Achtes Kapitel

[868] Frau Golowski kam aus dem Hause. Georg sah sie vom obern Ende des Gartens aus auf die Veranda treten. Erregt eilte er ihr entgegen, aber schon wie sie ihn von ferne gewahrte, schüttelte sie den Kopf.

»Noch nicht?« fragte Georg.

»Der Professor meint«, erwiderte Frau Golowski, »eh es dunkel wird.«

»Eh es dunkel wird«, sagte Georg und sah auf die Uhr. »Und jetzt ist es erst drei.«

Sie reichte ihm teilnahmsvoll die Hand, und Georg blickte ihr in die guten etwas übernächtigen Augen. Die durchsichtigen weißen Vorhänge vor Annas Fenster wurden eben leicht zurückgeschlagen. Der alte Doktor Stauber erschien in der Fensteröffnung, warf Georg einen freundlich-beruhigenden Blick zu, verschwand wieder und die Vorhänge fielen zu. Im großen Mittelzimmer am runden Tische saß Frau Rosner. Georg nahm von der Veranda aus nur die Umrisse ihrer Gestalt wahr; ihr Gesicht war ganz umschattet. Wieder drang ein Wimmern, dann ein lautes Stöhnen aus dem Zimmer, in dem Anna lag. Georg starrte zum Fenster hin, wartete eine Weile, dann wandte er sich ab und ging, zum hundertstenmal heute, den Weg hinauf zum obern Gartenende. Offenbar ist sie schon zu schwach, um zu schreien, dachte er; und das Herz tat ihm weh. Zwei volle Tage und zwei volle Nächte lag sie in Wehen; der dritte neigte sich zum Ende, und nun sollte es noch dauern, bis der Abend kam! Schon am Abend des ersten Tages hatte Doktor Stauber einen Professor beigezogen, der gestern zweimal dagewesen und heute seit Mittag im Hause war. Während Anna auf ein paar Minuten eingeschlummert[868] war und die Wärterin an ihrem Bette wachte, war er mit Georg im Garten auf und ab gegangen und hatte versucht, ihm den Fall in seiner ganzen Eigentümlichkeit zu erläutern. Zur Besorgnis sei vorläufig kein Grund vorhanden, immer noch höre man die Herztöne des Kindes vollkommen deutlich. Der Professor war ein noch ziemlich junger Mann, mit langem, blonden Bart, und seine Worte träufelten lind und gütig, wie Tropfen eines schmerzstillenden Medikaments. Der Kranken sprach er zu wie einem Kind, strich ihr über Stirn und Haare, streichelte ihre Hände und gab ihr Schmeichelnamen. Von der Wärterin hatte Georg erfahren, daß dieser junge Arzt an jedem Krankenbett von gleicher Hingebung und Geduld erfüllt wäre. Welch ein Beruf, dachte Georg, der sogar während dieser drei schlimmen Tage sich einmal für ein paar Stunden nach Wien geflüchtet, der es vermocht hatte, auch heute Nacht, während Anna sich in Schmerzen wand, oben in der Mansarde volle sechs Stunden tief und traumlos zu schlafen.

Er ging längs der abgeblühten Fliedersträucher, riß Blätter ab, zerrieb sie in der Hand, warf sie zur Erde. Jenseits der niedern Büsche im andern Garten ging eine Dame im schwarz-weiß gestreiften Morgenkleid. Sie schaute Georg ernst und wie mitleidig an. Ach ja, dachte Georg, die hat natürlich auch das Schreien Annas gehört, vorgestern, gestern und heute. Der ganze Ort wußte ja von den Dingen, die hier vorgingen; auch die jungen Mädchen aus der geschmacklosen, gotischen Villa, für die er einmal den interessanten Verführer bedeutet hatte; und geradezu komisch war es, daß ein fremder Herr mit rötlichem Spitzbart, der zwei Häuser weit wohnte, ihn gestern im Ort plötzlich verständnis- und hochachtungsvoll gegrüßt hatte.

Merkwürdig, dachte Georg, wodurch man sich bei den Leuten beliebt machen kann. Nur Frau Rosner ließ durchblicken, daß sie Georg, wenn sie ihm schon nicht die Hauptschuld an der Schwierigkeit des Falles beimaß, jedenfalls für ziemlich gefühllos hielte. Er nahm es der guten und gedrückten Frau nicht übel. Sie konnte natürlich nicht ahnen, wie sehr er Anna liebte. Es war noch nicht lange her, daß er selber es wußte.

An jenem Ankunftsmorgen, da Georg nach langem, stummem Weinen sein Haupt aus ihrem Schoß erhoben, da hatte sie keine Frage an ihn gerichtet, aber in ihren schmerzlich erstaunten Augen las er, daß sie die Wahrheit ahnte. Und warum sie nicht fragte, das glaubte er zu verstehen. Sie mußte ja fühlen, wie ganz[869] sie ihn wieder hatte, wie er gerade von jetzt an ihr besser gehörte, als jemals vorher. Und wenn er ihr in den nächsten Stunden und Tagen von der Zeit erzählte, die er fern von ihr verbracht, und unter all den Frauennamen, die er nannte, flüchtig aber unverschweigbar jener ihr neue, verhängnisvolle erklang, da lächelte sie wohl in ihrer leicht spöttischen Art; aber kaum anders, als wenn er von Else sprach oder von Sissy, oder von den kleinen blaugekleideten Mädchen, die ins Klavierzimmer hereingeguckt hatten, wenn er spielte.

Seit zwei Wochen wohnte er in der Villa, fühlte sich wohl und war in guter und ernster Arbeitsstimmung. Auf dem Tischchen, wo vor kurzem noch Theresens Nähzeug gelegen war, breitete er jeden Morgen Partituren, musiktheoretische Werke, Notenpapiere aus und beschäftigte sich damit, Aufgaben der Harmonielehre und des Kontrapunkts zu lösen. Oft lag er am Waldessaum auf einer Wiese, las in irgend einem Lieblingsbuch, ließ Melodien in sich klingen, träumte vor sich hin, war vom Rauschen der Bäume und vom Glanz der Sonne beglückt. Nachmittags, wenn Anna ruhte, las er ihr vor oder plauderte mit ihr. Oft sprachen sie auch über das kleine Wesen, das nun bald zur Welt kommen sollte, mit Zärtlichkeit und Voraussicht; doch niemals über ihre eigene, nächste und fernere Zukunft. Aber wenn er an ihrem Bette saß, oder Arm in Arm mit ihr im Garten auf und abging, oder an ihrer Seite auf der weißen Bank unter dem Birnbaum saß, wo die leuchtende Stille der Spätsommertage über ihnen ruhte, da wußte er, daß sie nun für alle Zeit fest aneinandergeschlossen waren, und daß selbst die zeitweilige Trennung, die bevorstand, gegenüber dem sichern Gefühl dieser Zusammengehörigkeit keine Macht mehr über sie haben könnte.

