Alfred von Wilmers an Theodor Dieling in Neapel

[188] Guten Morgen, mein Lieber!

Heute gibt's was zu erzählen! Ich bin wieder jung! Ich hab' meine Sach' auf nichts gestellt, juchhe. – Nun, ich nehme es Dir nicht übel, daß Du mich nicht verstehst! Es war am Sonntag. Das ist wenigstens ein Anfang. Also Sonntag, zwei, drei Uhr Nachmittag. Sehr warm, und über der Stadt lag die Sonne. Und die Leute aus den Vorstädten zogen über die Linie hinaus, hatten alle eine riesige Lust ins Grüne, ins Freie, und waren fidel. Zu der Zeit, wo unsere kleine Geschichte spielt (was sagst Du zu meinem Stil?), war es in den Straßen nicht mehr sehr lebendig. Unter den Fußgängern, welche gemütlich schlendernd ihren Weg gegen die Grenze der Stadt zu nahmen, befand sich ... nein, ich kann nicht, ich kann keine Novellen schreiben. Ich werde mich auf das Tatsächliche beschränken. Kurz und gut, ich hatte eine tolle Idee. Ich hatte Lust mich zu verkleiden. Ich wollte einmal ein anderer sein, weil ich mich mit mir selbst langweilte. So zog ich mir einen Samtrock an, nahm einen liegenden Kragen, eine fliegende Krawatte, setzte einen weichen Hut auf, ließ meine Handschuhe zu Hause und spazierte so davon! Du hast keine Ahnung, wie verkleidet ich mir vorkam. Ich sah aus wie ein Anstreicher. Es war freilich nicht die Lust der Maskerade allein. Ich verband einen bestimmten Zweck damit. Ich wollte die Gewißheit haben, daß ich eine eventuelle Eroberung nicht etwa dem Glauben an[188] meine Zahlungsfähigkeit und an meinen Schneider verdankte. Ich änderte auch meinen Gang. Ich »schlenderte«, ich legte etwas Naives, Unbesorgtes, Leichtsinniges hinein. Ich war bei Gott nicht zu erkennen. Stell Dir nur vor, einen weichen Hut, ganz eingetäpscht, und eine lose Halsbinde! Um drei Uhr kam ich zur Linie, und da lehne ich mich ein paar Augenblicke an einen Laternenpfahl, zünd' mir eine Zigarette an und schau' mir die braven Bürgersleut' und die Liebespaare an, die vorbeispazieren. Auch einige Mädeln zu zweit oder dritt laß ich vorbei, ganz hübsch, ganz lieb. Da kamen eben wieder zwei, die winken zu einem Fenster hinauf, wo eine ältere dicke Frau vergnügt herunterschaut. Und ich seh', wie an so vielen Fenstern Leute herunterschauen, hemdärmelige Männer und schlamperte Weiber. Da, wo ich stehe, ist Sonne, und auf den Wällen spielen ein paar Kinder. Plötzlich wird's mir wieder etwas trübselig zumute. Ich weiß kaum warum. Diese Sonntagsbürgerlichkeit strömte plötzlich ihre ganze widerwärtige Öde über mich. Die zwei Mädeln, die schon lange an mir vorbei waren, stelle ich mir in ihrem Heim vor, sehr beschäftigt in der Küche und mit der Wäsche und zur Unterhaltung das Weltblatt lesend. Und den Herrn Vattern, wie er über die Steuern schimpft, und alles mögliche. Diesen Unterschied, den sie da alle fühlen, daß heute Sonntag ist und sechs andere Tage nicht – kurz, sehr zuwider! –

Da seh' ich plötzlich was ganz Entzückendes. Ein Mäderl, nicht mehr ganz jung, das heißt zwei- oder dreiundzwanzig. Wundervoll – und ganz allein. Einfaches geblümtes Kleid, famos gemacht, hübscher breiter Strohhut, wunderbare Augen, schlanke, schmiegsame, nicht große Gestalt, Sonnenschirm aufgespannt. Wie sie an mir vorübergeht, sieht sie mich groß an und lächelt. Dann wendet sie sich um, geht sogar zurück, an mir vorbei, ohne mich anzuschauen. Nur zwanzig Schritte, und dann wendet sie sich wieder um. – Ah, ein Rendezvous. Ich habe Zeit und warte mit. Das Unglaubliche geschieht – und dieses Wesen wartet vergeblich! – Ich schau' sie mir näher an; wirklich reizend! so lieb! Über die allererste Jugend und gottlob auch die allererste Unschuld hinaus. Kleine verräterische Falten um die Augen und einen Zug um den Mund, der erst kommt, wenn man viel geküßt und gebissen hat. Die Gestalt schmiegsam und an das Anschmiegen gewöhnt. – Aber was Naives in dieser bewußten Erfüllung ihres Frauenloses. So lieb! – Und er, er kam nicht! Ich schau' ihr zu, spazierengehen, sie kümmert sich kaum um mich, wobei wohl[189] etwas Koketterie war, und endlich, nach etwa zehn Minuten, verzieht sie halb ärgerlich, halb verächtlich den Mund und nimmt einen eiligen Schritt, aber nicht in die Stadt zurück, sondern hinaus gegen die Währinger Hauptstraße. Da geh' ich ihr nach, und ohne eine Sekunde zu verlieren, versuch' ich mein Glück. Ich sag' ein paar belanglose Worte, sie darauf, sich nach mir umwendend, beinahe finster: Was wollen denn Sie? Ich ließ mich nicht abschrecken, und ein Gespräch war bald im Gange. Sie hatte die Absicht, »just« aufs Land hinauszugehen, weil es überhaupt mehr auf die gute Luft ankäme als auf ihn, und von ihr aus könnt' ich schon neben ihr weiterspazieren, wenn's mir Vergnügen machte.

