VIII

[72] Zwei Männer gingen miteinander die Stufen zum Klub hinauf ... Graf Spaun und Franz Weldein.

»Sind Sie denn wirklich in der rechten Stimmung?« fragte der Graf ...

»Sie wundern sich darüber?«

»Begreiflicherweise! Bedenken Sie nur, Sie kommen von dem kaum geschlossenen Grab Ihres Vaters zu mir gelaufen und beschwören mich, Sie heute hierher, an diese Stätte des Glanzes und der Freude zu führen.«

»Für mich ist sie nicht das! Für mich ist sie der Ort meiner Studien ... Und gerade dieses Bild liegt mir am Herzen, ich muß es malen, muß es bald malen ...«

»Sie haben doch schon vieles fertig?«

»Skizzen ... ja ... es fehlt mir noch etwas ... irgend etwas.« Sie waren unterdessen in den Vorsaal gekommen und begaben sich geradewegs in den Spielsaal.

»Und was fehlt Ihnen?« fragte der Graf.

»Sie werden vielleicht lachen.«

»Nie über eine Künstlerlaune, mein Lieber.« Beide waren durch die Türe des Spielsaales getreten und standen ganz nahe dem grünen Tische, an dem die Spieler saßen.

»Nun, Herr Graf«, setzte der junge Weldein fort, während sein Auge auf die Karten blickte. »Die Begeisterung zu dem Bilde fehlt mir noch!«

»So? ... Das ist doch nicht sonderbar? Sie werden die glückliche Stunde schon einmal finden!«

»Wann?«

»Das kann ich nicht wissen«, sagte der Graf lächelnd.

»Aber ich weiß es«, stieß der Künstler so heftig hervor, daß ihn der Graf befremdet ansah.

»Nun?« fragte er.

»Ich selbst, ja, Herr Graf; ich selbst muß einmal empfinden, was diese Menschen hier empfinden.«

»Wie?«

»Verstehen Sie mich recht, Herr Graf! Leider – ich weiß es ja, liegt in meiner ganzen Kunst etwas Krankhaftes ... Sie wissen – ich kann eigentlich nur gewisse Dinge malen, und dies ist doch nicht ganz in der Ordnung.«

»Ja, ja«, sagte der Graf, »das ist wohl ein bißchen verrückt.«[73]

»Verrückt«, betonte Weldein, »ja, das ist das Wort – und ich bin so verrückt«, er stieß die Silben hervor ... »ja, so verrückt, hier mitspielen zu wollen ...«

Graf Spaun blickte ihn fest und ruhig an ... »Hier?«

»Ja ...«

»Hm!«

»Ich muß von diesem Feuer die Funken mitnehmen können ... Sie verstehen mich doch; diese ... gerade diese Funken brauche ich! ...«

»Ihre Idee, mein Freund, ist schwer durchführbar ... Denn an sich würde ich sie nicht gar so verrückt rinden ... Ja ... es steckt sogar eine richtige Überlegung darin ... Aber Sie wissen, so gerne Sie hier als der talentvolle Künstler gesehen sind, von dem man weiß, daß er für sein Werk Atem und Leben sucht, ebenso ...«

»Wie? Herr Graf? Ein Wort von Ihnen würde nicht genügen, um mir für – für einen Abend nur auch das Gastrecht an diesem Tische zu gewähren ...«

»Nun, gewiß könnte man mir das nicht abschlagen ... aber ...«

»Was hält Sie noch ab?« Glühenden Auges verfolgte der Maler unterdessen das Hin- und Herfliegen der Riesensummen, welche auf die Karten gesetzt wurden.

»Sie sehen ja selbst, mein junger Freund, hier wird um Beträge gespielt ...«

»Oh, Herr Graf ... Das wäre kein Grund.«

»Kein Grund? Ich glaube doch.«

»Ich besitze noch ebensoviel Geld als ...«, und er sah dem Grafen scharf ins Auge, »als mein Vater an diesem Tisch gewonnen.« Der Graf blieb einen Augenblick sprachlos ... Dann trat er einen Schritt zu rück und sagte leise und hastig zu dem jungen Weldein: »Seit wann wissen Sie?«

»Seit seiner letzten Stunde!« – »Also doch. Ich dachte es ja! Anfangs meinte ich, er hätte es verspielt und vertan ... Also versperrt! Ein Geizhals geworden!«

»Nein, Herr Graf ... nicht das ... es war anders ... Später will ich Ihnen davon erzählen ... genug, daß ich geerbt habe, daß ich es besitze.« Ohne weiter ein Wort zu sprechen, kam der Graf mit dem Künstler auf den Spieltisch zu und sagte: »Meine Herren, unser junger Freund, der Maler Weldein, den Sie alle kennen ... möchte um die Ehre bitten, einmal an Ihrer Partie teilnehmen zu können.«[74]

»Mit Vergnügen ... gewiß, bitte sehr, hierher ...«, so klang es ihm entgegen. Und da saß er. Es war wahr!