Erst seit die Schmerzen über sie gekommen waren, schien sie ihm entrückt, wohin er ihr nicht folgen konnte. Gestern noch war er stundenlang an ihrem Bett gesessen und hatte ihre Hände in den seinen gehalten. Sie war geduldig gewesen wie immer, hatte sich sorglich erkundigt, ob er nur seine Ordnung im Hause habe, hatte ihn gebeten zu arbeiten, spazieren zu gehen wie bisher, da er ihr ja doch nicht helfen könnte, und ihn versichert, daß sie ihn noch mehr liebe, seit sie leide. Und doch, Georg fühlte es, sie war in diesen Tagen nicht dieselbe, die sie gewesen. Besonders wenn sie aufschrie so wie heute Vormittag in den schlimmsten Schmerzen , da war ihre Seele so weit weg von ihm, daß ihn schauerte.[870]

Er war dem Hause wieder nah. Aus Annas Zimmer, vor dessen Fenster die Vorhänge sich leise bewegten, kam kein Laut. Der alte Doktor Stauber stand auf der Veranda. Georg eilte hin, mit trockener Kehle. »Was ist?« fragte er hastig.

Doktor Stauber legte ihm die Hand auf die Schulter: »Es geht ganz gut.« Ein Stöhnen kam von drin, wurde lauter, wurde ein wilder, wütender Schrei. Georg strich sich über die feuchte Stirn, und mit bitterm Lächeln sagte er zum Doktor: »Das heißen Sie, es geht ganz gut?«

Stauber zuckte die Achseln: »Es steht geschrieben, mit Schmerzen sollst du ...«

In Georg lehnte sich etwas auf. Er hatte nie an den Gott der Kindlich-Frommen geglaubt, der als Erfüller armseliger Menschenwünsche, als Rächer und Verzeiher kläglicher Menschensünden sich offenbaren sollte. Dem Unnennbaren, das er jenseits seiner Sinne und über allem Verstehen im Unendlichen ahnte, konnte Beten und Lästern nichts anderes sein, als arme Worte aus Menschenmund. Nicht als die Mutter nach unsinnig-martervollem Leid, nicht, als in einem für sein Begreifen schmerzenlosen Hingang der Vater starb, hatte er sich des Glaubens vermessen, daß sein Unglück im Weltenlauf mehr bedeutete, als das Fallen eines Blattes. Keinem unerforschlichen Ratschluß hatte er in feiger Demut sich gebeugt, nicht töricht gemurrt gegen ein ungnädiges, gerade über ihn verhängtes Walten. Heute zum erstenmal war ihm, als ginge irgendwo in den Wolken ein unbegreifliches Spiel um seine Sache. Der Schrei drinnen war verklungen, und nur Stöhnen war vernehmbar.

»Und die Herztöne?« fragte Georg.

Doktor Stauber sah an Georg vorbei. »Vor zehn Minuten waren sie noch deutlich zu hören.«

Georg wehrte sich gegen einen furchtbaren Gedanken, der aus den Tiefen seiner Seele hervorgejagt kam. Er war gesund, sie war gesund, zwei junge kräftige Menschen ... konnte so etwas denn möglich sein? Doktor Stauber legte ihm nochmals die Hand auf die Schulter. »Gehen Sie doch spazieren«, sagte er, »wir rufen Sie schon, wenn's Zeit ist.« Und er wandte sich ab.

Georg blieb noch einen Augenblick auf der Veranda stehen. In dem großen Zimmer, das in Spätnachmittagsdämmer zu versinken begann, an der Wand auf dem Sofa, ganz in sich zusammengesunken, sah er Frau Rosner sitzen. Er entfernte sich, spazierte rund um das Haus herum und begab sich dann über die Holzstiege[871] in seine Mansarde. Er warf sich aufs Bett, schloß die Augen; nach ein paar Minuten stand er auf, ging im Zimmer hin und her, gab es aber wieder auf, da der Boden krachte. Er trat auf den Balkon. Auf dem Tisch lag die Partitur des »Tristan« aufgeschlagen. Georg blickte in die Noten. Es war das Vorspiel zum dritten Akt. Die Klänge tönten ihm im Ohr. Meereswellen schlugen dumpf an ein Felsenufer, und aus trauriger Ferne klang die wehe Melodie des englischen Horns. Er sah über die Blätter weg in den silberweißen Glanz des Tages. Sonne lag überall, über Dächern, Wegen, Gärten, Hügeln und Wäldern. Dunkelblau breitete der Himmel sich hin, und Ernteduft stieg aus den Tiefen. Wie stand es heute vor einem Jahr mit mir? dachte Georg. Ich war in Wien, ganz allein. Ich ahnte noch nichts. Ich hatte ihr ein Lied geschickt ... »Deinem Blick mich zu bequemen ...« Aber ich dachte kaum an sie ... Und jetzt liegt sie da unten und stirbt ... Er erschrak heftig. Er hatte denken wollen ... sie liegt in Wehen, und auf die Lippen gleichsam hatte es sich ihm gestohlen: sie stirbt. Aber warum war er denn erschrocken? Wie kindisch. Als gäb es Ahnungen solcher Art! Und wenn wirklich Gefahr da wäre und die Ärzte sich entscheiden müßten, so hatten sie natürlich vor allem die Mutter zu retten. Darüber hatte ihn ja Doktor Stauber vor wenigen Tagen erst aufgeklärt. Was ist denn ein Kind, das noch nicht gelebt hat? Nichts. In irgend einem Augenblicke hatte er es gezeugt, ohne es gewünscht, ohne nur an die Möglichkeit gedacht zu haben, daß er Vater geworden sein könnte. Wußte er denn, ob er es nicht vielleicht auch vor wenigen Wochen geworden war, in jener dunkeln Wonnestunde, hinter geschlossenen Läden ... auch damals Vater, ohne es gewollt, ohne nur an die Möglichkeit gedacht zu haben; und vielleicht, wenn es geschehen war, ohne es jemals zu erfahren?

Er hörte Stimmen, sah hinunter; der Kutscher des Professors hatte ein Dienstmädchen am Arm gefaßt, das sich nur wenig sträubte. Auch hier wird vielleicht zu einem neuen Menschenleben der Grund gelegt, dachte Georg und wandte sich angewidert fort. Dann trat er ins Zimmer zurück, füllte sich seine Zigarettentasche sorgfältig aus der Schachtel, die auf dem Tisch stand, und plötzlich kam ihm seine Aufregung unbegründet, ja kindisch vor. Und es fiel ihm ein: Wie Anna jetzt, so lag auch meine Mutter einmal da, eh ich zur Welt kam. Ob mein Vater auch in solcher Angst herumgegangen ist? Ob er heute hier wäre, wenn er noch lebte? Ob ich's ihm überhaupt gesagt hätte? Ob all[872] das geschehen wäre, wenn er lebte? Er dachte an schöne, sorgenlose Sommertage am Veldeser See. Sein behagliches Zimmer in des Vaters Villa schwebte in seiner Erinnerung auf, und in dumpfer, beinahe traumhafter Weise wurde ihm die kahle Mansarde mit dem krachenden Fußboden, in der er sich eben befand, zum Bilde seiner ganzen jetzigen Existenz, gegenüber dem sorgen- und verantwortungslosen Dasein von einst. Er erinnerte sich eines ernsten Zukunftsgesprächs, das er vor ein paar Tagen mit Felician geführt hatte. Gleich darauf kam ihm die Unterredung mit einer Frau vom Land in den Sinn, die sich mit dem Anerbieten gemeldet hatte, das Kind in Pflege zu nehmen. Mit ihrem Mann besaß sie ein kleines Gütchen nahe der Bahn, nur eine Stunde weit von Wien, und im vorigen Jahr war ihr das eigene Töchterl gestorben. Das Kleine sollte es gut bei ihr haben, hatte sie versprochen, so gut, als wenn es gar nicht bei fremden Leuten wäre. Und wie Georg daran dachte, war ihm plötzlich, als stände ihm das Herz still. Eh es dunkel ist, wird es da sein ... das Kind. Sein Kind, auf das schon irgend eine Fremde wartete, um es mit sich zu nehmen. Er war so müde von den Aufregungen der letzten Tage, daß ihn die Knie schmerzten. Er erinnerte sich ähnlicher körperlicher Empfindungen aus früherer Zeit, vom Abend nach der Maturitätsprüfung und von der Stunde in der er Labinskis Selbstmord erfahren hatte. Vor drei Tagen, als die Wehen anfingen, wie anders, wie freudig und erwartungsvoll war ihm da zumut gewesen! Jetzt spürte er nichts, als ein Abgeschlagensein ohnegleichen, und immer unangenehmer empfand er den muffigen Geruch der Mansarde. Er zündete sich eine Zigarette an und trat wieder auf den Balkon hinaus. Die warme, stille Luft tat ihm wohl. Auf dem Sommerhaidenweg lag noch die Sonne, und vom Friedhof her, über die Mauer, schimmerte ein vergoldetes Kreuz.