Es war merkwürdig, wie rasch wir in das gemütliche Plaudern kamen. Ich muß mir schon das Kompliment machen, daß ich meine Rolle gut gespielt habe. Wie sie mich fragte: was sind S' denn eigentlich?, antwortete ich: Raten Sie. Na, was sollen S' denn sein, meint sie – ein Künstler! Und was für einer? frage ich. Ich war wahrhaftig neugierig. »Dichter«, sagt sie plötzlich ganz bestimmt. Ich schau' sie mit einem Blick an, der hieß: Du bist nicht nur ein sehr hübsches, sondern auch ein sehr gescheites Mädel. Na, hab' ich's erraten? sagt sie lächelnd. Und dann fragt sie weiter, ob ich schon lang dichte, ob ich sehr schön dichte und ob's mir Freud' macht, und so fort. – Ah, jetzt fing ein vergnügtes Lügen an! Es ist unglaublich, was ich ihr alles erzählt habe, es muß aber nicht nur interessant, sondern auch glaubwürdig gewesen sein. Denn sie lauschte geradezu andächtig. Nun ja, die Kämpfe meiner Jugend, bis ich mich mühselig durchgerungen, und das Mütterlein, fern in einem Städtchen, und dann die Frauen, und die großen Schmerzen, und die begrabene Liebe – es war wirklich rührend, und es tut mir nur leid, daß ich mir nicht genau gemerkt, was ich alles erlebt habe. Und mit einem Mal waren wir im Grünen. Wirklich draußen in der schönen Natur, und wir spazierten durch den Wald, und es wurde einsam und stiller. Wir setzten uns auf eine Bank. Ab und zu kamen Leute vorbei, und durch das Gesträuch konnte man auf eine Wiese sehen, drüben wieder Wald, und dort, weit, im Schatten unter aufgespannten Schirmen, lagen die braven Sonntagsausflügler. Zuweilen hörten wir von dort her lauteres Rufen und Lachen. Dann wieder wurde es ganz still – schwüler, stummer Nachmittag. Nun fing sie auch an von sich selber zu erzählen – die alte Geschichte; aber sie stand ihr gut zu Gesicht. Sie ist Kunststickerin, hat keine Eltern[190] mehr; bis vor kurzem hat sie mit ihrer Tante gewohnt; aber das war nicht für die Dauer. Sie deutete an, daß irgendeine Liebesgeschichte – gewiß nicht ihre erste – mitgespielt habe. Die aber scheint auch zu Ende zu gehen. Haben Sie ihn sehr lieb? fragte ich. Sie schaute zu Boden. O ja, sagte sie; freilich, es ist auch viel Gewohnheit dabei, setzte sie hinzu. Und dann, plötzlich: Nun, Sie haben ja gewiß auch einen Schatz? Ich wollte den Schatz nicht ganz ableugnen; das hätte mir entschieden geschadet – aber auch bei mir war die Sache in langsamem Hinsterben begriffen. Mehr wollte ich nicht sagen – sie fragte auch nicht viel. Jedenfalls fanden wir bald, daß man das eigentlich nicht so schlechthin einen Zufall nennen dürfe, was uns zusammengeführt. Die Ähnlichkeit unseres Schicksals, der eigentümliche Augenblick unserer Begegnung, beide gerade so müde von einer sterbenden Liebe, ja, wenn das nicht Bestimmung sei! – Und so plauderten wir im grünen Wald, und es war so schwül, so schwül! Endlich nach dem langen Plaudern kam das Schweigen. Sie saß, ganz nah an mich gerückt – und es war wirklich ganz wunderbar, was dieser süße Mädchenleib für einen wohligen Duft ausströmte. Das ist so nett von diesen kleinen Vorstädtlerinnen, daß sie immer so soigniert sind. Die Kleine hat sich zum Namenstag jedenfalls einen sehr guten Parfüm schenken lassen. Aber aus ihren lockigen Haaren kam noch ein ganz eigener Duft. Ich zog sie an mich. Schläfrig? fragte ich. – Sie nickte und lehnte den Kopf an meine Brust und schloß wahrhaftig die Augen. Nun mußte ich doch diese herzigen, geschlossenen Augen küssen, sie ließ es geschehen, dann küßte ich ihre Wangen, ihren Mund. Sie sagte »aber!« und küßte mich wieder. Es kamen Leute vorbei, und wir standen auf. – Nun war es vollkommen entschieden, daß uns ein geheimnisvolles Walten des Schicksals zusammengeführt, welches, wie das Schicksal schon ist, durchaus unser Glück wollte. Für alle Fälle sagten wir uns »Du« ... Es ist nicht zu schildern, wie gut aufgelegt wir waren. Sie behauptete, daß ihre geheime Sehnsucht stets ein Dichter gewesen sei. Und meine? Ich war großartig und behauptete, meine Sehnsucht war überhaupt nur sie, gerade sie, gerade diese kleine, süße Pepi, die Sonntag, den soundsovielten Juni, über die Währingerlinie spaziert kam mit einem Sonnenschirm und einem Strohhut. Und wie die Zeit verging! Es begann schon zu dämmern. Also was nun? Zusammen nachtmahlen natürlich! – Aber vor zehn wollte sie jedenfalls zu Hause sein. Also jetzt ging's in ein Gasthaus, das gleich am Ausgang des Waldwegs lag. Eins[191] dieser kleinbürgerlichen Wirtshäuser, welche ich sonst zu fliehen pflege. Aber wie hübsch war das alles heut. Wir spazierten in den Garten hinein, wo unter den großen Bäumen die Tische mit den Gartenlampen darauf und in gemessener Entfernung große Laternen standen. Sehr voll war es nicht; an einzelnen Tischen saßen ganze Familien, fürchterlich müd und durstig; an anderen zärtliche Paare, die einander bei der Hand hielten, da und dort kleine Spießergesellschaften. Und wie ich mich näher umsah, gab es auch nobleres Publikum; Sommerparteien an Stammtischen. Wir setzten uns an ein kleineres Tischchen ziemlich seitab, ich bestellte ein, haha, ein frugales Nachtmahl – wir hatten beide famosen Appetit und waren enorm glücklich.

