Neuntes Kapitel

[161] Am nächsten Morgen, wie er es Sabinen in seinem Brief versprochen, begab sich Doktor Gräsler ins Krankenhaus, wurde vom Primarius willkommen geheißen und bat um die Erlaubnis, an der Visite teilnehmen zu dürfen. Er folgte ihr mit einer Aufmerksamkeit, die ihn selbst am meisten befriedigte, ließ sich nähere Aufschlüsse über Verlauf und Behandlung beachtenswerter Fälle geben und hielt auch mit eigenen abweichenden Ansichten nicht zurück, wobei er den einschränkenden Satz zu gebrauchen pflegte: »Soweit es eben uns Badeärzten gelingt, den Zusammenhang mit der wissenschaftlichen Medizin aufrechtzuerhalten.« Das Mittagessen nahm er mit einigen Sekundärärzten in einem bescheidenen Speisehaus gegenüber dem Spital und behagte sich so sehr in Gesellschaft der jungen Fachgenossen bei zünftigen Gesprächen, daß er sich vornahm, öfter wiederzukommen. Auf dem Heimweg besorgte er die Theaterbillette, zu Hause blätterte er in medizinischen Büchern und Zeitschriften um so zerstreuter, je weiter die Stunden vorrückten, teils in Erwartung einer Nachricht von Sabine, teils in unklaren Vorstellungen von dem wahrscheinlichen Verlauf des kommenden Abends. Um allen Möglichkeiten wohlgerüstet gegenüberzustehen, entschloß er sich, einen kalten Imbiß und ein paar[161] Flaschen Wein bereit zu halten, was ja am Ende nach keiner Richtung hin verpflichtete. Er verließ seine Wohnung, besorgte die nötigen Einkäufe, ließ sie nach Hause schaffen; und ein paar Minuten vor sieben Uhr spazierte er in der Wilhelmstraße auf und ab, diesmal nicht mit der romantischen Kopfbedeckung von gestern, sondern, um minder auffällig zu erscheinen, und auch, wie er sich einbilden wollte, um Katharinens Gefühle auf ihre Echtheit zu prüfen, mit dem altgewohnten steifen schwarzen Hut.

Er betrachtete eben eine Auslage, als Katharinens Stimme hinter ihm erklang: »Guten Abend, Herr Doktor.« Er wandte sich um, reichte ihr die Hand und freute sich der anmutigen, wohlgekleideten Erscheinung, in der gewiß jedermann eine gut erzogene Bürgerstochter vermutet hätte, wofür sie ja auch, wie sich Doktor Gräsler sofort sagte, als Tochter eines Staatsbeamten unbedingt zu gelten hatte.

»Was denken Sie wohl,« fragte sie gleich, »wofür mein Schwager Sie gestern gehalten hat?«

»Davon habe ich keine Ahnung ... Auch für einen Portugiesen etwa?«

»Nein, das nicht. Aber für einen Kapellmeister. Er sagte, Sie sehen geradeso aus wie ein Kapellmeister, den er einmal gekannt hat.«

»Nun, haben Sie ihn eines Besseren oder Schlechteren belehrt?«

»Das hab' ich getan. War es nicht recht von mir?«

»Oh, ich habe keinen Grund, aus meinem Beruf ein Geheimnis zu machen. Und haben Sie denn zu Hause auch gesagt, daß Sie heute mit mir ins Theater zu gehen beabsichtigen?«

»Das geht niemanden was an. Und es fragt mich auch keiner. Ich könnte doch wohl allein gehen, wenn es mir beliebte – nicht wahr?«

»Gewiß könnten Sie, aber es ist mir lieber, – so wie es sich eben gefügt hat.«

Sie blickte zu ihm auf, nach ihrer Gewohnheit die eine Hand an den Rand ihres Hutes führend, und sagte: »Alleinmacht es einem keine rechte Freude. Theater ist nur in Gesellschaft schön. Es muß jemand danebensitzen, der auch lacht, und den man angucken kann und –«

»Und? was wollten Sie sagen?«

»Und in den Arm kneifen, wenn es besonders schön wird.«[162]

»Hoffentlich wird's heute besonders schön – ich stehe jedenfalls zur Verfügung.«

Sie lachte leise und ging rascher, als fürchtete sie, den Anfang zu versäumen.