Er hörte unter sich ein Geräusch. Schritte? Ja, Schritte und auch Stimmen. Er verließ den Balkon, das Zimmer, lief über die knarrende Holztreppe hinab. Eine Tür ging, eilige Schritte waren im Flur. Im nächsten Moment stand er auf der untersten Stufe, Frau Golowski gegenüber. Sein Herz stand ihm stille. Er öffnete den Mund ohne zu fragen. »Ja«, nickte sie, »ein Bub«.

Er faßte ihre beiden Hände, spürte, wie er über das ganze Gesicht lachte, ein Strom von Glück, wie er so mächtig und heiß ihn niemals erwartet, rann durch seine Seele. Plötzlich merkte er, daß die Augen der Frau Golowski nicht so hell leuchteten, wie sie[873] wohl hätten tun müssen. Der Strom des Glücks in ihm staute zurück. Irgendetwas schnürte ihm die Kehle zusammen. »Nun?« fragte er. Und drohend beinah: »Lebt's?« »Es hat einen Atemzug getan ... der Professor hofft ...« Georg schob die Frau beiseite, war mit drei Schritten im großen Mittelzimmer, und wie gebannt blieb er stehen. Der Professor, im langen, weißen Leinenkittel, hielt ein kleines Wesen in den Armen und wiegte es hastig hin und her. Georg blieb starr. Der Professor nickte ihm zu und ließ sich nicht stören. Mit durchdringenden Augen betrachtete er das kleine Wesen auf seinen Armen. Er legte es auf den Tisch hin, über den ein weißes Linnen gebreitet war, nahm mit den Gliedmaßen des Kindes heftige Bewegungen vor, rieb ihm die Brust und Antlitz, dann hob er es in die Höhe, einigemale hintereinander, und immer wieder sah Georg, wie der Kopf des Kindes schwer auf die Brust niedersank. Dann legte der Arzt das Kind auf das Linnen hin, horchte an der Brust, erhob sich, ließ die eine Hand auf dem kleinen Körper liegen und winkte mit der andern Georg sanft zu sich heran.

Georg, unwillkürlich den Atem anhaltend, trat ganz nahe hin. Er sah zuerst den Doktor an und dann das kleine Wesen, das auf dem weißen Linnen lag. Das hatte die Augen ganz offen, sonderbar große, blaue Augen, wie die von Anna waren. Das Gesicht sah anders aus, als Georg erwartet hatte, nicht verrunzelt und häßlich wie das eines alten Zwerges, nein; es war wirklich ein Menschenantlitz, ein schönes, stilles Kindergesicht; und Georg wußte, daß diese Züge das Ebenbild seiner eigenen waren.

Der Professor sagte leise: »Schon seit einer Stunde hab ich die Herztöne nicht mehr gehört.«

Georg nickte. Dann fragte er heiser: »Wie geht's ihr

»Ganz gut. Aber Sie dürfen jetzt nicht hinein, Herr Baron.«

»Nein«, erwiderte Georg und schüttelte den Kopf. Er starrte den bläulich schimmernden, regungslosen, kleinen Körper an und wußte, daß er vor der Leiche seines Kindes stand. Trotzdem sah er wieder den Arzt an und fragte: »Nichts mehr zu machen?«

Der zuckte die Achseln.

Georg atmete tief auf und wies nach der geschlossenen Schlafzimmertür. »Weiß sie schon ?« fragte er den Arzt.

»Noch nicht. Seien wir vorläufig zufrieden, daß es vorbei ist. Sie hat viel zu leiden gehabt, die Arme. Ich bedaure nur, daß es schließlich für nichts gewesen ist.«

»Sie haben es erwartet, Herr Professor?«[874]

»Ich hab es gefürchtet seit heute Morgen.«

»Und wieso ... wieso?«

Leise und mild erwiderte der Arzt: »Ein sehr seltener Fall, wie ich Ihnen vorher schon sagte.«

»Sie sagten mir ...?«

»Ja. Ich versuchte Ihnen zu erklären, daß diese Möglichkeit Es ist nämlich vom Nabelstrang erwürgt worden. Kaum ein bis zwei Prozent aller Geburten haben diesen Ausgang.« Er schwieg. Georg starrte das Kind an. Ganz recht, der Professor hatte ihn schon vorbereitet; er hatte es nur nicht ernst genommen. Frau Rosner stand neben ihm mit hilflosen Augen. Georg reichte ihr die Hand, und sie sahen einander an, wie Schwergeprüfte, die das Unglück zu Gefährten macht. Dann ließ sich Frau Rosner auf einen Sessel an der Wand nieder.

Der Professor sagte zu Georg: »Ich will jetzt noch einmal nach der Mutter sehen.«

»Mutter«, wiederholte Georg und sah ihn an.

Der Arzt schaute weg.

»Sie wollen's ihr sagen?« fragte Georg.

