Fünfzehntes Kapitel

[187] Es war ein später, aber mild-sonniger Herbstnachmittag, als Doktor Gräsler in dem Badestädtchen ankam. Vor dem Bahnhofsgebäude stand wohl ein halbes Dutzend Hotel wagen und zwei Droschken; die Lohndiener riefen die Namen ihrer Gasthöfe aus, aber ohne rechte Überzeugung, da zu dieser vorgerückten Jahreszeit Kurbedürftige nicht anzukommen pflegten. Doktor Gräsler fuhr nach seiner Wohnung und wies den Kutscher an, zu warten. Er fragte vorerst nach Briefen, war geärgert, daß keine Antwort von Doktor Frank, bitter enttäuscht, daß nicht eine begrüßende Zeile von Sabine da war, und erkundigte sich bei der gefälligen Hauswirtin, was es aus Stadt und Umgebung zu berichten gäbe, ohne neues, auch aus dem Forsthause nicht, wie er dunkel gefürchtet hatte, zu erfahren. Endlich, schon im tiefen Abenddämmer, fuhr er die wohlbekannte Straße zwischen den zum größeren Teil verlassenen Villen und den finsteren Hügeln, unter einem Sternenlosen Himmel, talaufwärts der Stätte zu, wo ihm – nun wußte er mit einem Male unerbittlich klar, was er sich[187] tagelang und noch bis in die letzte Stunde töricht zu verhehlen gesucht hatte – ein verzweifelter, wahrscheinlich hoffnungsloser Versuch bevorstand, die halb leichtfertig, halb feig verscherzte Gunst des herrlichsten Wesens neu zu erobern.

Während er in seiner Seele so unablässig wie vergeblich nach unwiderleglichen Worten der Rechtfertigung, unwiderstehlichen der Zärtlichkeit suchte, hielt plötzlich der Wagen – wie Doktor Gräsler vorkam – mitten auf der Landstraße –; und mit einem Male, als wäre eben erst das Haus erleuchtet worden, fiel ein rötlicher Schein über den Fußpfad zu ihm her. Er stieg aus; langsam, um sein heftig klopfendes Herz zu beruhigen, schritt er bis zum Eingang, aufsein Klingeln wurde geöffnet, zugleich tat sich die Tür des Wohnzimmers auf, aus der eben Frau Schleheim trat, während am Tische, den Blick von einem Buch erhebend, Sabine ruhig sitzengeblieben war. »Das ist ja hübsch,« sagte die Mutter, ihm herzlich die Hand entgegenstreckend, »daß Sie sich um uns arme, verlassene Frauen kümmern.« – »Ich war so frei, Fräulein Sabine durch ein Wort zu verständigen.« Nun hatte auch Sabine sich erhoben und dem Doktor, der bis an den Tisch herangetreten war, freundlich die Hand reichend, sagte sie: »Seien Sie willkommen.« Er versuchte in ihrem Blick zu lesen, der klar, allzu klar auf ihm ruhen blieb. Er fragte nach dem Herrn des Hauses. »Er ist auf Reisen«, erwiderte Frau Schleheim. »Und darf man wissen, wo er sich zur Zeit befindet?« fragte Doktor Gräsler weiter, während er auf Sabinens Einladung Platz nahm. Frau Schleheim zuckte die Achseln. »Wir wissen es selber nicht. Das passiert zuweilen. Er kommt schon wieder nach ein paar Wochen. Wir kennen das«, schloß sie mit einem verständnisinnigen Blick zu ihrer Tochter hin. »Sie bleiben längere Zeit hier, Herr Doktor?« fragte diese. Er sah sie an, aber ihr Blick blieb ihm die Antwort schuldig. »Es kommt darauf an«, sagte er. »Nicht allzulange wohl – bis ich eben meine Angelegenheiten erledigt habe.« Sabine nickte wie abwesend.

