II

[51] Da lag sie vor ihm, die lange, lange Straße im hellen Sonnenschein des Morgens, und er eilte den Häusern entlang weiter. Da kam die Kreuzung, endlich – und da ... da war er links gegangen, wieder durch eine schöne, aber viel weitere Straße! Er kannte sie natürlich, aber er erinnerte sich nicht, nachts hier gewesen zu sein. Nun freilich, es war ja ganz dunkel gewesen. Und nun entsann er sich eines wichtigen Moments ... er hatte sich gebückt. Er wußte es ganz deutlich ... aber wann hatte er sich gebückt? Wie weit war er gegangen? Minutenlang? Eine[51] Stunde lang? ... Ruhe, Ruhe, sagte er sich wieder, indem er stehenblieb. Er stand da und ließ das Leben der Stadt um sich fluten ... Sommerlich angetan spazierten sie daher, jung und alt, alle freuten sich des neuen schönen Tages. Niemand kümmerte sich um ihn ... Er versuchte zu pfeifen, irgendein Ding, das ihm just über die Lippen kam. Er konnte nicht, die Kehle war ihm zugeschnürt. »Warum bist du so aufgeregt« – sagte er sich dann ... »du bist links gegangen – eine gute Weile ... und hast dich dann gebückt. Also unten, irgendwo unten muß es liegen ... das ist ja schon sehr viel ... so viel zu wissen ... denn gestern um die Zeit warst du noch ein armer Schlucker ... Aber ... wozu bückt man sich ... Um etwas zu vergraben ... Ich habe es also vergraben ... oh ... ich weiß ja noch mehr ... es rauschte durch die Bäume ... In einem Garten also hab' ich's vergraben ... Nein ... es war kein Garten ... es hallte wider ... es war ein Brunnen ... ja, ein Brunnen, und darum rauschte es ... und ich stieg hinunter, und darum hallte es wider.« Er ging immer dieselbe Straße auf und ab und sagte wohl hundert Mal' vor sich her ... »Es rauschte ... und es hallte wider ...« Nach einer Weile hielt er inne ... »Und wenn es ein Brunnen war ... wo ... wo? – Aber nein, es ist zum Lachen, es war kein Brunnen ... gewiß nicht! Und wie gut, daß es kein Brunnen war, denn ich könnte ihn doch nicht finden, das ist gut ...« Er lachte. – Die Zähne klapperten ihm, er glaubte toll zu werden. Dann fing er wieder an: »Es rauschte und hallte wider ...« Er stand vor einer Branntweinschänke ... Er ging hinein und ließ sich ein Gläschen füllen ... Durch die Fenster sah er wieder auf die Straße, wo die Menschen teilnahmslos und fröhlich vorüberzogen ... Er trank und trank ... »Nun muß es mir ja einfallen ... denn im Rausch sieht der Mensch klarer ... Gewiß ... heute nacht fand ich den Weg ja im Dunkeln ... nur weil ich betrunken war ... ich werde ihn jetzt wiederfinden.« Als er hinaustrat, schwankte er ein wenig, aber sein Herz war leichter ... »Nun bin ich ja lustig«, murmelte er ... »Lala, tralala ... lustig ... Und warum bin ich lustig? ... Weil ich fühle, wie mir die Erinnerung zurückkommt ... Links ... ja links! Da bin ich ... und ich ging ... irgendwohin, wo es rauschte und widerhallte ... Nur lustig ... Du wirst schon finden, Weldein!«

Er war an das Ende der Straße gelangt und befand sich am Eingang eines großen Parkes; ein leichter Wind zog durch die Blätter ...[52]

