Sechstes Kapitel

[138] Die Schulferien gingen zu Ende, und Karl wurde von seiner Mutter nach Berlin gebracht, von wo sie nach wenigen Tagen und, wie nicht anders erwartet wurde, mit einer Magenverstimmung zurückkehrte. Doktor Gräsler, nun auch wieder ärztlich gewünscht, erschien Abend für Abend im Forsthaus, wobei es auch verblieb, nachdem Frau Schleheim vollkommen genesen war. Nun fügte es sich öfters, daß er stundenlang mit Sabinen allein im Haus oder im Freien plauderte, da die Eltern, ein ihnen wahrscheinlich nicht unwillkommenes Einverständnis vermutend, sich gerne abseits hielten. Gräsler sprach von seiner Jugend, von seiner alten wallumgebenen, vielgetürmten Heimatstadt und von seinem Elternhaus mit der altväterischen Wohnung, die jahraus, jahrein geduldig wartete, um für ein paar Wochen oder Tage ihn – und bis vor kurzem auch die Schwester – zu kurzer Frühjahrs- oder Herbstrast zu beherbergen. Und wenn ihm Sabine aufmerksam und nicht unbewegt zuhörte, so mußte er sich vorstellen, wie schön das wäre, wenn er mit ihr zusammen heimkehrte, und was sein alter Freund, der Rechtsanwalt Böhlinger, für Augen dazu machen würde, – der einzige Mensch übrigens, der noch eine gewisse lose Verbindung zwischen ihm und der Vaterstadt aufrecht erhielt.

Und als nun diesmal ungewöhnlich früh und mit besonderer Macht der Herbst einbrach, die meisten Kurgäste vor der Zeit entflohen und für Doktor Gräsler alle Stunden, die er nicht im Forsthaus verbringen durfte, leer und verödet waren, da überkam ihn eine solche Angst davor, sein einsames, sinn- und hoffnungsloses Wanderleben von neuem zu beginnen, daß er sich manchmal geradezu für entschlossen hielt, in aller Form um Sabine anzuhalten. Doch statt geradeaus eine Frage an sie selbst zu richten, wozu er den Mut nicht aufzubringen vermochte, kam er auf den Einfall – als wäre dies eine Art, sich beim Schicksal Rats zu erholen – Umfrage zu halten, ob die Heilanstalt des Doktor Frank, von der Sabine neulich zum zweitenmal flüchtig gesprochen hatte, ernstlich, und zu welchen Bedingungen sie zum Verkauf stünde. Als nichts Bestimmtes zu erfahren war, suchte er den Besitzer auf, der ihm persönlich bekannt war, fand den verdrossenen, alten Mann in einem schmutzig-gelben Leinenanzug, eher einem bäuerischen Sonderling als einem Arzt ähnlich, eine Pfeife rauchend, auf einer weißen Bank vor dem Sanatorium[139] sitzend und fragte ihn geradezu, was es denn eigentlich mit jenen Gerüchten auf sich hätte. Es zeigte sich, daß auch Direktor Frank nur beiläufig da und dort seine Absicht verraten und anscheinend auch seinerseits irgend etwas wie einen Schicksalswink erwartet hatte. Jedenfalls war er durchaus gesonnen, seinen Besitz je eher je lieber loszuschlagen, da er die paar Jahre, die ihm noch beschieden wären, in möglichster Entfernung von wirklichen und eingebildeten Kranken zu verbringen und sich von den hunderttausend Lügen zu erholen wünschte, zu denen ihn sein Beruf zeitlebens gezwungen hätte. »Sie können's auf sich nehmen,« sagte er, »Sie sind noch jung«, was Doktor Gräsler zu einer melancholisch abwehrenden Handbewegung veranlaßte. Er besichtigte die Anstalt in allen ihren Räumen, fand sie aber zu seinem Bedauern noch vernachlässigter und verfallener, als er gefürchtet hatte. Auch machten die wenigen Patienten, denen er im Garten, auf den Gängen und im Inhalationssaal begegnete, auf ihn keineswegs den Eindruck zufriedener oder hoffnungsvoller Menschen; ja es war ihm, als läge in den Blicken, mit dem sie ihren Arzt grüßten, Mißtrauen, beinahe Feindseligkeit. Aber als Gräsler von dem kleinen Balkon aus, der zu der Privatwohnung des Direktors gehörte, die Augen über den Garten und weiter hinaus über das freundliche Tal bis zu den gelind aufstrebenden und etwas umnebelten Hügeln schweifen ließ, an deren Rand er das Forsthaus ahnte, da fühlte er sich plötzlich von einer so heißen Sehnsucht nach Sabinen erfaßt, daß er sein Gefühl für sie zum ersten Male mit völliger Sicherheit als Liebe erkannte und es wie ein wunderbares Ziel vor sich sah, bald mit Sabinen eng umfaßt auf der gleichen Stelle zu stehen und ihr den ganzen Besitz erneut und verschönt als seiner Gefährtin und Frau gleichsam zu Füßen zu legen. Er bedurfte einiger Selbstbeherrschung, um sich scheinbar unschlüssig von Direktor Frank zu verabschieden, der übrigens diese Haltung höchst gleichgültig aufnahm. Im Forsthause desselben Abends hielt er es für richtig, von seinem Besuch in der Anstalt keine Erwähnung zu tun; doch schon am nächsten Tage nahm er den Baumeister Adelmann, seinen täglichen Tischgenossen aus dem »Silbernen Löwen«, mit sich in das Sanatorium, um einen Fachmann zu hören. Es erwies sich, daß weniger eingreifende und kostspielige Veränderungen notwendig waren, als Doktor Gräsler gefürchtet hatte, ja der Baumeister wollte jede Verantwortung dafür übernehmen, daß sich die Anstalt am ersten Mai nächsten Jahres wie neu präsentieren würde. Doktor[140] Gräsler spielte weiter den Zögernden und entfernte sich mit dem Baumeister, der nun, unter vier Augen, ihm mit noch größerer Entschiedenheit zu dem vorteilhaften Kaufe zuredete.