»Nein, nicht gleich. Sie wird übrigens darauf gefaßt sein. Sie hat im Lauf des Tages einigemal gefragt, ob es noch lebt. Es wird auch nicht so furchtbar auf sie wirken, wie Sie fürchten, Herr Baron ... gerade in den ersten Stunden und Tagen nicht. Sie dürfen nicht vergessen, was sie durchgemacht hat.«

Er drückte Georgs schlaff herabhängende Hand und ging. Georg stand regungslos da, starrte immerfort das kleine Wesen an, und es erschien ihm wie ein Gebilde von ungeahnter Schönheit. Er berührte Wangen, Schultern, Arme, Hände, Finger. Wie rätselhaft vollendet dies alles war. Und da lag es nun, gestorben, ohne gelebt zu haben, bestimmt, von einer Dunkelheit durch ein sinnloses Nichts hindurch in eine andre einzugehen. Da lag dieser süße, kleine Leib, der fürs Dasein fertig war und sich doch nicht regen konnte. Da schimmerten große, blaue Augen, wie in Sehnsucht das Licht des Himmels in sich einzutrinken und todesblind, eh sie einen Strahl gesehen. Da öffnete sich wie durstig ein kleiner, runder Mund, der doch nie an den Brüsten einer Mutter trinken durfte. Da starrte dieses bleiche Kindergesicht, mit den fertigen Menschenzügen, das nie den Kuß einer Mutter, eines Vaters empfangen und spüren sollte. Wie liebte er dieses Kind! Wie liebte er es jetzt, da es zu spät war. Eine schnürende Verzweiflung stieg in seine Kehle. Er konnte nicht weinen. Er sah um sich.[875] Niemand war im Zimmer, und daneben war es ganz still. Er hatte keine Sehnsucht in jenes andre Zimmer zu gehen und keine Angst davor; er fühlte nur, daß es etwas Unsinniges gewesen wäre. Sein Auge kehrte auf das tote Kind zurück, und plötzlich durchzuckte ihn die bebende Frage, ob es denn auch wahr sein müßte? Ob nicht alle sich irren konnten? Der Arzt so gut, wie der Unerfahrene. Er hielt seine flache Hand vor die geöffneten Lippen des Kindes und ihm war, als hauchte etwas Kühles ihm entgegen. Dann hielt er beide Hände über die Brust des Kindes, hin und wieder war ihm, als spielte leicht bewegte Luft um den kleinen Leib. Aber er fühlte da wie dort: Nicht Hauch des Lebens hatte ihn angeweht. Nun beugte er sich nieder, und seine Lippen berührten die kühle Stirn des Kindes. Etwas Seltsames, nie Gefühltes rieselte ihm durch den Körper bis in die Zehenspitzen. Er wußte es nun: Das Spiel dort oben war für ihn verloren, sein Kind war tot. Da erhob er langsam das Haupt und wandte sich fort. Die Gartenhelle lockte ihn ins Freie. Er trat auf die Veranda, sah auf der Bank an die Wand gelehnt Doktor Stauber und Frau Rosner sitzen. Beide stumm. Sie sahen ihn an. Er wandte sich weg, als kennte er sie nicht, und trat in den Garten. Der Schatten des Hauses fiel schräg über den Rasen hin; weiter oben lag noch Sonne, doch stumpf und wie ohne Kraft die Luft zu durchleuchten. Woran wollte ihn dies Licht nur erinnern, das Sonne war und doch nicht glänzte, dieses Blau in der Höhe, das Himmel war und ihn doch nicht segnete? Woran die Stummheit dieses Gartens, die ihm vertraut und tröstlich sein sollte und die ihn heute wie etwas Fremdes und Ungastliches empfing? Allmählich fiel ihm ein, daß ihn vor kurzem in einem Traum solch ein schwerer, früher nie geahnter Dämmerschein umgeben und seine Seele mit unverständlicher Traurigkeit erfüllt hatte. Was nun? sagte er vor sich hin, suchte nach keiner Antwort und wußte nur, daß irgend etwas Unvorhergesehenes und Unabänderliches geschehen war, das ihm für alle Zeiten das Bild der Welt verändern mußte. Er dachte des Tages, an dem sein Vater gestorben war. Ein wilder Schmerz hatte ihn damals überfallen; doch er hatte weinen können, und die Erde war nicht mit einemmal dunkel und leer geworden. Sein Vater hatte doch gelebt, war einmal jung gewesen, hatte gearbeitet, geliebt, Kinder gehabt, Freuden und Schmerzen erfahren. Und die Mutter, die ihn geboren, hatte nicht umsonst gelitten. Und wenn er selbst heute hätte sterben müssen, so früh es gewesen wäre, er hatte doch ein Dasein hinter sich, erfüllt von[876] Licht und Tönen, Glück und Leiden, Hoffnung und Angst, durchflutet von allem Inhalt der Welt. Und wenn Anna heute dahingegangen wäre, in der Stunde, da sie einem neuen Wesen das Leben gab, sie hätte gleichsam ihr Los erfüllt und ihr Ende hätte seinen grauenvollen, aber tiefen Sinn gehabt. Doch das, was seinem Kind geschehen war, war sinnlos, widerwärtig, ein Hohn von irgendwoher, wohin man keine Frage und keine Antwort senden konnte. Wozu, wozu das alles? Was hatten nun diese vorhergegangenen Monate zu bedeuten gehabt, mit all ihren Träumen, Sorgen und Hoffnungen? Denn er wußte mit einem Male, daß die Erwartung der wunderbaren Stunde, in der sein Kind geboren werden sollte, immer, Tag für Tag, auch am nüchternsten, leersten und leichtfertigsten, in der Tiefe seiner Seele gewesen war; und er fühlte sich beschämt, verarmt, elend.

Er stand oben am Gartengitter und sah zum Waldesrande auf, zu seiner Bank, auf der er oft geruht hatte, und ihm war, als wäre auch Wald und Wiese und Bank früher sein Besitz gewesen und er müsse nun auch das hergeben, wie so vieles andere. Im Winkel des Gartens stand ein dunkelgraues, vernachlässigtes Lusthäuschen mit drei kleinen Fensterhöhlen und einer schmalen Türöffnung. Er hatte es nie leiden mögen und nur einmal auf ein paar Augenblicke betreten. Heute zog es ihn hinein. Er setzte sich auf die rissige Bank hin und kam sich plötzlich geborgen und beruhigt vor, als wäre nun alles, was geschehen, weniger wahr oder in irgendeiner unbegreiflichen Weise rückgängig zu machen. Doch schwand dieser Wahn bald wieder dahin, er verließ den unwirtlichen Raum und trat ins Freie. Ich muß jetzt wohl ins Haus zurück, dachte er müde und faßte es doch nicht ganz, daß in dem dunkeln Zimmer, das er von hier aus hinter der Veranda, wie eine unergründliche Finsternis liegen sah, der Leichnam seines Kindes ruhen sollte. Langsam ging er hinab. Auf der Veranda stand Annas Mutter mit einem Herrn. Georg erkannte den alten Rosner. Im Überzieher stand er da, den Hut hatte er auf den Tisch vor sich hingelegt, fuhr sich mit einem Taschentuch über die Stirn, und es zuckte um seine rotgeränderten Augen. Er ging Georg entgegen und drückte ihm die Hand.»Das ist ja leider anders gekommen«, sagte er, »als wir alle erwartet und gehofft hatten.«

Georg nickte. Dann erinnerte er sich, daß der alte Herr in den letzten Wochen mit dem Herzen nicht ganz in Ordnung gewesen war, und erkundigte sich nach seinem Befinden.[877]

»Ich danke der Nachfrage, Herr Baron, es geht mir etwas besser, nur das Stiegensteigen macht einige Beschwerden.«

Georg merkte, daß die Glastüre zum Mittelzimmer geschlossen war. »Entschuldigen Sie«, sagte er zu dem alten Rosner, schritt geradenwegs auf die Türe los, öffnete sie und schloß sie rasch wieder hinter sich zu. Frau Golowski und Doktor Stauber standen in der Nähe des Tisches und sprachen miteinander. Er trat zu ihnen, sie schwiegen plötzlich.