»Wir sind zu früh da,« sagte Doktor Gräsler, als sie vor dem Theatergebäude standen; »es ist beinahe noch eine Viertelstunde Zeit.«

Sie hörte nicht auf ihn. Leuchtenden Auges lief sie ihm voraus in den ersten Rang, kümmerte sich kaum um ihn, als er ihr behilflich war, die Jacke abzulegen; und erst als sie nebeneinander auf ihren Plätzen in der dritten Reihe saßen, traf ihn ein dankbarer Blick.

Doktor Gräsler suchte in dem mäßig besetzten Zuschauerraum nach bekannten Gesichtern. Hier und dort bemerkte er eines, dessen er sich zu erinnern vermochte. Ihn selbst, der im Dämmer saß, erkannte gewiß niemand.

Der Vorhang hob sich. Man gab einen neueren deutschen Schwank. Katharina unterhielt sich vortrefflich, und oft lachte sie auf, aber ohne sich nach ihrem Nachbar umzuwenden. Im ersten Zwischenakt kaufte er ihr eine Tüte Bonbons, die sie dankbar lächelnd entgegennahm. Während des zweiten Aktes nickte sie ihm bei Stellen, die ihr besonders lustig erschienen, vergnügt zu. Während das Spiel weiterging, dem Doktor Gräsler etwas zerstreut zuhörte, fühlte er von einer Loge her einen Operngucker auf sich gerichtet. Er erkannte Böhlinger, grüßte ihn unbefangen und erwiderte in keiner Weise den pfiffig fragenden Blick des alten Freundes. Als er im letzten Zwischenakt mit Katharina in den Wandelgängen hin und her spazierte, hing er sich plötzlich in ihren Arm, was sie ohne weiteres geschehen ließ, gab über die Leistungen einiger Darsteller seine Meinung ab, aber so eindringlich und leise, als gäbe es ein holdes Geheimnis zwischen ihm und seiner reizenden Begleiterin, und er war etwas enttäuscht, Böhlinger nicht zu begegnen. Das letzte Zeichen tönte, und als Gräsler nun wieder neben Katharina saß, rückte er so nahe an sie heran, daß ihre Arme sich berührten und da sie den ihren nicht regte, fühlte er, wie sich allmählich eine immer vertrautere Beziehung zwischen ihm und ihr hergestellt hatte, und in der Garderobe, während er ihr in die Jacke hineinhalf, durfte er es wohl wagen, ihr flüchtig Haare und Wangen zu streicheln.

Als sie vor dem Tore standen, sagte sie, unter dem Hut zu ihm[163] aufblickend, in einem Ton, der nicht ganz ernst gemeint klang: »Jetzt muß ich zusehen, daß ich nach Hause komme.«

»Aber vorher,« entgegnete er gewandt, »werden Sie mir, wie ich hoffe, liebes Fräulein Katharina, die Ehre erweisen, mein bescheidenes Mahl mit mir zu teilen.«

Sie sah ihn zuerst an wie fragend, dann nickte sie ernst und so rasch, als verstünde sie mehr, als er gesagt hatte. Und wie Liebende, deren Schritte die Leidenschaft beschleunigt, Arm in Arm, eilten sie durch die abendlichen Straßen seinem Hause zu.

Als sie in seiner Wohnung angelangt waren und er im Arbeitszimmer Licht gemacht hatte, blickte Katharina rings um sich und betrachtete Bilder und Bücher mit neugierigen Augen. »Gefallt es Ihnen bei mir?« fragte er. Sie nickte. »Es ist aber doch ein ganz altes Haus, nicht wahr?« – »Dreihundert Jahre gewiß.« – »Und wie neu alles aussieht!«

