III

[289] Seit einer Stunde saßen die drei jungen Leute in dem Cabinet particulier und warteten. Die Blandini war noch nicht da.

»Sie wird gar nicht kommen,« sagte Fred.

»Das ist unmöglich,« antwortete August. »Wir haben es gestern miteinander ausgemacht, und außerdem hab' ich ihr heut nachmittags geschrieben.«

»Weißt du, was ich finde?« bemerkte Emerich.

»Nun?« fragte August.

»Wir müßten dem Roland ...«

»Fang' mir nicht wieder davon an, der Spaß ist vorbei, die Leute haben sich amüsiert, es war was Neues – und jetzt ... Schluß.«

»Ja, schon gut,« sagte Emerich. »Aber ich mein', wir sollten ihm, dem Roland, morgen was schicken.«

»Geld?« fragte Fred.

»Freilich, Geld, es gehört sich eigentlich, findst nicht, Gustl?«

»Das können wir ja tun«, antwortete August kurz.

Fred sah vor sich hin. Alle schwiegen. Plötzlich stand August auf. »Ich fahre hin.«

»Ins Theater?« fragte Emerich.

»Nein. Zu ihr. Im Theater kann sie ja nicht mehr sein, das ist ausgeschlossen.«

»So hältst du es doch für möglich, daß sie deine Einladung vergessen hat?«[289]

»Was willst denn immer,« sagte August ärgerlich, indem er den Winterrock anzog.

»Kommst du bestimmt zurück?« fragte Emerich.

»Ja, bestimmt; mit ihr. Auf Wiedersehen.«

Er entfernte sich rasch. Er mußte an der Tür der anderen kleinen Zimmer vorbei; aus einem klang ihm ein Walzer nach, den irgendein unmusikalischer Mensch auf einem harten Klavier schlecht spielte. August trat ins Freie. Die Straße war still, aber nicht dunkel. Der Schnee, der auf der Straße lag, verbreitete eine matte, gleichmäßige Helligkeit. Noch immer schneite es in großen, langsamen Flocken. August Witte entschloß sich, zu Fuß zu gehen, er fühlte, daß er erregt war, und hoffte, daß ihn die milde, weiße Nacht beruhigen würde. Er hatte einen Moment Lust, für seine üble Stimmung Fred verantwortlich zu machen, der mit seiner ablehnenden, beinahe höhnischen Art den ganzen Abend von Anfang an verdorben hatte.