Hier an dem grünen Tische! Eine wonnige Aufregung überkam ihn ... Er zog seine Banknoten hervor und legte sie vor sich hin ... Da ... etwas flog vor ihn hin ... eine Karte. Er wollte sie nehmen. »Entschuldigen Sie«, sagte der Geber ... »Ihr Nebenmann.«

Ach ja, natürlich ... es kam noch nicht an ihn ... der Nebenmann verlor. Das war ein Glück für ihn, für Weldein. Er durfte schon eine größere Summe wagen, denn nun war die Wahrscheinlichkeit des Gewinnes für ihn eine weit größere. So ... da vor ihm lag seine Karte.

Er verlor ... Ach, der erste Satz! Der ist bald zurückerobert ... Er setzte wieder und einen etwas höheren Betrag als das erste Mal. Die Karte Weldeins verlor wieder. Ein dritter Satz ... wieder höher ... Und wieder verloren.

Die Mitspieler sahen den jungen Mann erstaunt an; sie hatten ihn nicht für so reich gehalten ...

Er selbst saß mit lächelnder Miene, aber mit einem eigentümlich starren Blick da ... Graf Spaun sagte ihm leise: »Nun haben Sie wohl schon Anregung genug. Wie?«

Aber der junge Mann rührte sich nicht ... er spielte weiter und verlor ununterbrochen. Ein paar Zuschauer hatten sich gesammelt; man war erstaunt über das kühne Spiel des Malers. Bald war es allen klar, daß er eine große Erbschaft gemacht hatte und daß ein guter Teil davon verloren war. Da sagte Graf Spaun: »Wollen Sie sich nun nicht ein bißchen ausruhen?«

Aber Weldein spielte weiter. Ein Satz nach dem anderen ging verloren. Man fing an, ihn zu bedauern, man schüttelte den Kopf über seine wahnsinnigen Sätze. Sein Unglück war unfaßbar ... Nur einen Augenblick schien es, als wollte sich die Sache wenden. Doch nein. Das alte Unglück fing gleich wieder an. Und er lächelte immerfort, zum Schluß lachte er sogar hell auf! Und jetzt erhob er sich. Es war zu Ende. »Guten Abend, meine Herren«, sagte er. Man machte ihm Platz, wie einem Menschen, vor dessen Unglück man Achtung haben muß. Er schritt dem Ausgang zu ... Man schaute ihm nach. Der Graf folgte ihm. Weldein eilte die Stiege hinunter, die Straße entlang. An der Ecke holte ihn der Graf ein.

»Weldein ... Weldein!«

»Ah – Sie, Herr Graf!«[75]

»Wohin eilen Sie?«

»Ich weiß nicht ...«

»Machen Sie mir keine Narrheiten. Verstehen Sie! Keine Narrheiten. Es ist ja weiter nichts verloren.«

»Nein, gar nichts!«

»Gewonnenes Geld! Ja, wenn's erworben, sauer erarbeitet gewesen wäre ...«

Der junge Künstler antwortete nichts, ging rasch vorwärts, den Weg durch die lange Gasse nehmend ... wie damals sein Vater. Mit Mühe nur vermochte es der Graf, an seiner Seite zu bleiben. Er wiederholte: »Wohin laufen Sie denn eigentlich? Kommen Sie doch mit mir ... noch ein Glas trinken.«

»Sie sind sehr liebenswürdig, Herr Graf; aber wenn Sie mir folgen wollen ... ich muß an eine ganz besondere Stelle, ich muß dahin.«

»Wohin?«

»Wohin? Dorthin, wo mein Vater an jenem Abend das Geld vergraben hatte.«

»Also doch vergraben!«

»Ja ... und er vergaß die Stelle.«

»Vergaß?«

»Ja – vergaß sie. Zwanzig Jahre lebte er so hin, als ein reicher Mann, der nur nicht wußte, wo er sein Geld liegen hatte. Köstlich, nicht? Und auf dem Totenbette fiel es ihm ein.«

»Wie? Was ist das für ein Märchen?«

»Nein, Wahrheit, Herr Graf! Und dieses Leben! Die ewige Qual ... als reicher Mann darben zu müssen ... Und ich! Plötzlich fiel es mir zu! Und ich stand da als ein Unabhängiger ...«

»Wohin führen Sie mich denn?«

»Kommen Sie nur, wir sind bald dort!«

»Ja, was wollen Sie denn jetzt dort?«

»Eine Laune.«

Eine Weile eilten sie schweigend weiter. Sie waren am Ufer angelangt.

»Da – die Brücke.«

»Nun?« fragte der Graf.