»Nun?« fragte er dann.

Doktor Stauber sagte: »Wir haben über ... die Formalitäten gesprochen. Frau Golowski wird so gut sein und all das zu besorgen.«

»Ich danke«, erwiderte Georg und reichte Frau Golowski die Hand. »All das«, dachte er. Ein Sarg, ein Begräbnis, Meldung beim Gemeindeamt: geboren ein Sohn der ledigen Anna Rosner, gestorben am gleichen Tage. Nichts vom Vater natürlich. Ja, seine Rolle war erledigt. Heut erst? War sie's nicht von der Sekunde an gewesen, da er zufällig Vater geworden war?

Er sah auf den Tisch hin. Das Linnen lag über die kleine Leiche hingebreitet. O wie rasch, dachte er bitter. Soll ich's niemals wiedersehen dürfen? Einmal wird's wohl noch erlaubt sein. Er zog das Tuch von der Leiche ein wenig fort und hielt es in die Höhe gefaßt. Er sah ein blasses Kindergesicht, das ihm längst bekannt war, nur daß die Augen seither von irgendwem zugedrückt worden waren. Die alte Standuhr in der Ecke tickte. Sechs Uhr. Es war noch keine Stunde vergangen, seit sein Kind geboren und gestorben war; und schon stand diese Tatsache so unwidersprechlich fest, als hätte es gar nicht anders sein können.

Er fühlte sich leicht an der Schulter berührt.

»Sie hat es mit Ruhe aufgenommen«, sagte Doktor Stauber, der hinter ihm stand.

Georg ließ das Linnen über das Antlitz des Kindes sinken und wandte den Kopf nach der Seite. »Sie weiß also schon ...?«

Doktor Stauber nickte. Frau Golowski hatte sich abgewandt.

»Wer hat's ihr gesagt?« fragte Georg.

»Man hat es ihr gar nicht zu sagen brauchen«, erwiderte Doktor Stauber. »Nicht wahr?« wandte er sich an Frau Golowski.

Diese berichtete: »Wie ich zu ihr hineingegangen bin, hat sie mich nur angeschaut, und da hab ich gleich gesehen, daß sie es schon weiß.«

»Und was hat sie gesagt?«[878]

»Nichts. Gar nichts. Sie hat ihre Augen zum Fenster hin gewandt und ist ganz still gewesen. Wo Sie hingegangen sind, Herr Baron, hat sie mich gefragt, und was Sie machen.«

Georg atmete tief auf. Die Türe von Annas Zimmer öffnete sich. Der Professor, im schwarzen Rock, trat heraus. »Sie ist ganz ruhig«, sagte er zu Georg. »Sie können zu ihr hinein.«

»Hat sie mit Ihnen darüber gesprochen?« fragte Georg.

Der Professor schüttelte den Kopf. Dann sagte er: »Ich muß jetzt leider in die Stadt. Sie entschuldigen, nicht wahr? Ich hoffe, es wird weiter gut gehen. Morgen früh bin ich jedenfalls wieder da. Leben Sie wohl, lieber Herr Baron.« Er drückte ihm teilnahmsvoll die Hand. »Sie fahren mit mir hinein, Doktor Stauber, nicht wahr?«

»Ja«, sagte Doktor Stauber. »Ich will nur Anna noch Adieu sagen.« Er ging.

Georg wandte sich an den Professor. »Darf ich Sie etwas fragen?«

»Bitte.«

»Ich möchte nämlich gern wissen, Herr Professor, ob das vielleicht nur eine Einbildung ist. Mir kommt nämlich vor« und er hob das Tuch wieder von der kleinen Leiche auf »als wenn dieses Kind gar nicht so aussähe wie ein Neugeborenes. Schöner gewissermaßen. Mir ist, als wenn die Gesichter von Neugeborenen eigentlich faltiger, greisenhafter sein müßten. Ich weiß nicht mehr, hab ich einmal selbst eins gesehen oder hab ich nur davon gelesen.«

»Sie haben nicht unrecht«, erwiderte der Professor, »gerade in Fällen dieser Art, auch bei glücklicherem Ausgang, sind die Züge der Kinder nicht entstellt, ja manchmal geradezu schön.« Er betrachtete das kleine Antlitz mit fachlicher Teilnahme, nickte ein paarmal »schade, schade ...« ließ das Tuch wieder fallen, und Georg wußte, daß er das Antlitz seines Kindes zum letztenmal gesehen hatte. Wie hätte es nur heißen sollen? Felician ... Leb wohl, kleiner Felician.

Doktor Stauber trat aus dem Nebenzimmer und schloß leise die Türe. »Anna erwartet Sie«, sagte er zu Georg. Dieser gab ihm die Hand, reichte sie auch dem Professor noch einmal, nickte Frau Golowski zu und trat ins Nebenzimmer.

Die Wärterin erhob sich von Annas Seite und verschwand aus dem Zimmer. Der Tür gegenüber hing ein Spiegel in dem Georg einen jungen, eleganten Herrn erblickte, der blaß war und lächelte. Anna lag in ihrem Bett, das frei in der Mitte stand, mit[879] großen, klaren Augen, die Georg entgegensahen. Wie steh ich vor ihr da, dachte er. Er rückte mit einiger Umständlichkeit den Sessel nah an ihr Bett, setzte sich, ergriff ihre Hand, führte sie an seine Stirn und küßte dann lang, beinahe inbrünstig ihre Finger.

Anna sprach zuerst. »Du warst im Garten?« fragte sie.

»Ja, ich war im Garten.«

»Ich habe dich von oben herunterkommen gesehen vor einiger Zeit.«

»Du sollst lieber gar nichts reden, Anna. Strengt es dich nicht an?«

»Die paar Worte, o nein. Aber du kannst mir ja was erzählen ...«

Er hielt ihre Hand immer in der seinen und betrachtete ihre Finger. Dann sagte er: »Weißt du eigentlich, daß da oben am Ende des Gartens ein kleines Lusthäuschen steht? Ja, natürlich weißt du ... ich meine nur, wir haben es nie so recht bemerkt.«

»In den ersten Tagen war ich einigemale drin«, sagte Anna. »Schön ist es nicht.«

»Nein, wahrhaftig.«

»Hast du heut vormittag was gearbeitet?« fragte sie dann.

»Was fällt dir ein, Anna.«

Sie schüttelte ganz leicht den Kopf. »Und gerade in der letzten Zeit ist es dir so gut damit gegangen.«

»Ja, wirklich wahr, Anna, du hast dich sehr rücksichtslos benommen.« Er lächelte, sie blieb ernst.

»Du warst gestern in der Stadt?« fragte sie.

»Du weißt ja.«

»Hast du Briefe vorgefunden? Ich meine, wichtige?«

»Du sollst gewiß nicht so viel reden, Anna, ich erzähl dir schon alles. Also: Ich hab keine Briefe von Bedeutung vorgefunden. Auch aus Detmold ist keiner gekommen. Dieser Tage geh ich übrigens wieder zu Professor Viebiger. Aber wir können wirklich ein andermal über diese Dinge reden, glaubst du nicht? Und was das Arbeiten anbelangt ... in den Tristan hab ich heute morgens noch ein wenig hineingesehen. Den kenn ich aber wirklich bis ins kleinste. Ich würde mich getrauen, ihn heut zu dirigieren, wenn's drauf ankäme.«

Sie schwieg und sah ihn an.