Am selben Abend noch, der heute wieder einmal von wahrhaft sommerlicher Wärme war, mit Sabinen und ihren Eltern auf der Veranda des Forsthauses sitzend, begann er wie beiläufig von seiner Unterredung mit Doktor Frank zu erzählen, die er als eine zufällige darstellte, indem er nämlich mit dem Baumeister eben am Tor der Anstalt vorbeigegangen sei, als der Besitzer heraustrat. Herr Schleheim, dem die Kaufbedingungen höchst günstig schienen, riet geradezu, Doktor Gräsler sollte schon für heuer auf die Winterpraxis im Süden verzichten, um eine so wichtige Angelegenheit gleich hier an Ort und Stelle weiter zu betreiben. Davon aber wollte Doktor Gräsler durchaus nichts wissen. Er könne seine Verbindlichkeiten in Lanzarote nicht so ohne weiteres lösen; und wenn er die Sache hier einem tüchtigen Manne, wie es der Baumeister doch sei, überließe, dürfe er sich wohl beruhigt fortbegeben. Nun erbot sich Sabine in ihrer einfachen Art, während Gräslers Abwesenheit die Arbeiten zu überwachen und ihm regelmäßig über den Fortgang Bericht zu erstatten. Die Eltern begaben sich bald, wie auf Verabredung, ins Haus, und Sabine ging mit dem Doktor, wie sie es gern zu tun pflegte, in der Tannenallee, die vom Haus zur Straße führte, langsam auf und ab. Sie hatte allerlei kluge Vorschläge für die Umgestaltung des alten Gebäudes bereit, die beinahe vermuten ließen, daß sie sich mit dieser Frage schon früher beschäftigt hatte. Für unerläßlich hielt sie übrigens die Anstellung einer Dame, einer wirklichen Dame, wie sie hinzufügte, als oberster Hausverwalterin; denn offenbar wäre es eine solche Oberaufsicht von gewissermaßen gesellschaftlichem Charakter, die der Anstalt im Laufe der letzten Jahre vor allem gefehlt habe. Nun war das Wort gesprochen – Doktor Gräsler fühlte es mit klopfendem Herzen – an das er anknüpfen durfte und mußte; ja schon glaubte er sich dazu bereit, als Sabine, wie wenn sie ihn selbst daran verhindern wollte, ungewohnt hastig ergänzte: »Das machen Sie am besten durch die Zeitung. Ich würde an Ihrer Stelle sogar eine Reise nicht scheuen, um eine geeignete Person für diesen wichtigen Posten zu gewinnen. Sie haben ja jetzt eine ganze Menge Zeit zur Verfügung. Ihre Patienten sind fast schon alle fort, nicht wahr? ... Wann gedenken Sie denn eigentlich abzureisen?«

»In – vier bis fünf Tagen. Vor allem muß ich aber natürlich[141] nach Hause, in meine Vaterstadt, meine ich. Meine Schwester hat kein Testament hinterlassen; es wird notwendig sein, so schreibt mir auch mein alter Freund Böhlinger, verschiedenes an Ort und Stelle ins reine zu bringen. Vorher aber will ich die Anstalt noch einmal bis ins kleinste besichtigen. Eine endgültige Entscheidung werde ich keineswegs treffen können, ehe ich mit meinem Freund Böhlinger gesprochen habe.« So redete er noch eine ganze Weile hin und her, vorsichtig und ungeschickt zugleich, und immer höchst unzufrieden mit sich selbst, denn er verhehlte sich nicht, daß Klarheit und Bestimmtheit sich in dieser Stunde besser geziemt hätten. Da Sabine völlig verstummt war, hielt er es für das Klügste, sich unter dem Vorwande eines Krankenbesuches zu verabschieden, ergriff Sabinens Hand, hielt sie eine Weile gefaßt, führte sie mit einemmal an seine Lippen und drückte einen langen Kuß darauf. Sabine ließ es geschehen; und als er aufblickte, schien ihm der Ausdruck ihrer Mienen befriedigter, ja heiterer als vorher. Er wußte, daß er nun nichts mehr sprechen durfte, ließ ihre Hand los, stieg in den Wagen, zog den Plaid über seine Knie und fuhr davon. Und als er sich umsah, stand Sabine noch immer da, im matten Lichtschein, regungslos. Doch es war, als schaute sie anderswohin, in die Nacht, ins Leere, keineswegs nach der Richtung, in der er ihr allmählich entschwand.

Quelle:
Arthur Schnitzler: Gesammelte Werke. Die erzählenden Schriften, 2 Bände, Band 2, Frankfurt a.M. 1961, S. 138-142.
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