Zwölftes Kapitel

[175] Seine kleine Patientin besuchte Doktor Gräsler jeden Morgen, worauf er, mit Rücksicht auf eine mögliche Gefährdung von Katharinens Gesundheit, einen halbstündigen Spaziergang vorzunehmen pflegte. Der Fall, der so bedrohlich eingesetzt, nahm einen überraschend leichten Verlauf, und nachdem die angstvolle Erregung der ersten Tage geschwunden war, zeigte sich Frau Sommer als eine sehr umgängliche, heitere, ja plauderhafte Dame; und ob es nun als Zufall oder Absicht gedeutet werden mochte, keinesfalls achtete sie besonders darauf, ob der Morgenrock, in dem sie den Arzt ihres Kindes empfing, über Hals und Brust so sorgfältig geschlossen war, als es der strengere Anstand vielleicht erfordert hätte. Sie versäumte nie, sich nach dem Befinden von Gräslers kleiner Freundin zu erkundigen, wie sie Katharina gerne nannte, fragte ihn, ob er seinen Schatz nach Afrika mitzunehmen gedenke, – sie hatte sich nun einmal zu dieser ihr geläufigen Bezeichnung für Gräslers Winterziel entschlossen – oder ob dort schon eine andere Schöne, eine Schwarze vielleicht, in Sehnsucht seiner harre –; und endlich wollte sie ihm durchaus eine Tüte mit Schokoladenplätzchen als Geschenk für Katharina aufdrängen, was er aber mit Rücksicht auf die Ansteckungsgefahr abzulehnen für richtig fand. Andererseits ließ es Katharina an Bemerkungen über die junge Witwe nicht fehlen, die, wenn auch ein spöttischer Beiklang durch eifersüchtige Regungen mitveranlaßt sein mochte, nach Gräslers eigenem Eindruck nicht gänzlich unberechtigt schienen. Der Ruf von Frau Sommer war schon zu Lebzeiten des Gatten, der als Geschäftsreisender sich nur selten im ehelichen Heim aufhielt, nicht der allerbeste gewesen; ihr kleines Mädchen hatte sie in die Ehe mitgebracht, und es galt als zweifelhaft, ob ihr Gatte zugleich der Vater des Kindes wäre. Dies alles wurde Katharinen von der Buchdruckersfrau zugetragen, mit der sie in den spärlichen Stunden, da Doktor Gräsler vom Hause abwesend war, mehr und jedenfalls vertrauter sich zu unterhalten liebte, als diesem angenehm war.

Einmal versuchte er, die Geliebte auf das Unstatthafte eines solchen Verkehrs aufmerksam zu machen; doch als Katharina seine Bedenken kaum zu verstehen schien, kam er nicht wieder darauf zurück, da er sich die so kurz bemessene Zeit seines Glücks durch Mißhelligkeiten nicht wollte trüben lassen, und er überdies[176] fest entschlossen war, dieses Erlebnis nur als ein hübsches Abenteuer anzusehen, dem keinerlei Folge verstattet war. Wenn sie ihn daher neugierig bescheiden und wie absichtslos über seine Winterpläne auszufragen und sich nach den klimatischen und gesellschaftlichen Verhältnissen der Insel Lanzarote zu erkundigen begann, führte er das Gespräch so beiläufig als möglich, lenkte es auch bald anderswohin, um nur ja keinerlei Hoffnungen in ihr aufkommen zu lassen, die zu erfüllen er sich keineswegs geneigt wußte. In dem steten Wunsch, diese kurzen Wochen schattenlos zu genießen, fragte er auch nicht viel nach ihrer Vergangenheit, ließ sich's an der Gegenwart genügen und freute sich nicht nur des Glücks, das er genoß, sondern mehr noch dessen, das er zu geben imstande war.

