Zu Snobismus

[326] Bis in die ersten Universitätsjahre trug ich mich mit einiger nicht ungewollter Nachlässigkeit. Rembrandthut, flatternde Krawatte, lange Haare. Leise Verachtung gegen alles, was man als Eleganz bezeichnete. Diese Abneigung stammte aus verschiedenen Jugendeindrücken (Fräulein Lehmann).

Veränderung im Freiwilligenjahr. Der Snob in mir erwacht und entwickelt sich aufs lächerlichste. Freude, im Fiaker zu fahren und darin gesehen zu werden. Verkehr mit Richard Tausenau und anderen von Einfluß. Ich wechsle meinen Schneider, trage keine weichen Hüte mehr. Gehe zu Stehkragen über. Begreife nicht, daß man in einem Einspänner fahren kann, bin verwundert, wie Dr. Schiff einmal im offenen Einspänner an mir vorüberfährt. Ehrgeiz, elegant zu werden. Gebe mich im allgemeinen mit der nachlässigen Eleganz zufrieden.[326]

Bis zum Derbytag trug ich den Zylinder. Das Rennen spielt eine bedeutende Rolle in meinem Leben. Sonderbarerweise gerade in dieser Epoche durch gemeinsames Interesse für das Rennen größere Intimität mit meinem Bruder.

Anfangs auf dem Guldenplatz, dann im Sattelraum. Spiel, Verluste.

Eine Zeitlang Glück im Erraten der Sieger von Hürdenrennen und Steeplechase.

Gesellschaft. Ein Feuerwerker von der Artillerie, ein dicker Jude namens Eißler, war oft mit uns. Louis Mandel, Petschek, Hauptperson Tausenau, dessen Abenteurer- und Spielernatur sich in dieser Atmosphäre am besten behagte. Immer elegant mit dem geringsten Aufwand von Mitteln, gut angezogen. Sein Glück bei Frauen.

Das unerreichbare Idealbild Henry Baltazzy, den ich später bei B. kennenlerne und der so das Urbild des Grafen im »Reigen« wird. Im Prater Henry Baltazzy mit einigen Freunden am Nebentisch, sommerlich mit grauem Hut.

Nicht ganz unmöglich, daß meine künstlerischen Ambitionen den mondänen gegenüber fast zurücktraten, bis mein Verstand und meine Selbsterkenntnis mir den richtigen Weg wiesen.

Eigentlich ist der Herzog in der »Beatrice« der stärkste und ins Großartige gewandte Ausdruck jenes Snobismus, und in der Sehnsucht des unzufriedenen Filippo, so einer zu sein wie der Bentivoglio, glüht gewiß ein bißchen von jener kindlich neidischen Bewunderung für die Henry Baltazzys.

Vollkommen wurde dieser Snobismus geheilt durch die Snobs, die ich im Laufe der Zeit kennenlernte.

Wenn man aber den Snobismus im allgemeinen als die Sehnsucht bezeichnen kann, zu einer Art von Menschen gerechnet zu werden, die irgendeine Eigenschaft höher ausgebildet besitzt als wir und von der wir daher nicht als gleichwertig betrachtet werden, so habe ich diese an mir noch in einem anderen Fall beobachtet, und zwar bei der Hochzeit einer meiner Cousinen mit einem gewissen Herrn K., einem ganz minderwertigen Individuum, wobei ich in der Votivkirche als Trauzeuge fungierte. Trotz allem Schauder vor meiner eigenen Dummheit, konnte ich in der weihrauchduftenden Sakristei, als ich den Akt unterschrieb, ein gewisses Gefühl der Befriedigung nicht völlig unterdrücken.

1901
[327]

Menschen, insbesondere Frauen, haften zuweilen in gewissen Posen in der Erinnerung, die sie in einem bestimmten, merkwürdigen Augenblick eingenommen haben, oder in einer Pose, die gewissermaßen das arithmetische Mittel zwischen allen tatsächlichen und auch nur möglichen Posen bedeutet, in denen man sie gesehen hat oder hätte sehen können.

So sehe ich M.G. den Schirm plötzlich fallen lassend, mit halboffenem Mund, wie sie es in jenem Durchhaus tat, als ich von D. sprach.

Zuweilen auch wie eine Marionette mit locker gewordenen Drähten.

M.R. mit dem Manuskript des »Reigen« im Schoß, den Bleistift an den Lippen, kritisch-milde in jenem kleinen Zimmer der Rue Maubeuge.

M.E., wie sie an einem Sommerabend im Gasthausgarten ihr Nachtmahl verzehrte mit dem besten Appetit, während immerhin die Möglichkeit bestand, daß ich vor einer halben Stunde erschlagen worden war.


In diesen Blättern wird viel von Judentum und Antisemitismus die Rede sein, mehr als manchem geschmackvoll, notwendig und gerecht erscheinen dürfte. Aber zu der Zeit, in der man diese Blätter möglicherweise lesen wird, wird man sich, so hoffe ich wenigstens, kaum mehr einen rechten Begriff zu bilden vermögen, was für eine Bedeutung, seelisch fast noch mehr als politisch und sozial, zur Zeit, da ich diese Zeilen schreibe, der sogenannten Judenfrage zukam. Es war nicht möglich, insbesondere für einen Juden, der in der Öffentlichkeit stand, davon abzusehen, daß er Jude war, da die andern es nicht taten, die Christen nicht und die Juden noch weniger. Man hatte die Wahl, für unempfindlich, zudringlich, frech oder für empfindlich, schüchtern, verfolgungswahnsinnig zu gelten. Und auch wenn man seine innere und äußere Haltung so weit bewahrte, daß man weder das eine noch das andere zeigte, ganz unberührt zu bleiben war so unmöglich, als etwa ein Mensch gleichgültig bleiben könnte, der sich zwar die Haut anaesthesieren ließ, aber mit[328] wachen und offenen Augen zusehen muß, wie unreine Messer sie ritzen, ja schneiden, bis das Blut kommt.

1912[?]


Quelle:
Schnitzler, Arthur: Jugend in Wien. Wien, München, Zürich 1968, S. 326-329.
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