Das Mädchen trat ein, um den Tisch zu decken. »Sie bleiben doch zum Abendessen bei uns?« fragte die Mutter. Er zögerte mit der Antwort; wieder fragte sein Blick bei Sabine an. »Natürlich ißt der Herr Doktor mit uns. Wir haben mit Sicherheit darauf gerechnet.« Gräsler fühlte: Nicht Güte erweist sie mir – Gnade vielleicht. Und er neigte stumm sein Haupt.

Da nun alle schwiegen und ihm das besonders peinlich war, begann er lebhaft: »Vor allem muß ich morgen den Doktor Frank[188] aufsuchen. Denn denken Sie, meine Damen, er hat mir auf meine letzten Briefe nicht einmal geantwortet. Aber ich hoffe noch immer, daß wir uns einigen werden.« – »Zu spät«, warf Sabine kühl ein, und Gräsler fühlte gleich, daß sich dies nicht allein auf das versäumte Geschäft bezog. »Doktor Frank,« erklärte Sabine dann, »hat sich entschlossen, die Anstalt selbst weiterzuführen. Seit ein paar Tagen wird schon fleißig renoviert. Ihr Freund, der Baumeister Adelmann, hat die Arbeiten übernommen.« – »Mein Freund ist er nicht,« sagte Gräsler, »sonst hätte er mich wohl irgendwie verständigt.« Und er schüttelte den Kopf, schwer und langsam, als hätte er an dem Baumeister eine bittere Enttäuschung erlebt. »Unter diesen Umständen,« bemerkte Sabine höflich, »werden Sie wohl wieder nach dem Süden gehen?« – »Natürlich«, erwiderte Gräsler rasch. »Nach meiner guten Insel Lanzarote. Ja. Überhaupt dieses Klima hier! Wer weiß, ob ich solch einem mitteleuropäischen Winter noch gewachsen wäre.« Es fiel ihm ein, daß er bei der mangelhaften Schiffsverbindung vor Mitte November auf der Insel nicht eintreffen und daß er bis dahin, da er sich weder angekündigt noch entschuldigt hatte, seinen Platz schon ausgefüllt finden könnte. Nun, glücklicherweise war er nicht mehr darauf angewiesen. Wenn es ihm beliebte, konnte er sich ein halbes Jahr und länger Ferien gönnen; ja, wenn er sich nur ein wenig einschränkte, durfte er seine Praxis gänzlich aufgeben. Aber der Gedanke machte ihn bange. Er war ja gar nicht imstande, ohne Beruf zu leben. Er mußte arbeiten, Menschen gesund machen, das Dasein eines edeln, tätigen Mannes führen – und am Ende war ihm dies Los doch noch an dieses wundersamen, reinen Wesens Seite bestimmt, das ihn für sein Zögern vielleicht nur ein wenig strafen, ihn vielleicht noch einmal prüfen wollte. Und so erklärte er, daß er bisher keinerlei bindende Abmachungen getroffen, daß er noch einen Brief aus Lanzarote zu erwarten habe mit der Annahme von neuen vorteilhaften Bedingungen, die er der dortigen Verwaltung gestellt hätte, und würden die ihm nicht gewährt, so sei er entschlossen, den kommenden Winter zu Studienzwecken an verschiedenen deutschen Universitäten zu verbringen. Oh, er wäre auch in seiner Vaterstadt keineswegs mäßig gewesen; nicht nur, daß er das Krankenhaus fleißig besucht, er habe sogar Privatpraxis ausgeübt. Ganz zufällig natürlich. Ein Kind war es gewesen, ein reizendes kleines Mädchen von sieben Jahren, das Töchterchen einer Witwe, die in seinem Hause wohnte. Er konnte sich dem nicht entziehen. Es[189] war ein nicht unbedenklicher Fall gewesen ... Scharlach. Aber das Kind war nun außer aller Gefahr. Sonst hätte er kaum abreisen können. Während er so redete, versuchte er das Bild der Frau Sommer in seiner Erinnerung hervorzurufen; aber immer erschien statt ihrer die Dame mit dem Puppengesicht aus dem illustrierten Familienblatt, die seine Träume auf der Schiffsreise erfüllt hatte. Offenbar bestand eine gewisse Ähnlichkeit; – ja gewiß, war sie ihm denn nicht gleich aufgefallen? Sabine hatte seinen letzten Mitteilungen anscheinend mit wachsendem Anteil, doch, wie er vielleicht nur aus seinem bangen Gewissen heraus fürchtete, mit geringem