Und allmählich, während die Tage und Nächte weiterrückten, insbesondere in Morgenstunden, wenn Katharina schlummernd an seiner Seite lag, begann die Sehnsucht nach Sabinen sich heftig in ihm zu regen. Er überlegte, um wieviel glücklicher er doch wäre, um wieviel würdiger sein Dasein sich gestaltet hätte, wenn statt dieser hübschen kleinen Ladenmamsell, die außer dem Buchhalter, mit dem sie verlobt gewesen war, gewiß noch ein paar Liebhaber gehabt hatte, die ihre braven Eltern anschwindelte und mit der Nachbarin klatschte, – wenn statt dieses unbedeutenden Geschöpfes, dessen Anmut und Gutherzigkeit er durchaus nicht verkannte, das blonde Haupt jenes wundersamen Wesens hier auf dem Polster ruhte, das sich ihm mit so reiner Seele als Lebensgefährtin angetragen, und das er in einem völlig unbegründeten Mangel an Selbstvertrauen verschmäht hatte. Denn er konnte sich nicht darüber täuschen, daß sie seinen schüchterntörichten Brief als entschiedene Ablehnung aufgefaßt hatte, wie er ja im Grunde damals auch von ihm gemeint gewesen war. Aber sollte es denn nicht wieder gutzumachen sein, was er durch seine Ungeschicklichkeit und Voreiligkeit verschuldet hatte? Ja, war es überhaupt möglich, daß die Gefühle, die Sabine ihm gegenüber gehegt und in so wohlüberdachter Weise ausgesprochen, einfach erloschen oder nie wieder zu entzünden wären? Hatte er denn nicht selbst in seinem Brief ihr und sich eine Frist gesetzt, – hielt sie sich nicht, indem sie jetzt nichts von sich hören ließ, einfach an das, was er gefordert, und drückte sich nicht eben in ihrem Schweigen, ihrer Geduld das Edelste und Wahrste ihres Wesens aus? Und wenn er nun, nach Einhaltung der von ihm selbst gesetzten Frist vor sie hinträte, ihr seinen Dank, sein endgültiges,[177] sein reiflich überlegtes, um so wertvolleres Ja zu Füßen zu legen – konnte er sie denn anders wiederfinden, als er sie verlassen? In der umfriedeten Stille des Forsthauses hatte sich gewiß kein anderer ihr genähert; – ihre reine Seele konnte weder durch seinen törichten, aber doch gutgemeinten Brief, noch durch das plötzliche Hereinbrechen einer anderen Leidenschaft in Verwirrung geraten sein, – ja dieser ängstliche Gedanke war selbst nichts anderes als das letzte Erzittern seines einsamen, verschüchterten Gemütes, dem nun durch eine wunderbare Fügung des Schicksals Vertrauen und Sicherheit wiedergegeben war. Immer mehr schien ihm Katharinens eigentliche Sendung die zu sein, ihn zu Sabinen zurückzuführen, in deren Liebe ihm der wahre Sinn seines Daseins beschlossen war; und je vertrauensvoller, an irgendein Ende nicht denkend, Katharina ihr heiteres, junges Herz ihm darbrachte, um so ungeduldiger und hoffnungsvoller verlangte seine tiefste Sehnsucht nach Sabinen hin.

Auch die äußeren Verhältnisse drängten zu baldiger Entscheidung, als der Oktober seinem Ende zuging. Vor allem hielt es Doktor Gräsler für angezeigt, den Besitzer des Sanatoriums zu verständigen, daß er in wenigen Tagen bei ihm eintreffen und die Angelegenheit ins Reine bringen wolle. Da eine Antwort ausblieb, sandte er ein Telegramm nach, ob er darauf rechnen dürfe, Direktor Frank an diesem und diesem Tage anzutreffen. Daß auch diesmal keine Erwiderung kam, machte ihn ärgerlich, aber nicht eigentlich besorgt, da ihm das verdrossene, unhöfliche Wesen des Mannes in widerwärtig deutlicher Erinnerung geblieben war. Sabinen selbst sein Kommen in einem Briefe anzukündigen, fühlte er sich nach seinen bisherigen Erfahrungen gänzlich außerstande; – er würde einfach hinfahren, da sein, ihr gegenüberstehen, ihre beiden Hände in die seinen nehmen, und ihr klarer Blick sollte – mußte ihm die erlösende Antwort geben.

Quelle:
Arthur Schnitzler: Gesammelte Werke. Die erzählenden Schriften, 2 Bände, Band 2, Frankfurt a.M. 1961, S. 175-178.
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