Freilich, daß die Blandini ausgeblieben war, das konnte er Fred nicht zum Vorwurf machen, so gern er es auch getan hätte – dafür mußte ein anderer Grund da sein. Wahrscheinlich war sie bös auf ihn; schön. – Im übrigen, hatte er denn was anderes wollen? Es wäre ihm gar nicht eingefallen, den Streich von heute Abend auszusinnen und auszuführen, wenn ihn nicht die Blandini selbst dazu gereizt hätte, die seit einiger Zeit von diesem armseligen Statisten zu behaupten pflegte, er hätte den interessantesten Kopf, den sie je gesehen, und hätte sicher viel mehr Talent als alle anderen. Anfangs war es wohl nur ein Scherz gewesen, wenn sie das sagte; aber als August unvorsichtigerweise zu widersprechen anfing, beharrte sie eigensinnig auf ihrer Meinung, bis sie endlich erklärte, aus August spräche die Eifersucht. – Das machte ihn ganz wütend. Auf Herrn Roland eifersüchtig! – Ah, er wußte schon ganz gut, auf wen er eifersüchtig zu sein hatte. Der Komiker mußte von allem Anfang an als Rivale hingenommen werden; daran war nichts zu ändern ... aber über diesen Herrn Roland wollte er sich wahrhaftig nicht weiter ärgern. Jedesmal nahm er sich vor, nicht mehr von ihm mit der Blandini zu reden – und kaum war er fünf Minuten mit ihr zusammen, so fing der Zank wieder an. – Er fühlte, daß es nicht klug war; er trieb die Blandini geradezu in irgend etwas hinein, das er längst fürchtete. – Jetzt, wie er so durch die Straßen eilte, wußte er, was er fürchtete. Jetzt wußte er, daß der Anlaß zu dem Streich von heute Abend nicht die Lust am Spaß gewesen war: auch nicht die[290] Absicht, dem Herrn Roland eine besondere Freude zu machen, obwohl er fest davon überzeugt war, daß Herr Roland erfreut sein werde; nein – er hatte die stille Hoffnung gehegt, daß er den kleinen Schauspieler für die Blandini lächerlich und unmöglich machen, daß sie über den lustigen Einfall Augusts lachen und sie nachher bessere Freunde sein würden als je; mit diesem Scherz dachte er Herrn Roland für die Blandini endgültig dahin zu verweisen, wo sein Platz war. Er hatte sich vor Beginn des Theaters vorgestellt, daß sie ihm vor seinen Freunden um den Hals fallen und ihm wie in früheren, glücklichen Zeiten sagen würde: »Du bist doch mein süßes und gescheites Afferl!« Aber schon im Theater hatte er gemerkt, daß die Sache anders auszufallen schien, als er gewünscht. Während des Applaussturmes nach dem Eintreten des Roland hatte die Blandini einen bösen Blick in die Loge geworfen, wo er mit seinen zwei Freunden saß, und als Roland zum letztenmal abging, hatte sie die Augen so verloren nach jener Tür gerichtet, daß August einen mächtig anwachsenden Zorn im Herzen fühlte. Und jetzt, je näher er dem Hause kam, in dem die Blandini wohnte, um so weniger verhehlte er sich, wovor er in Wahrheit zitterte: ... sie beide zusammen zu finden. Er beschleunigte die Schritte – noch um diese Ecke – und er stand vor dem Haustor. Es war eine der breiten Straßen hinter dem Ring; ringsum war kein Mensch zu sehen. Er lauschte und hörte über das beschneite Pflaster das gedämpfte Geräusch eines heranrollenden Wagens; seine Hand, die eben die Klingel drücken wollte, hielt inne, und er wartete.

Der Wagen fuhr um die Ecke, hielt vor dem Haustor. Er kannte ihn gut, er hatte ihn ja selbst für die Blandini gemietet. Rasch trat er beiseite; es war ihm, als wäre seine ganze Erregung geschwunden. Denn er war fest überzeugt, daß sie im nächsten Moment mit Roland aus dem Wagen steigen würde – und dann war eben alles entschieden und alles aus. – Der Schlag öffnete sich, eine Dame stieg aus dem Wagen und schlug die Tür hinter sich zu. Es war die Blandini. August eilte herbei und schaute rasch durch das Fenster in den Wagen hinein. Er war leer. August atmete auf. Dann rief er: »Albine!« – Sie wandte sich rasch um, im Moment, da sie ihn erkannte, machte sie einen Schritt auf ihn zu. »Traust du dich her?«

»Ah, das ist gut,« rief August, der sich plötzlich seiner Rechte neu bewußt wurde, »ob ich mich trau? Wo steckst du denn? Was machst denn du? Ich wart' zwei Stunden auf dich! Was heißt denn das?«[291]

»Mein Lieber, du kannst lang warten,« sagte die Blandini, »wir zwei sind fertig miteinander.«

»Warum?«

»Fragst noch?«

»Erstens schrei nicht; der Kutscher braucht das nicht zu wissen – und zweitens –«

In diesem Augenblick öffnete sich die Haustür; die Blandini eilte in den Flur und schlug die Tür hinter sich zu. August bebte vor Zorn. Aber er wollte sich vor dem Kutscher und dem Portier nicht blamieren und blieb ganz ruhig stehen. Er überlegte. Was sollte er tun? Warten? – Ihr nacheilen?! Sich der Gefahr aussetzen, von ihr nicht empfangen zu werden? Bis zum Morgen da auf- und abgehen? Ihr in der Früh auf der Straße einen Skandal machen? Er war so zornig, daß er sein eigenes lautes, beinahe schnaubendes Atmen hörte. – Nach zwei Minuten öffnete sich das Haustor von neuem, und Albine erschien.

Sie eilte zum Wagenschlag und rief dem Kutscher etwas zu. August eilte ihr nach und packte sie beim Arm. »Wohin?«

»Was gehts dich an?« Sie machte sich los von ihm und sprang in den Wagen; er ihr nach.