»Folgen Sie mir nur!« Und er eilte den Weg hinab unter die Brücke ... Er warf sich neben dem Pfeiler zu Boden und rief aus: »Da! Da!«

»Wie –? –«

»Hier war es ... Hier grub ich es aus. Und ... Sehen Sie ... Sehen Sie doch?«[76]

»Nun, was? Ich sehe, daß die Steine feucht sind von dem aufspritzenden Wasser.«

»Wie? Da sehen Sie hin!« Und er hatte sich auf ein Knie niedergelassen, mit der Hand auf die Steine greifend.

»Nun, was soll ich denn sehen?«

»Da liegt ja wieder Geld?«

»Wie?«

»Oh, welche Menge! Welche Summen!«

»Aber was fällt Ihnen ein!«

»Oh ...«, und er wühlte mit den Nägeln im Sand zwischen den Steinen ... »ich bin ja wieder reich.«

»Weldein! Seien Sie nicht toll!«

»Ei, welch ein Glück – welch ein Glück«, und er steckte sich Sand und kleine Steine in die Tasche.

»Aber ... Weldein! Sie sind nicht bei sich! Fassen Sie sich doch! Bedenken Sie, daß Sie auf der Welt noch etwas zu tun haben! Sammeln Sie Ihre Gedanken! Ein großes Werk wartet Ihrer! Ihr Bild.« Aber der Maler hörte nicht auf ihn. Er wühlte und schob sich die Steine in die Tasche. Der Graf faßte ihn an den Schultern und rief: »Genug! Kommen Sie! Kommen Sie!« Langsam erhob sich Weldein. »Oh, ich komme ... Führen Sie mich zurück ... Herr Graf!«

»Wohin?«

»Nun, zurück in den Klub! Nun kann ich wieder spielen!«

Ratlos stand der andere da. War's denn möglich! Hatte ihn der Verlust wahnsinnig gemacht? Sie waren beide wieder emporgestiegen und standen neben der Brücke. Der Graf faßte die Hand des jungen Künstlers und sagte: »Beruhigen Sie sich.« – »Es ist spät ... wir müssen rasch zurück«, entgegnete Weldein.

»Aber –!«

Mit einem Ruck hatte sich Weldein losgemacht und stürzte davon durch die menschenleeren Gassen, in rasender Eile. Der Graf folgte ihm unter lauten Rufen. Nach einigen Minuten war der junge Mann so weit, daß ihn sein Verfolger nicht mehr einholen konnte. Wohin war der Wahnsinnige nur gerannt? Am Ende wirklich zum Klub hin ... Und wieder beschleunigte der Graf seine Schritte. »Es wird vorübergegangen sein«, dachte er auf dem Wege. »Die plötzliche Aufregung ist wohl begreiflich. Aber wo ist er nur hin? Und werde ich ihn wirklich noch finden! Wenn er sich selbst ... Nein!« Und er eilte. Bald war er in die Nähe des Klubgebäudes gelangt. Da kam ihm der andere schon entgegen.[77]

»Da sind Sie ja, Weldein ... Nun?«

»Oh, Herr Graf, Herr Graf!« Und der Ton seiner Stimme klang weinerlich.

»Was ist Ihnen denn? Sie sind wieder ruhig. Nicht wahr?«

»Oh, Herr Graf! Sehen Sie.« Und er leerte den Sand und die Steine aus seiner Tasche.

»Nun?« fragte der andere erregt.

»Sehen Sie denn nicht! Steine ... Sand!«

»Ja ... Sie wissen es jetzt! Nicht wahr! Wie froh bin ich! Ich hatte wahrhaftig Angst um Sie! ... Nun ist es ja wieder gut.«

»Oh, Herr Graf!«, und wieder jammerte er – »mein Geld, mein Geld!«

»Nun ja – schlimm, freilich – es ist verloren!«

»Verloren!«

»Aber Sie haben anderes, Besseres als Geld.«

»Mein Geld!«

»Aber stille doch.« Es kamen Leute vorbei durch die nächtliche Straße und schauten sich um.

»Ich hab' es vergraben! ich hab' es vergraben!«

»Wie? Was fällt Ihnen denn wieder ein?«

»Vergraben! Versteckt, und ich weiß nicht wo!«

»Verspielt! Weldein ... Hören Sie doch, verloren haben Sie es im Klub!«

»O nein, o nein, ich hab' soviel, soviel gewonnen! Und hab' es versteckt und weiß nicht wo. Oh, mein armes Weib! Mein Kind! Mein Franz!« Der Graf stand erschauernd da ... Ihm war, als wenn sich mit einem Male die Züge des Malers seltsam veränderten, als wäre es wirklich der alte Weldein, der da mit trockenen Augen in die Luft starrte und leise wimmerte: »Mein Sohn, mein armer Sohn!«

Quelle:
Arthur Schnitzler: Gesammelte Werke. Die erzählenden Schriften, 2 Bände, Band 1, Frankfurt a.M. 1961, S. 72-78.
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