Es war nun ganz dunkel, und wir saßen im tiefen Schatten. Eine Art von Zärtlichkeit überkam mich! Eine Art von Mitleid, könnt' ich sogar sagen, das ja eigentlich immer in der Zärtlichkeit steckt. Sie erzählte mir von ihrem Heim. Stell dir vor, ein kleines Zimmer im dritten Stock, Aussicht über die Höfe, ein sehr einfaches Zimmer natürlich; nur eines darf nie fehlen: Blumen. Früher hat er ihr immer die Blumen geschickt; in der letzten Zeit ist er damit nachlässiger geworden. Da hat sie sich selbst manchmal Veigerln oder Flieder gekauft und hat sie in die kleine Vase gestellt, die bei ihr auf dem Fensterbrett steht. – Endlich gingen wir, sie hing sich in meinen Arm. Wie spät ist's denn? fragte sie. Es war halb zehn. Vor dem Gartentor standen Einspänner; wir stiegen ein. Sie wollte sich durchaus nur bis an die Währingerlinie fahren lassen, in deren Nähe sie wohnt, will durchaus nicht mit dem Wagen in die kleine Gasse vorfahren, wegen der Nachbarn und wegen des Hausmeisters – na, und wohl auch wegen des Emil, meinte ich. Sie lag mehr im Wagen, als sie saß, hielt den Strohhut auf dem Schoß, und ihr Kopf mit den duftenden Haaren lag auf meiner Schulter. Mit dem Emil ist's aus, sagte sie. Es ist eigentlich schon wochenlang aus. Er will ja nichts mehr von mir wissen. Und es ist auch ganz gescheit. Und wenn du mich überhaupt wieder sehen willst, so red von Emil nichts mehr. Ich frag' dich auch nicht. Und nun schwieg sie, und so fuhren wir weiter, und ich streichelte ihre Wangen. In einer Viertelstunde waren wir bei der Linie. Da stiegen wir aus. Ich wollte sie bis zum Haustor begleiten. – Was fällt dir ein! rief sie. Jedes Kind kennt mich ja da! Und sie gibt mir einen Kuß und läßt mich stehen und lauft davon.

Sehr wohlgelaunt spazier' ich nach Hause. Zuerst aber setz'[192] ich mich in ein Kaffeehaus draußen, um meinen Schwarzen zu trinken – denn in meinem Aufzug konnt' ich unmöglich ins Kremser oder Imperial. Also da saß ich und hatte das behagliche Gefühl, wie man es vor einer neuen Liebe hat, und freute mich auf die Küsse von morgen und auf alles andere, was morgen oder, wenn's schlimm ist, übermorgen kommen wird. Dieses Morgen ist heute, und da es nun hohe Zeit geworden, meine Maske umzutun, geliebter Freund und Dichter, beschließe ich diesen langen Brief und freue mich, bald wieder von Dir zu hören.

Alfred

jugendlicher Liebhaber

Quelle:
Arthur Schnitzler: Gesammelte Werke. Die erzählenden Schriften, 2 Bände, Band 1, Frankfurt a.M. 1961, S. 188-193.
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