Er erinnerte sich des Abends, an dem er mit ihr in der Münchener Oper gesessen hatte, wie eingehüllt in einen durchsichtigen Schleier von geliebten Klängen. Aber er sprach nichts davon.[880]

Es dämmerte. Die Züge Annas begannen ihm zu verschwimmen.

»Fährst du heute noch in die Stadt?« fragte sie.

Er hatte gar nicht daran gedacht. Jetzt aber war ihm, als winkte damit eine Art von Erlösung. Ja, er wollte hinein. Was konnte er auch hier heraußen noch tun? Aber er antwortete nicht gleich.

Anna begann wieder: »Ich denke, du wirst vielleicht deinen Bruder sprechen wollen.«

»Ja, das möcht ich recht gern. Und du wirst wohl bald schlafen?«

»Ich hoffe.«

»Wie müd mußt du sein«, sagte er, indem er ihre Hand streichelte.

»Nein, es ist etwas anderes. Ich bin so wach ... ich kann dir gar nicht sagen, wie wach ich bin. Mir ist, als wär ich in meinem ganzen Leben nicht so wach gewesen. Und weiß zugleich, daß ich so tief schlafen werde, wie noch nie ... wenn ich nur erst die Augen geschlossen habe.«

»Ja gewiß wirst du das. Aber nun darf ich doch wohl noch eine Weile bei dir bleiben? Am liebsten möcht ich so lange hier sitzen, bis du eingeschlafen bist.«

»Nein, Georg, wenn du da bist, kann ich ja doch nicht einschlafen. Aber bleib nur noch ein bißchen. Das ist schon gut.«

Er hielt immer ihre Hand und blickte zum Garten hinaus, der nun ganz im Abendschatten lag.

»Du warst nicht sehr viel im Auhof oben dieses Jahr?« fragte Anna gleichgültig, als gälte es nur irgend etwas zu reden.

»O ja, täglich beinahe. Hab ich dir's denn nicht gesagt? Ich denke, Else wird James Wyner heiraten und mit ihm nach England gehen.«

Er wußte, daß sie nicht an Else dachte, sondern an eine ganz andere. Und er fragte sich: meint sie etwa, das sei schuld?

Ein lauer Hauch kam von draußen geweht. Kinderstimmen klangen herein. Georg blickte hinaus. Er sah die weiße Bank unter dem Birnbaum schimmern und dachte daran, wie Anna ihn dort oben erwartet hatte, im wallenden Kleid, die fruchtschweren Äste über sich, umflossen vom sanften Wunder ihrer Mütterlichkeit. Und er fragte sich: war es schon damals bestimmt, daß es so enden müßte? Oder war es am Ende schon in dem Augenblick bestimmt, da wir einander zum erstenmal umarmt haben? Die Bemerkung des Professors fuhr ihm durch den Sinn, daß ein bis[881] zwei Prozent aller Geburten so enden. Also seit Menschen geboren wurden, war es so, daß unter hundert einer oder zwei in so sinnloser Weise dahin müssen im selben Augenblick, da sie zum Licht emporgebracht werden! Und so und so viele müssen im ersten Jahre sterben, und so viel in der Blüte ihrer Jugend, und so viel als Männer, und wieder eine bestimmte Anzahl macht ihrem Leben selbst ein Ende, wie Labinski, und bei so und so vielen muß es mißlingen, wie bei Oskar Ehrenberg. Wozu nach Gründen suchen? Irgendein Gesetz ist wirksam, unbegreiflich und unerbittlich, an dem wir Menschen nicht rütteln können. Wer darf klagen, warum gerade mir das? Widerfährt es nicht ihm, so widerfährt es eben einem andern ... unschuldig oder schuldig wie er. Ein bis zwei Prozent trifft es eben, das ist die himmlische Gerechtigkeit. Die Kinder, die da drüben im Garten lachten, die durften leben. Durften? Nein, sie mußten leben, so wie das seine hatte sterben müssen nach dem ersten Atemzug, bestimmt von einer Dunkelheit durch ein sinnloses Nichts hindurch einzugehen in eine andere.

Draußen war die Dämmerung, und im Zimmer war es beinahe schon Nacht. Anna lag still und regungslos. Ihre Hand in der Georgs rührte sich nicht. Aber als Georg sich erhob, sah er, daß ihre Augen offen waren. Er beugte sich nieder, zögerte einen Augenblick, dann legte er den Arm um ihren Hals und küßte sie auf die Lippen, die heiß und trocken waren und seine Berührung nicht erwiderten. Dann ging er. Im Nebenzimmer brannte die Hängelampe über dem Tisch, auf dem früher das tote Kind gelegen hatte. Nun war die grüne Tischdecke ausgebreitet, als wäre nichts geschehen. Die Türe zu dem Zimmer, in dem Frau Golowski wohnte, war geöffnet. Das Licht einer Kerze schimmerte herein, und Georg wußte, daß da sein Kind den ersten und letzten Schlummer schlief.

Frau Golowski und Frau Rosner saßen nebeneinander auf dem Sofa an der Wand, stumm, wie zusammengekauert. Georg trat zu ihnen. »Der Herr Gemahl ist schon fort?« wandte er sich an Frau Rosner.

»Ja, er ist mit den Herren Doktoren in die Stadt hineingefahren«, erwiderte sie und sah ihn wie fragend an.

»Sie ist ruhig«, beantwortete Georg ihren Blick. »Ich denke, sie wird fest schlafen.«

»Wollen Sie nicht etwas zu sich nehmen?« fragte Frau Golowski. »Seit ein Uhr haben Sie ...«[882]

»Danke nein. Ich fahre jetzt in die Stadt. Ich möchte meinen Bruder sprechen. Auch erwarte ich Briefe von Wichtigkeit. Morgen früh bin ich wieder da.« Er verabschiedete sich, ging in seine Mansarde, holte die Tristanpartitur vom Balkon ins Zimmer herein, nahm Überzieher und Stock, zündete sich eine Zigarette an und verließ das Haus. Er fühlte sich freier, sobald er auf der Straße war. Eine ungeheure Aufregung lag hinter ihm. Es war in unglücklicher Weise vorüber, aber vorüber war es doch. Und mit Anna mußte es ja gut ablaufen. Freilich da gab es wohl auch den verhängnisvollen Prozentsatz. Aber es war klar, daß nun die Möglichkeit eines schlimmen Ausgangs, gerade nach dem Gesetz der Wahrscheinlichkeitsrechnung viel geringer sein mußte, als wenn das Kind am Leben geblieben wäre.

