Abschied von der Poesie

[502] Einen Abschied nennt das Scheiden

Wer nicht kennt ein fühlend Herz,

Doch ich nenn' es einen Schmerz,

Der nur endet im Verscheiden.


Wem die Muse hold sich neigte,

Liebend hingegeben ganz

In der Jugend Blütenglanz,

Und ihr Heiligtum ihm zeigte:

Nimmer wird den Dichterkranz

Der je lassen, auch im Leiden,

Fest ihn halten im Verscheiden;

Zürnend drob aus hohem Mute

Jenem, der in leichtem Blute

Einen Abschied nennt das Scheiden.


Frühlingshauch im Liebesgarten,

Klagelaut im Abendscheine,

Strahl der Lust im Zauberhaine,

Wer soll deiner Blumen warten?

Mag'sche Dichtung! Du alleine,

Leuchtend wie ein Schild von Erz,

Spiegelst schön zurück den Schmerz,

Wie soll ich von dir mich trennen?

Denn es kann nur Kunst dich nennen,

Wer nicht kennt ein fühlend Herz.[502]


Dieses Dichten, dieses Denken,

Ist es nur ein süßes Träumen,

Sinnend Spiel in leeren Räumen,

In das Nichts den Weg zu lenken?

Ein Verlieren, ein Versäumen,

Wo sich selber sucht das Herz,

Führt es uns doch himmelwärts.

Andre sehn da nur ein Spielen,

Nennen es ein selig Fühlen;

Doch ich nenn' es einen Schmerz.


Wer ihn selbst in sich erlebte,

Mag es dann in Worten sagen,

Und in Melodien klagen,

Was im Herzen sehnend bebte.

Drum bis zu den letzten Tagen

Dichten wir in Liebe weiter,

Singen aus dem Leben heiter;

Folgen treu der hohen Kunde,

Fest vereint im Dichterbunde,

Der nur endet im Verscheiden.

Quelle:
Friedrich von Schlegel: Dichtungen, München u.a. 1962, S. 502-503.
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