Glauben zugehört, und beinahe unvermittelt begann sie von ihren beiden Freundinnen zu erzählen, deren Gräsler sich wohl erinnern dürfte, und von denen die jüngere sich mit einem verspäteten Kurgast aus Berlin verlobt hätte. Zur Hochzeit wollte man dorthin reisen und bei dieser Gelegenheit, wie die Mutter bemerkte, sich nach langer Zeit wieder einmal in den Großstadttrubel stürzen. Von neuem und ungeduldiger, beschwörend beinahe, richtete Gräslers Blick an Sabine die Frage: Wie ist's nun eigentlich mit uns beiden? Aber ihre Augen blieben undurchdringlich; und wenn sie selbst auch im Laufe des Abends freundlicher, ja milder geworden schien, er fühlte, daß er das Spiel so gut wie verloren hatte. Doch wehrte sich sein Stolz dagegen, eine solche, gleichsam stumme Verabschiedung, wie sie ihm zugedacht schien, hinzunehmen, und er war entschlossen, Sabine vor seinem Fortgehen um eine Unterredung zu bitten. Als er sich erhob und mit erkünstelter Leichtigkeit auf die Möglichkeit eines weihnachtlichen Wiedersehens in Berlin anspielte, stand auch Sabine vom Tische auf, und ihre Absicht war unverkennbar, dem Gast das Geleite zu geben. Und so gingen sie denn Seite an Seite, wie in jenen schöneren Zeiten, doch schweigend, unter den Tannen der Straße zu, wo der Wagen wartete. Plötzlich aber, fast unwillkürlich, hielt Gräsler inne und fragte: »Sind Sie mir böse, Sabine?« – »Böse?« erwiderte sie tonlos. »Warum sollt ich?« – »Mein Brief, ich weiß es ja, mein unglückseliger Brief.« Und da er sie, im Dunkel, nur schmerzlich mit einer abwehrenden Handbewegung zusammenzucken sah, versuchte er, hastig, im Gefühl sich immer unrettbarer zu verstricken, eine Erklärung. Sie habe seinen Brief mißverstanden, völlig mißverstanden. Seine Gewissenhaftigkeit, sein Pflichtgefühl habe ihn zu diesem Briefe veranlaßt. Oh, wenn er einfach seinem Herzen, seiner Leidenschaft gefolgt wäre! – Er hatte sie ja[190] geliebt, angebetet, vom ersten Augenblick an, da er ihr am Krankenbett der Mutter gegenübergestanden. Aber er hätte ja nicht den Mut gehabt, an sein Glück zu glauben. Nach einem so lichtlosen, so einsamen, so friedlosen Dasein! Er hatte nicht mehr zu hoffen, nicht mehr zu träumen gewagt. Ein alter Mann wie er! Beinah ein alter Mann. Denn freilich, nicht die Zahl der Jahre mache die Jugend aus, das fühle er wohl. Gerade in den endlosen Wochen der Trennung habe er es einsehen gelernt .... Aber ihr Brief, dieser wunderbare, himmlische Brief – oh, solcher Worte war er nicht wert gewesen ... So überstürzten und verwirrten sich seine Worte, und er wußte, daß er die rechten nicht fand, nicht finden konnte, weil zwischen seinen Lippen und ihrem Herzen der Weg verschüttet war. Und als er endlich, hoffnungslos, mit dem fast erstickten Ausruf endete: »Verzeihen Sie, Sabine, verzeihen Sie mir« – hörte er sie wie aus der Ferne erwidern: »Ich habe Ihnen nichts zu verzeihen. Aber es wäre hübscher gewesen, wenn Sie nicht gesprochen hätten. Das hab' ich gehofft. Sonst hätte ich Sie gebeten, nicht zu kommen.« Ihre Stimme klang nun so hart, daß Gräsler mit einem Male neue Hoffnung faßte. War es nicht beleidigte Liebe, die sie so unversöhnlich machte? Beleidigte Liebe – aber eben doch Liebe, die noch vorhanden war, deren sie sich nur schämte? Und er begann mit neuem Mut: »Sabine – ich will nichts von Ihnen erbitten, als dies eine – daß ich im nächsten Frühjahr wiederkommen, Sie im nächsten Frühjahr noch einmal fragen darf.« – Sie unterbrach ihn: »Es ist recht kühl heraußen. Leben Sie wohl, Doktor Gräsler.« Und er glaubte trotz der Dunkelheit ein spöttisches Lächeln auf ihrem Antlitz zu sehen, als sie hinzufügte: »Ich wünsche Ihnen für weiterhin alles Gute!« – »Sabine!«