Mit raschen Schritten durchmaß er die langgestreckte Ortschaft, wollte nichts denken und betrachtete mit absichtlicher Aufmerksamkeit jedes einzelne Haus, an dem er vorbeikam. Sie waren alle niedrig, die meisten recht trübselig und arm. Hinter ihnen, im Abenddunst, stiegen kleine Gärtchen an zu Weinbergen, Ackern und Wiesen. In einem beinahe menschenleeren Wirtshausgarten, an einem länglichen Tisch, saßen ein paar Musikanten und spielten auf Violine, Gitarre und Harmonika einen klagenden Walzer. Später kam er an ansehnlichen Landhäusern vorbei, und durch offene Fenster sah er in anständig erleuchtete Räume, in denen gedeckte Tische standen. In einem freundlichen Gasthausgarten, möglichst weit von den andern nicht sehr zahlreichen Gästen, ließ er sich endlich nieder, nahm seine Mahlzeit und spürte bald eine wohltuende Müdigkeit über sich kommen. Auf der Pferdebahn duselte er in seiner Ecke beinahe ein. Erst als der Wagen durch belebtere Straßen fuhr, fand er sich wieder und entsann sich des Geschehenen mit quälender, aber trockener Deutlichkeit. Er stieg aus, und durch die feuchte Schwüle des Stadtparks begab er sich nach Hause. Felician war nicht daheim. Auf dem Schreibtisch fand er ein Telegramm liegen. Es war aus Detmold und lautete: »Wir ersuchen höflichst um Nachricht, ob es Ihnen möglich wäre, innerhalb der nächsten drei Tage bei uns einzutreffen. Doch wolle diese Einladung vorläufig als für beide Teile unverbindlich hinsichtlich weiterer Entschließungen angesehen werden. Reisekosten werden in jedem Falle ersetzt. Hochachtungsvoll Hoftheaterintendanz.« Daneben lag das rötliche Blankett für die Antwort.

Georg war enerviert. Was sollte er nun erwidern? Das Telegramm[883] deutete offenbar darauf hin, daß eine Kapellmeisterstelle erledigt war. Sollte er um Aufschub ersuchen? Nach acht Tagen könnte er wohl zu einer Besprechung hin und gleich wieder zurückfahren. Es strengte ihn an, darüber nachzudenken. Zum mindesten hatte die Angelegenheit bis morgen früh Zeit. Und wenn das schon zu spät war, so hatte sich am Ende noch immer nichts Wesentliches geändert. Als Gast war er jedenfalls willkommen, das wußte er ja schon. Es war vielleicht besser, sich nicht zu binden ... sich irgendwo noch ohne Verpflichtung und Verantwortung einzuarbeiten und dann für das nächste Jahr gerüstet, fertig dazustehen. Aber was waren das für nichtige Erwägungen gegenüber der ungeheuern Sache, die sich heute in seinem Leben ereignet hatte. Er nahm den Malachit und stellte ihn auf das Telegramm. Was jetzt ...? fragte er sich. In den Klub gehen und Felician aufsuchen? Das war ja doch nicht der Ort, ihm die Sache mitzuteilen. Es war schon das beste, daheim zu bleiben und ihn zu erwarten. Es war sogar ein wenig verlockend, sich gleich auszukleiden und zur Ruhe zu legen. Aber er hätte ja doch nicht schlafen können. So kam er auf die Idee, endlich wieder einmal unter seinen Papieren ein bißchen Ordnung zu machen. Er öffnete eine Schreibtischlade, sichtete Rechnungen und Briefe und trug Anmerkungen in sein Notizbuch ein. Die Geräusche der Straße kamen durchs offene Fenster wie von fern. Er dachte daran, wie er im vorigen Sommer, nach des Vaters Tod, an derselben Stelle Briefe seiner verstorbenen Eltern gelesen hatte und das gleiche Geräusch der Stadt, der gleiche Duft des Parks zu ihm hereingeströmt war wie heute. Das Jahr, das seither verflossen war, dehnte sich in seinem müden Sinn zu Ewigkeiten, wurde dann wieder zu einer kurzen Spanne Zeit, und in seiner Seele raunte irgend etwas: wozu ... wozu. Sein Kind war tot. Draußen am Sommerhaidenweg auf dem Friedhof wird es begraben sein, dort wird es ausruhen in geweihter Erde von dem mühevollen Weg, der ihm zu gehen bestimmt war, von einer Dunkelheit durch ein sinnloses Nichts in die andere. Unter einem kleinen Kreuze wird es liegen, als hätte es ein Menschenlos durchlebt und durchlitten ... Als hätte es gelebt? Es hatte ja wirklich gelebt, von dem Augenblick an, da sein Herz im Leib der Mutter zu klopfen angefangen. Nein, früher schon ... von dem Augenblick an, da seiner Mutter Leib es empfangen, hatte es dem Reich des Lebendigen zugehört. Und Georg dachte daran, wievielen Menschenkindern es bestimmt war, noch viel früher wieder dahinzugehen als dem seinen, wie[884] viele, gewünschte und ungewünschte, in den ersten Tagen ihres Lebens sterben, ohne daß die eigenen Mütter es nur ahnen. Und während er so vor seinem Schreibtisch mit geschlossenen Augen hindämmerte, zwischen Schlafen und Wachen, sah er lauter schimmernde Kreuze ragen auf winzigen Hügeln, als wär es ein Friedhof aus einer Spielereischachtel, und eine rötlich-gelbe Puppensonne glänzte darüber hin. Mit einmal aber bedeutete dies Bild den Friedhof von Cadenabbia. Georg saß wie ein kleiner Knabe auf der steinernen Umfassungsmauer und wandte plötzlich den Blick zur See hinab. Da trieb in einem sehr langen, schmalen Kahn unter schwefelgelben Segeln, mit einem grünen Schal um die Schultern, bewegungslos auf der Ruderbank sitzend, eine Frau, deren Antlitz zu erkennen er sich vergeblich und beinahe schmerzlich bemühte.

Die Klingel tönte. Georg fuhr auf. Was war das? Ach ja, es war niemand da, um aufzuschließen. Der Diener war seit erstem entlassen, und die Portiersfrau, die jetzt die Brüder bediente, war um diese Zeit nicht in der Wohnung. Georg ging ins Vorzimmer und öffnete. Heinrich Bermann stand auf dem Flur. »Ich sah von unten Licht in Ihrem Zimmer«, sagte er. »Es war ein guter Einfall von mir, zuerst an Ihrem Haus vorüber zu gehen. Eigentlich wollte ich zu Ihnen aufs Land hinausfahren.«

Spricht er wirklich so erregt, dachte Georg, oder klingt es mir nur so? Er bat ihn einzutreten und Platz zu nehmen.

»Danke, danke, ich gehe lieber auf und ab. Nein, schalten Sie die obere Flamme nicht ein, die Schreibtischlampe genügt. Im übrigen wie geht es bei Ihnen draußen?«

»Heute Nachmittag ist das Kind zur Welt gekommen«, erwiderte Georg ruhig. »Aber leider war es tot.«

»Totgeboren?«

»Ich weiß nicht, ob man es so nennen kann«, entgegnete Georg bitter lächelnd, »denn einen Atemzug soll es getan haben, sagt der Arzt. Drei Tage lang haben die Wehen gedauert. Es war schrecklich. Nun ist es vorbei.«

»Tot. Das tut mir aber sehr leid, glauben Sie mir.« Er reichte Georg die Hand.