Gern erbot er sich, ihr die übrigen Räume zu zeigen, die in Ausstattung und Anordnung ihren Beifall fanden; doch als sie mit ihm ins Zimmer seiner verstorbenen Schwester trat, sah sie ihn befremdet an. »Sie sind doch nicht am Ende verheiratet,« sagte sie, »und Ihre Frau ist – verreist?« Er lächelte zuerst, dann strich er sich mit der Hand über die Stirn, und mit gedämpfter Stimme erklärte er ihr, daß dieses völlig neu eingerichtete Zimmer für seine Schwester bestimmt gewesen sei, die vor wenigen Monaten im Süden gestorben war. Katharina blickte ihm wie prüfend ins Auge; dann trat sie näher auf ihn zu, nahm seine Hand und strich schmeichelnd mit der ihren darüber hin, was ihm sehr wohl tat. Er drehte das Licht ab, sie begaben sich ins Speisezimmer, und jetzt erst ließ sich Katharina bewegen, Hut und Jacke abzulegen. Dann aber war sie rasch wie zu Hause. Als er sich anschickte, den Tisch zu decken, ließ sie es nicht zu, sondern bestand darauf, das sei ihre Sache. Auf ihren scherzenden Befehl nahm er auf einem entfernten Sessel Platz und sah ihr mit leiser Rührung zu, wie sie hausmütterlich alle Vorbereitungen für das Abendessen traf, und wie sie sich nicht nur hierbei, sondern auch draußen in Küche und Vorzimmer mit einer Geschicklichkeit zurechtfand, als hätte sie hier seit jeher Haus und Wirtschaft geführt. Endlich setzten sie sich beide an den Tisch, sie teilte vor, er schenkte ein, und sie aßen und tranken. Sie plauderte entzückt von dem verflossenen Abend, und war verwundert, von Gräsler zu hören, daß er selten Theater besuche, was für sie den Inbegriff aller irdischen Genüsse vorzustellen schien. Nun[164] gab er ihr Aufschluß darüber, wie schon der äußere Verlauf seines Daseins Vergnügungen solcher Art nicht häufig erlaube, daß er seinen Aufenthalt von Halbjahr zu Halbjahr verändere, daß er eben aus einer kleinen deutschen Bäderstadt zurückkäme, und daß er bald wieder übers Meer nach einer fernen Insel reisen müsse, wo es keinen Winter gäbe, wo hohe Palmen stünden, und man auf kleinen Wagen unter einer brennenden Sonne ins gelbe Land hineinfahre. Katharina fragte, ob es dort auch viele Schlangen gäbe. »Man kann sich vor ihnen schützen«, sagte er. – »Wann müssen Sie denn wieder dorthin?« – »Bald. Möchten Sie wohl mit?« fragte er wie im Scherz und fühlte zugleich in seiner, durch den rasch genossenen Wein erhöhten Stimmung, daß in diesem Scherz eine Ahnung von Wahrheit zitterte.

Sie erwiderte ruhig, aber ohne ihn anzublicken: »Warum nicht?« Er setzte sich näher zu ihr und legte seinen Arm leise um ihren Hals. Sie wehrte es ab, was ihm nicht übel gefiel. Er stand auf, entschloß sich, Katharina von nun an vollkommen als Dame zu behandeln, und bat höflich um die Erlaubnis, sich eine Zigarre anzünden zu dürfen. Dann, rauchend und im Zimmer auf und ab wandelnd, sprach er ernst und mit Beziehung von dem seltsamen Lauf der menschlichen Tage, deren man auch nicht einen vorher zu berechnen imstande sei, erzählte dann von allen Orten im Norden und im Süden, wohin sein Beruf ihn schon geführt hatte, und ließ dahingestellt, wohin er ihn wohl noch führen könnte; im Reden blieb er zuweilen neben Katharinen stehen, die Datteln und Nüsse aß, und legte sachte die Hand auf ihr braunes Haar. Katharina, die ihm mit Teilnahme, und zuweilen durch wißbegierige Fragen ihn unterbrechend, zuhörte, ließ manchmal ein sonderbares, wie spöttisches Aufleuchten der Augen merken, was den Doktor dann immer veranlaßte, noch beflissener und sachlicher in seinen Reden fortzufahren. Als die Wanduhr Mitternacht schlug, erhob sich Katharina, als wäre es das unwiderrufliche Zeichen zum Aufbruch; und Gräsler tat recht ungehalten, obwohl er in der Tiefe seiner Seele eine gewisse Erleichterung verspürte. Bevor Katharina ging, räumte sie den Tisch ab, stellte die Sessel zurecht und machte Ordnung im Zimmer. An der Türe ganz plötzlich hob sie sich auf die Fußspitzen und reichte dem Doktor die Lippen zum Kuß. »Weil Sie so brav gewesen sind«, sagte sie dann, und in ihren Augen blitzte es wieder sonderbar spöttisch auf. Sie gingen die Treppe hinunter im Schein einer flackernden Kerze, die Gräsler vorantrug. An der nächsten Ecke stand ein[165] Wagen, Gräsler stieg mit Katharina ein, sie lehnte sich an ihn, er umschlang ihren Hals; und so fuhren sie stumm durch die nächtlichen Straßen, bis, schon in der Nähe von Katharinens Wohnhaus, Gräsler das junge Mädchen heftiger an sich zog und ihr Mund und Wangen mit leidenschaftlichen Küssen bedeckte. »Wann seh' ich dich wieder?« fragte er, als der Wagen auf Katharinens Wunsch in einiger Entfernung von ihrem Wohnhaus hielt. Sie versprach ihm, morgen abend zu kommen. Dann stieg sie aus, bat ihn, sie nicht bis zum Tor zu begleiten, und verschwand im Schatten der Häuser.