Er faßte ihre Hand, er versuchte sie zu halten. – Sie entzog sie ihm sanft. »Reisen Sie glücklich«, sagte sie, und in ihrer Stimme klang noch einmal alle Güte mit, die ihm nun für alle Zeit verloren war; sie wandte sich, ohne ihren Schritt zu beschleunigen, aber unwiderrufbar ging sie nach dem Hause zurück, hinter dessen Türe sie verschwand.

Nur eine kurze Weile stand Gräsler starr, dann eilte er zum Wagen, stieg ein, hüllte sich in Mantel und Decke und fuhr durch die Nacht heimwärts. Trotz erwachte in seinem Herzen. Gut denn, sagte er bei sich, du willst es so, du treibst mich selbst in die Arme einer andern, du sollst deinen Willen haben. Mehr noch. Du sollst es erfahren ... Eh' ich in den Süden reise, komme[191] ich mit ihr hierher. Ich werde ein paar Tage mit ihr hier wohnen. Ich werde mit ihr spazierenfahren, am Forsthause vorbei. Du sollst sie sehen! Du sollst sie kennenlernen. Du sollst mit ihr sprechen. Hier erlaube ich mir, Ihnen meine Braut vorzustellen, Fräulein Sabine! Keine so reine Seele als Sie, mein Fräulein, aber dafür auch keine so kalte! Nicht so stolz, aber gütig. Nicht so keusch, aber süß! Katharina heißt sie – Katharina ...

Er sprach den Namen laut vor sich hin. Und je weiter der Wagen sich vom Forsthaus entfernte, um so heißer stieg die Sehnsucht nach Katharina in ihm empor, und wurde bald zu dem wundersam sicheren Frohgefühl, daß er die Geliebte bald – morgen – morgen abend schon wieder in seinen Armen halten konnte. Was sie für Augen machen würde, wenn sie ihn plötzlich abends um sieben Uhr in der Wilhelmstraße erblickte? Das sollte eine Überraschung sein. Und eine andere, größere stand ihr bevor. Denn ein Philister war er nicht. Er hatte nichts anderes als den Wunsch, glücklich zu sein, und so wollte er das Glück nehmen, wo es so herzlich, so unbedenklich, so wahrhaft frauenhaft dargeboten wurde, wie von Katharina ... Katharina ... Wie gut war es doch, daß er Sabine noch einmal gesehen hatte. Nun erst wußte er, daß Katharina die Rechte für ihn war und keine andere.

Quelle:
Arthur Schnitzler: Gesammelte Werke. Die erzählenden Schriften, 2 Bände, Band 2, Frankfurt a.M. 1961, S. 187-192.
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