»In meinem Wagen werd' ich doch wohl mitfahren dürfen,« stieß er zwischen den Zähnen hervor.

»Bitte.«

Der Wagen rollte fort.

»Darf ich um Aufklärung bitten?« fragte August.

Sie antwortete nicht.

»Woher bist du gekommen?«

Sie schwieg.

»Warst du mit ihm?«

»Nein,« sagte sie; »aber ich such' ihn.«

»Was?«

»Ja.«

»Bist du seine Geliebte?«

»Nein; aber verlaß dich drauf, heute werd' ich's noch.«

August fuhr mit der Hand nach der Signalpfeife für den Kutscher.

Sie zog ihm heftig den Arm herunter.

August schaute durchs Fenster hinaus: sie fuhren über den Ring.

Albertine sah ihn von der Seite an.

»Interessiert's dich, wohin wir fahren?«[292]

August bebte und erwiderte nichts. Sie sprach weiter; grausam und mit Behagen.

»Ich habe nach dem Theater auf ihn gewartet; aber er war schon fort ... dann bin ich in seine Wohnung, aber er war nicht zu Haus. Dann bin ich in das Wirtshaus, wo er manchmal hinzugehen pflegt; – da war er auch nicht. Und weißt du, warum ich jetzt bei mir zu Haus war? Weil ich überall, bei ihm und auch im Wirtshaus den Auftrag gegeben habe, man soll ihn sofort zu mir schicken. Und jetzt fahren wir wieder ins Theater, weil ich keine Ruh' hab', bevor ich ihn find', – verstehst du?«

August sprach kein Wort; aber er hätte sie gern erwürgt.

Der Wagen rollte über die Donaubrücke, noch ein paar Minuten und er hielt in einer schmalen Gasse, an der kleinen Hintertür des Theatergebäudes, die zur Bühne führt. Die Blandini sprang aus dem Wagen; August ihr nach. Die Tür war längst geschlossen. Ein Gewölbewächter, der eben vorbeiging, sah neugierig die junge Dame an, die um Mitternacht hier an der Glocke zog. Nach ein paar Sekunden wurde die kleine Tür geöffnet, und der Portier erschien mit einer Laterne in der Hand ... »Jessas, Fräulein Blandini, was ist denn? Was ist denn gescheh'n? Haben S' was da vergessen?«

»Leuchten Sie mir nur.«

August stand hinter ihr.

»Der Herr hat nichts da zu tun,« sagte die Blandini; »sperren Sie zu.«

Sie stieß August zurück, schloß selbst die Tür, und der Portier versperrte sie. Während sie mit dem Portier durch den schmalen, niederen Gang eilte, der zur Bühne führte, fragte sie ihn: »Haben Sie den Roland weggehen sehen?«

Der Portier dachte nach. »Ja, Fräulein, jetzt ist sicher niemand mehr in der Garderobe. Vor zwei Stunden hab' ich schon zugesperrt.«

»Haben Sie ihn weggehen gesehen?« wiederholte sie beinahe flehend.

Sie standen nun auf der großen, dunklen Bühne. Von der Laterne, die der Portier in der Hand hielt, fiel ein Lichtkegel auf den weißen Souffleurkasten. Die Kulissen, zu beiden Seiten im Dunkel, schienen ins Unermeßliche hinaufzuwachsen. Der eiserne Vorhang stand da wie eine Riesenwand.

»Ja .... gesehen« sagte der Portier. » ...ich weiß mich wirklich nicht zu erinnern, ich bitt' schön, Fräulein, es gehen da[293] so viel Leut' an einem vorbei, man schaut doch nicht einen jeden an; nicht wahr?«

Die Blandini blieb noch einen Moment nachsinnend stehen, dann eilte sie rasch über die Bühne bis hinter die Kulissen, zu der kleinen Stiege. Sie setzte den Fuß auf die ersten Stufen.

