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[334] oder
Der Zeitgeist
1820
Es wohnen zwei Brüder im Lande,
Die hausen weit und breit;
Sie haben viele Verwandte,
Zahllose in dieser Zeit.
Sie sind sich mehrenteils Feinde,
Ein jeder will haben die Welt:
Mitunter auch einmal Freunde,
So lange die Welt noch hält.
Sie reißen sie auf und nieder,
Daß Hören und Sehn ihr vergeht;
Sie schleppen sie hin und wieder,
Weil keiner den andern versteht.
Der Ältste schlendert im Rechten,
So wie er das Rechte versteht;
Der Jüngste schludert im Schlechten,
Was er als das Rechte verdreht.
Sie führen Reden unzählig,
Und hören sich selber so gern;
Sie sprechen sich selber gefällig,
Doch ist in den Worten kein Kern.
Das sind die feindlichen Brüder,
Der Alte heißt Schlendrian;
Und genialisch bellt wieder
Der Kleine Schludrian.
Der Alte bricht sich die Steine
Vom Grunde der Mauer heraus;
Zu flicken und stücken das Seine,
So Schornstein als Speisehaus.
Der Junge würfelt in Freude
Die Steine mit wechselnder Hand;
Er mauert sich sein Gebäude
In lustigen, fliegenden Sand.[335]
Das sind die bauenden Leute,
Die flicken und bauen die Welt;
Sie flicken und bauen für heute,
Auf morgen ist niemand gestellt.
Es pfeift sein Lied so weiter
Der muntre Schludrian;
Voll Angst steht auf der Leiter
Der alte Schlendrian.
Es heißt, wenn ich nicht irre,
Ihr Vater Schlechtrian;
Der in der Zeiten Gewirre
Das Rechte nicht finden kann.
Er kann aus dem Schlamm sich nicht winden,
Noch ändern seinen Sinn;
Er kann das Ziel nicht finden,
Und tappt im Dunkeln hin.
Er hat es all' vergessen,
Und hält sich die Ohren zu;
Die Söhne zanken vermessen,
Und lassen ihm keine Ruh.
Das sind die Brüder im Lande,
Die schreien so weit und breit;
Es lärmen all ihre Verwandte,
Und machen den Geist der Zeit.
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