»Siehst du, Weldein ... es rauscht schon ...« Er taumelte vorwärts ... über einen breiten Kiesweg, zu dessen Seiten hohe Bäume im Blätterschmuck prangten. Auf den grünen Bänken saßen Kindsmägde und junge Mütter; alte Herren, Studenten schritten vorbei; Kinder spielten mit Reifen und Steinen. Weldein nahm einen Seitenweg; er kam bald auf einen freien Wiesenplan, auf den die Sonne glühte ... Der Rasen war nicht eingezäunt; im Abendschatten pflegten hier die Kinder zu spielen; jetzt lagen da einige junge Burschen, die schliefen. Über diese Wiese schwankte Weldein weiter. Das Gezweig bewegte sich leicht; ganz leise säuselte es in den Blättern ... »Es rauscht, es rauscht ...«, lallte Weldein. Dann sank er hin auf den heißen Rasen, und ein dumpfer Schlummer befiel ihn. Nach kurzer Zeit schon setzte er sich auf und starrte vor sich hin ... Sein Kopf war freier, und er begann von neuem nachzusinnen. »Es ist wohl Mittag vorbei, und gestern war ich ein armer Schlucker ... Es kommt darauf an, nun ja, natürlich, darauf kommt es an, daß ich ruhig genug werde, um mich an alles zu erinnern. Unsinn! Erinnern muß ich mich am Ende ... Jetzt ist's zu heiß ... man kann nicht nachdenken, wenn einem die Mittagssonne auf den Schädel brennt ... Also Ruhe ... und warten, bis es kühler wird.« Er stand auf und spazierte mit gemächlichem Gange durch die Alleen des Parkes. Manchmal war es ihm, als ob er sich auf die Erde werfen, mit den Nägeln im Sande wühlen müßte. Er knirschte mit den Zähnen; er biß sich in die Lippen. Einigemal setzte er sich auch auf eine Bank; doch hielt es ihn nicht lange. Es war ihm, als müßte er schreien und fluchen. Plötzlich stürzte er davon – weg aus diesem Park, wo die Bäume unaufhörlich rauschten. Er begriff nicht, was er so lange darin gemacht hatte ... Er wanderte durch die Gäßchen und Gassen; bald langsam, bald schnell; er dachte nicht daran, daß er noch keinen Bissen gegessen hatte ... Die halbe Stadt durcheilte er kreuz und quer, Tränen der Wut im Auge, und als der Abend kam, stand er wieder in jener langen Straße vor dem Branntweinladen, todmüde. Und wieder ging er hinein, setzte sich zu einem kleinen Tischchen und ließ sich ein Glas vom allerstärksten geben. Und wie er es vor sich stehen hatte und an die Lippen fuhren wollte, da konnte er nicht trinken; die Tränen flössen ihm über die Wangen, und das Gesicht in den Händen, schluchzte und weinte er wie ein Mann, der sein Liebstes verlor! Anfangs schaute man ihn wohl an; das hübsche Mädchen, das beim Schanktische stand, und auch die Leute, die sich in dem[53] Laden neue Kräfte oder einen neuen Rausch holten; aber ernstlich kümmerte es ja keinen, und sie ließen den guten Mann da ruhig weinen, wie es ihm beliebte. Nach einer geraumen Weile wischte sich Weldein die Tränen aus dem Gesicht und trank seinen Branntwein aus ... Er ließ sich einen frischen geben, und dann wieder einen; er trank wohl eine Stunde lang. Auf der Straße brannten die Laternen; die Nacht brach herein. Ein dünner, warmer Regen fiel nieder. Das Wagengerassel wurde schwächer, der Menschenstrom spärlicher. Und Weldein trat wieder hinaus, er nahm den Hut vom Kopfe, ließ den Regen über seine Haare rieseln. Die Abendluft kühlte ihm die Stirne ... Langsam schritt er weiter ... so ruhig hatte er sich seit dem Morgen nicht gefühlt ... »Nun, an die Arbeit«, sagte er sich ... »Nun wirst du's finden.« Und zum hundertsten Mal wiederholte er sich ... »links – und es rauschte und hallte wider ...« Er schüttelte den Kopf ... »Das ist nicht alles ... das ist zu wenig.« Er schaute vor sich hin ... und plötzlich glitt ein Schein von Hoffnung über sein Gesicht ... »Vom Gebäude des Klubs aus bin ich hingegangen ... warten wir noch eine Weile, und dann machen wir's ebenso wie gestern. Ja, ja, so muß es gehen, und nun ruhig ... ruhig.« Und wieder spazierte er hin und her; nahm seine kurze Pfeife aus dem Sack, stopfte sie und zündete sie an ... Die Zeit wird schon vergehen ... Und Weldein durchkreuzte wieder die Stadt. »Sollte wohl einen Augenblick nach Hause schauen ... Ach, lassen wir's lieber ... Hm ... aber essen ... Im Gasthaus, wo mich gestern die Herren trafen? Nein, nein, später, wenn der Hunger kommt ...«