»Aber Fräulein,« rief der Portier, der ihr mit der Laterne nacheilte, »da ist ja die Herrengarderobe.«

Sie antwortete nicht; sie eilte so rasch hinauf, daß sie oben plötzlich im Dunkel stand und auf den nachstolpernden Mann mit der Laterne warten mußte. Sie holte tief Atem. Als der Portier wieder bei ihr war, und ein schwacher Lichtschimmer den Gang erhellte, fragte sie: »Wo ist die Garderob' vom Roland?«

»Ja Fräulein, das weiß ich selber nicht, ich komme ja nie da herauf. Aber da oben sind die Namen angeschrieben.«

Sie nahm ihm die Laterne aus der Hand und versuchte aufs Geratewohl, die erste Tür zu öffnen.

»Fräulein, das geht nicht, s' ist ja zugesperrt. Die Herren sperren meistens zu beim Fortgehen. Und das ist ja gar nicht die von Herrn Roland.«

Fräulein Blandini eilte weiter; bei einer Tür nach der andern hob sie die Laterne höher, um die Namen zu lesen. Endlich war sie bei der rechten. Ein weißer Bogen klebte dort; drei Namen standen darauf: Engelbert Brunn, Oswald Friedemann, Friedrich Roland. Sie griff nach der Türschnalle, aber auch diese Tür war verschlossen.

Der Portier schüttelte den Kopf. »Schau'n S', Fräulein, wenn Sie da drin was vergessen haben, da kommt ja nichts weg, morgen ist's auch noch da.«

»Sie ... Sie ...« wandte sich die Blandini an ihn, »der Roland ist ja nach dem zweiten Akte fertig, er muß doch früher fortgegangen sein als die anderen, da hätten Sie ihn doch sehen müssen?«

»Ja, Fräulein, es ist möglich, daß ich ihn geseh'n hab', wie man halt einen sieht, aber ich weiß mich nicht zu erinnern.«

Die Blandini blieb ein paar Augenblicke ratlos stehen. Plötzlich fiel ihr etwas ein. Sie suchte in ihrer Tasche und atmete erleichtert auf. Vielleicht paßt er, flüsterte sie und hielt ihren eigenen Garderobeschlüssel in der Hand. Sie gab dem Portier die Laterne wieder zu halten, und hastig versuchte sie den Schlüssel. Er paßte. Sie drehte ihn ein-, zweimal im Schlosse um; sie drückte auf die Schnalle, die Tür ging auf. – Ihr gegenüber gerade am Fenster[294] schien eine ungeheuer lange Gestalt zu lehnen. Es ist ein Kostüm, dachte sie im ersten Augenblick. Sie riß dem Portier die Laterne aus der Hand, hielt sie hoch, – schrie auf. »Um Gotteswillen,« rief der Portier und stürzte zum Fenster hin. Es war, als stände Herr Friedrich Roland lebendig dort, seine Arme hingen schlaff herab, der Kopf fiel tief auf die Brust herab. Er war im Kostüme, das er abends getragen; sogar den falschen Schnurrbart hatte er noch; nur die Perücke war fort, und seine dünnen, straffen, grauen Haare starrten zerzaust.

»Aufgehängt hat er sich,« stieß der Portier hervor ... »aufgehängt.« Er stellte die Laterne auf das Tischchen zu den Schminktöpfen und der Perücke. Dann griff er nach den Händen des Toten und fuhr längs der Arme bis zum Hals hinauf ... »Mit dem Schnupftüchel,« sagte er. »Ja, was sollen wir denn tun, Fräulein?«

Die Blandini stand regungslos und starrte den Leichnam an.

»Wissen Sie, Fräulein,« sagte der Mann, »ich werd' vielleicht den Herrn von unten heraufholen, und ich geh' unterdessen zur Polizei, die Anzeige machen.«

Jetzt zuckte die Blandini leicht zusammen, dann antwortete sie leise: »Ja, geh'n Sie zur Polizei, ich bleib da ... aber dem Herrn unten sagen Sie, er soll fortgehen, schnell fortgehen soll er, daß ich ihn nimmer seh', sagen Sie ihm das, und wenn ich ihn noch unten treff', sagen S' ihm, spuck' ich ihm ins Gesicht.«

Die letzten Worte schrie sie so laut, daß der Portier zusammenfuhr und daß sie ihm noch in den Ohren gellten, als er im Dunkel über die leere Bühne lief.

Quelle:
Arthur Schnitzler: Gesammelte Werke. Die erzählenden Schriften, 2 Bände, Band 1, Frankfurt a.M. 1961, S. 289-295.
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