuhren hinaus. Florentin war nirgends zu finden.[153]

Quelle:
Dorothea Schlegel: Florentin. Berlin 1987, S. 145-154.
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