Die Minuten und Viertelstunden schlichen hin ... endlos dehnte sich die Zeit. Ab und zu hatte Weldein auf einer Bank für eine kurze Weile geruht; dann war er wieder aufgestanden; die Mitternacht wollte nicht kommen. In den Straßen wurde es menschenleer ... Der Regen fiel heftiger als früher ... Dann wurde es wieder lebhaft in der Stadt; die Wagen fuhren zahlreicher, man begegnete auch mehr Fußgängern; die Theater waren aus. Also zehn Uhr vorbei ... Noch zwei Stunden bis dahin ... Und was tun bis zwölf Uhr ... Es zog ihn wieder unwiderstehlich in jene lange Straße. Essen? Nein, er konnte nicht. Aber trinken! ja ... Das beruhigt doch wieder ein wenig. Also wieder in die Schänke! Doch nein, nicht in die, wo man ihn schon kannte ... Lieber in irgendein Wirtshaus, um irgendeine Kleinigkeit zu essen. Es trinkt sich besser dabei ... So ... hier.[54] Und er ging in ein kleines Wirtshaus, ließ sich eine Speise auftragen und trank Wein dazu. Er aß langsam; er wartete von Bissen zu Bissen. Über der Eingangstür war eine Uhr ... sie war wohl stehengeblieben ... Nein, nein, die Zeiger rückten nur so langsam. Draußen hörte er eine Turmuhr schlagen. Er zählte ... neun ... zehn ... elf ... Oh ... elf Uhr! und da ist eben dreiviertel vorüber ... Dieser Wirt! Natürlich. Damit man länger sitzt und mehr verzehrt. Er ließ sich eine Zeitung geben, las sie vom Anfang bis zu Ende durch, mit brennenden Augen, mit dem festen Willen, nur an das zu denken, was er las, aber er faßte kein Wort auf ... Er zahlte und ging. Die Uhr zeigte ein Viertel nach elf – es war also halb zwölf ... Einsam, tot die Straße. Langsam begab er sich nach dem Klubhaus ... Da war es – da lag es vor ihm; das Tor weit offen, die Fenster erleuchtet, glänzend inmitten der von matten flackernden Laternenlichtern erhellten Straße ... Das Herz klopfte ihm, als er, auf der gegenüberliegenden Seite stehend, das Gebäude betrachtete. Es kam ihm wie etwas Riesiges vor, wie eine steinerne Macht. Es schaute ihn an, wie er es anschaute ... Die strahlenden Fenster waren hundert glühende Augen, die ihn verschlangen. Und der Augenblick trat ihm wieder ins Gedächtnis ... Der große Augenblick, in dem er die Bank sprengte und ein Gleichberechtiger war unter all den vornehmen Herren, die mit ihm am selben Tische saßen ... Da oben, ja ... Das waren die Fenster. Und jetzt fort ... noch einmal, noch einmal das Geld gewinnen!

Er ging bedächtig ... er bog um die Ecke ... die lange, lange Straße ... weiter, noch weiter ... links ... er versuchte an nichts zu denken ... so ... gut. Da muß es gewesen sein ... und jetzt wieder eine andere Straße ... gut ... hier war es ... denn hier zog es ihn weiter ... so ... und nun ... ja ... dort ... es rauschte ... es rauscht ... wahrhaftig ... was ist das ... ah, der Fluß ... war es hier vielleicht ... gewiß ... nein ... ja! Da stand er ... Vor ihm, leise schäumend, glitzernd von den Laternen, die an seinen Ufern stehen, der Strom, der die Stadt durchschneidet. Und drüben wieder Häuserreihen ... und darüber der wolkenbedeckte Nachthimmel, von dem unaufhörlich der warme Regen niedertropfte. Seltsam mischte sich das Geräusch der fallenden Tropfen mit dem schläfrigen Brausen der Wellen. Also da? ... Und er schritt dem Ufer entlang; links ... dann kehrte er um ... rechts ... und dann hielt er inne an einem mächtigen steinernen Löwen, der ein Standbild am Ende[55] einer Brücke vorstellte. Er betrat die Brücke, über die eben ein schwerer Wagen rollte ...