Am nächsten Morgen verspürte Doktor Gräsler keinerlei Neigung, das Spital zu besuchen; doch als er später unter einer kühlen, klaren Herbstsonne, zu einer Tageszeit, da andere Leute ihrem Berufe nachgingen, im Stadtgarten herumspazierte, meldeten sich in ihm leise Regungen des Gewissens, als wäre er nicht nur sich selbst, sondern auch jemandem anderen Rechenschaft schuldig, und er wußte, daß diese andere Sabine war. Der Gedanke an die Anstalt des Doktor Frank drängte plötzlich mit Macht sich wieder auf; Gräsler überdachte allerlei bauliche Änderungen, erwog die Errichtung neuer Baderäume, entwarf Prospekte in Worten von überzeugender Kraft, wie sie ihm bisher noch niemals so verwegen zugeströmt waren, und schwor sich zu, daß er in derselben Stunde, in der von Sabinen eine Nachricht käme, zurückreisen und die Sache in Ordnung bringen werde. Wenn sie aber auch seinen letzten Brief unbeantwortet ließe, dann war alles zu Ende, zumindest zwischen ihm und ihr. Denn auch den Kauf des Sanatoriums ausschließlich von Sabinens Verhalten abhängig zu machen, dazu lag kein Grund vor, und es wäre wahrhaftig kein übler, ja sogar ein etwas verteufelter Gedanke, mit einer anderen Frau Direktorin in das herrlich umgestaltete Gebäude Einzug zu halten – womöglich mit einer, die ihn just nicht für einen egoistischen, pedantischen, langweiligen Gesellen hielt, wie Sabine es tat. Und wenn es ihm etwa beliebte, Fräulein Katharina als Begleiterin auszuersehen, dann dürfte ihn wohl niemand mehr für einen Pedanten oder Philister halten. Er ließ sich auf einer Bank nieder. Kinder liefen an ihm vorüber. Im gelblichen Laub flössen herbstliche Strahlen hin. Von einer fernen Fabrik her tönte das Mittagszeichen des Nebelhorns. Heute abend, dachte er. Heute abend! Steigt die Jugend noch einmal auf? Ist es denn noch an der Zeit für solche Abenteuer? Sollte man nicht doch auf der Hut sein? Fortreisen? Gleich ganz fort – das nächste Schiff[166] nehmen und nach Lanzerote? Oder zurück – zu Sabine? Zu dem Wesen mit der reinen Seele? Hm! Wer weiß, wie sich ihr Leben gestaltet hätte, wenn ihr im gegebenen Moment der Richtige begegnet wäre – nicht gerade ein unverschämter Tenor oder ein kopfhängerischer Medizinmann ... Er erhob sich und begab sich zunächst zum Mittagessen in den vornehmen Gasthof, wo man durch die Fachsimpelei der jungen Kollegen nicht behelligt wurde wie gestern; über alles andere konnte man nachher schlüssig werden.

Quelle:
Arthur Schnitzler: Gesammelte Werke. Die erzählenden Schriften, 2 Bände, Band 2, Frankfurt a.M. 1961, S. 161-167.
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