Das Geräusch verlor sich. Stille ringsum, nur der Regen und die Wogen da unten. Und am Geländer lehnend schaute er hinab; ratlos, bebend ... »Was hat mich hierher geführt ... Mußte ich nicht hierher? Und jetzt?« Immer blickte er hinab ... es schwindelte ihn. Plötzlich ein schauerlicher Gedanke, daß er zusammenzuckte. »Vielleicht ... hab' ich's ins Wasser geworfen!« Und er begann wie ein Kind zu wimmern. »Ins Wasser geworfen ... weil ich betrunken war ... Betrunken hab' ich mich! Und warum denn? Da oben! Und warum hab' ich's denn verstecken wollen? Vor meiner Frau? Vor dem Kind? Hätten sie mir's denn gestohlen? War ich denn verrückt! Was hab' ich denn getan? ... Was hab' ich denn getan? ... Ich weiß doch, daß mich das Trinken verwirrt macht ... Da drinnen, da unten das Geld! Spring nach, Weldein, du Dummkopf, du Trunkenbold, du Schuft!«

Und er hielt sich am Geländer fest, während er schrie und raste ... »Verstecken! ich hab' es verstecken müssen ... Im Strom ... Auf dem Grund? ... Nein! Ich kann es nicht hineingeworfen haben! So närrisch ist der ärgste Narr nicht! ... Aber wo ist es? ... Wo? Wo? Wo? ...«

Der Regen ließ nach ... am Himmel zeigten sich dunkelblaue Streifen, und einige Sterne blickten nieder. In tiefem Schlummer lag die nächtliche Stadt; ab und zu ein Ton aus der Ferne, der kaum zu deuten war; einmal ein verklingender Gesang von heimkehrenden Zechern ... dann wieder alles ruhig; und unter ihm, von ihm weg, den verhüllten Bergen zuströmend, die gleichmäßig rauschenden Wogen ... Lange, sehr lange lehnte er noch da; die Augen waren ihm wieder trocken; er selbst war ruhig geworden ... Und wieder ein Hauch von Leben ... Von der anderen Seite der Brücke kam es ... Karren, von feisten Gäulen gezogen; zuerst einer, dann zwei oder drei zu gleicher Zeit; die Bauern kamen vom Land zu Markte ... Eine nahe Turmuhr schlug ... eins ... zwei ... Und wieder tiefer, großer Frieden. Weldein verließ die Brücke, und das Rauschen verklang allmählich hinter ihm ... Als er es gar nicht mehr hören konnte, wollte er wieder dahin zurück ... Aber er schüttelte den Kopf und ging seines Weges weiter ... gedankenlos vorwärts ... Er sah auf die Pflastersteine zu seinen Füßen ... er begann seine Schritte zu zählen ... Er zählte immer weiter, kam bis hundert – dreihundert – sechshundert. Dann hörte er auf. Es kam wieder[56] über ihn; er mußte wieder daran denken ... »Und kann man denn so weiterleben?« fragte er sich. »Und was ist's jetzt mit mir? Bin ich reich? Bin ich arm? Werde ich es finden? Muß ich's nicht einmal finden? Natürlich, ich muß ja ... Es wird die Stunde kommen, wo ich's wieder weiß. Wenn ich im Bett liege ... oder morgen ... in einigen Tagen ... wenn ich wieder ruhig bin ...« Und vorwärts ... der heimischen Vorstadt zu. Ein grauer Morgenschimmer im Ost ... Bald erwacht alles wieder zum neuen Tage, zur neuen Arbeit. »Und ich?« dachte Weldein. »Auch ich wieder zur Arbeit –? Ich, der Millionär? ... Wieder auf die Leiter steigen und anstreichen? ... Und heute früh noch hat mir die ganze Welt gehört? ...« Da vor ihm lag das Haus, in dem er wohnte ... Er erschrak, da er es mit einem Mal sah ... dort oben sein Fenster offen, nur die Vorhänge heruntergelassen, die sich leicht bewegten. – Und Weldein lehnte sich eine Weile ans Haustor, dann nahm er seinen Schlüssel und sperrte die Türe auf. Schauerlich klang es ihm, als sie ins Schloß fiel. Hinter ihm alle Hoffnung, alles Glück! Langsam stieg er die Treppe hinauf ... zurück ins alte Elend.

Quelle:
Arthur Schnitzler: Gesammelte Werke. Die erzählenden Schriften, 2 Bände, Band 1, Frankfurt a.M. 1961, S. 51-57.
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