»Es war ein Knabe«, sagte Georg, »und merkwürdigerweise sehr schön, anders als Neugeborene sonst auszusehen pflegen.« Er erzählte auch dann, wie er sich eine ganze Weile in einem ungastlichen Gartenhaus aufgehalten hatte, das er früher nie betreten, und wie seltsam sich die Beleuchtung der Landschaft mit[885] einemmal verändert hatte. »Es war ein Licht«, sagte er, »wie es Gegenden zuweilen im Traum haben, ganz unbestimmt, ... dämmerhaft, ... aber eher traurig.« Während er so sprach, wußte er, daß er Felician die ganze Sache anders erzählen würde.

Heinrich saß in der Ecke des Divans und ließ den andern reden. Dann begann er: »Es ist sonderbar, all das ergreift mich natürlich sehr, und doch ... es beruhigt mich zugleich.«

»Beruhigt Sie?«

»Ja. Als wären nun gewisse Dinge, die ich leider befürchten muß, mit einemmal weniger wahrscheinlich geworden.«

»Was für Dinge?«

Ohne auf ihn zu hören, sprach Heinrich weiter, mit zusammengepreßten Zähnen. »Oder ist es nur deshalb so, weil ich dem Schmerz eines andern gegenüberstehe? Oder gar nur, weil ich wo anders bin, in einer fremden Wohnung? Das wäre schon möglich. Haben Sie nicht bemerkt, daß sogar der eigene Tod einem gleich wie etwas höchst Unwahrscheinliches vorkommt, wenn man zum Beispiel auf Reisen ist; manchmal schon auf einem Spaziergang? Solchen unbegreiflichen Selbsttäuschungen ist der Mensch unterworfen.« Er war aufgestanden, zum Fenster getreten, hatte das Gesicht abgewandt. Georg, an den Schreibtisch gelehnt, wartete ahnungsvoll, was er hören sollte. Nach ein paar Sekunden, als hätte er Fassung gewonnen, wandte Heinrich sich um, blieb aber am Fenster stehen, beide Hände rückwärts auf die Brüstung gestützt, und sagte kurz und hart: »Es besteht nämlich die Möglichkeit, daß die junge Dame, die Sie neulich bei mir flüchtig kennen gelernt haben, einen Selbstmord verübt hat. Bitte machen Sie kein so erschrockenes Gesicht. Sie wissen, es war schon in manchen ihrer Briefe zu lesen, daß sie es tun will.«

»Nun also«, sagte Georg.

Heinrich hob abwehrend die Hand. »Ich habe es ja auch niemals ernst genommen. Heute Morgen aber kam ein Brief, der, wie soll ich nur sagen, einen unheimlichen Klang von Wahrheit hatte. Es steht eigentlich auch nichts anderes drin, als was sie mir schon zehn- oder zwanzigmal geschrieben hat, aber der Ton ... der Ton ... kurz und gut, ich bin so gut wie überzeugt, daß es diesmal geschehen ist. Daß es vielleicht in diesem Augenblick schon ...«, er hielt inne und starrte vor sich hin.

»Nein Heinrich.« Georg trat zu ihm hin und legte ihm die Hand auf die Schulter. »Nein«, fügte er kräftiger hinzu, »ich glaube es absolut nicht. Ich habe sie ja gesprochen, vor ein paar Wochen[886] erst. Sie wissen ja. Und da hatte ich durchaus nicht den Eindruck ... Ich habe sie auch Komödie spielen gesehen ... wenn Sie sie spielen gesehen hätten, in dieser frechen Posse, so würden Sie auch nicht daran glauben, Heinrich! Sie will sich nur an Ihnen rächen, für Ihre Grausamkeit. Unbewußt vielleicht. Sie ist ja wahrscheinlich selbst manchmal davon überzeugt, daß sie nicht weiter leben kann, aber da sie es bis heute ausgehalten ... Ja wenn sie es gleich getan hätte ...«

Heinrich schüttelte ungeduldig den Kopf. »Hören Sie, Georg, ich habe an das Sommertheater telegraphiert. Ich habe angefragt, ob sie noch dort ist, etwa so, als wenn es sich um eine Rolle für sie handelte, Probeaufführung eines neuen Stücks von mir, oder dergleichen. Ich habe zu Hause gewartet bis jetzt ... aber es ist noch keine Antwort da. Kommt keine, oder keine genügende, so werde ich auf alle Fälle hinfahren.«

»Ja warum haben Sie nicht einfach angefragt, ob sie ...«

»Ob sie sich umgebracht hat? Man will sich doch nicht blamieren, Georg! Da hätt ich mich ja ungefähr jeden dritten Tag erkundigen können ... Das hätte allerdings eines gewissen grotesken Humors nicht entbehrt.«

»Nun sehen Sie, Sie glauben ja selbst nicht dran.«

»Ich will jetzt nach Hause, schauen, ob ein Telegramm da ist. Adieu Georg. Verzeihen Sie mir. Ich hab es nämlich daheim nicht mehr ausgehalten ... Es tut mir wirklich sehr leid, daß ich Sie in einer solchen Stunde mit meinen Angelegenheiten belästigt habe. Nochmals, verzeihen Sie ...«

»Sie wußten ja nicht ... Und auch wenn Sie gewußt hätten ... Bei mir ist es ja doch ... sozusagen eine abgeschlossene Geschichte. In meiner Angelegenheit ist leider absolut nichts mehr zu tun.« Er blickte angestrengt zum Fenster hinaus, über die Wipfel der Bäume, zu den dunkeln Türmen und Dächern, die aus dem matt rötlichen Glanz der abendlichen Stadt emporstiegen. Dann sagte er: »Ich begleite Sie, Heinrich. Ich kann ja zu Hause doch nichts anfangen. Das heißt wenn Ihnen meine Gesellschaft nicht unangenehm ist.«

»Unangenehm? ... Georg! ...« Er drückte ihm die Hand.

Sie gingen. Anfangs spazierten sie längs des Parks und schwiegen. Georg erinnerte sich seines Spazierganges mit Heinrich durch die Praterallee, im vorigen Herbst, und gleich darauf kam ihm der Maienabend ins Gedächtnis, an dem Anna Rosner im Waldsteingarten erschienen war, später als die andern, und Frau[887] Ehrenberg ihm zugeflüstert hatte: »Die hab ich für Sie eingeladen.« Ja für ihn! Wäre jener Abend nicht gewesen, so wäre Anna nicht seine Geliebte geworden und nichts von allem, woran er heute trug, wäre geschehen. Oder war auch hier irgendein Gesetz am Werke? Gewiß! Es müssen wohl jedes Jahr so und so viel Kinder zur Welt kommen, und eine Anzahl darunter außer der Ehe. Und die gute Frau Ehrenberg hatte sich eingebildet, daß es in ihrem Belieben gestanden, Fräulein Anna Rosner einzuladen für den Freiherrn von Wergenthin!

»Anna befindet sich doch außer Gefahr?« fragte Heinrich.

»Ich hoffe«, erwiderte Georg. Dann sprach er von den Schmerzen, die sie gelitten, von ihrer Geduld und ihrer Güte. Er hatte das Bedürfnis, sie als vollkommenen Engel darzustellen; als könnte er damit etwas sühnen, was er gegen sie verschuldet hätte.

Heinrich nickte. »Sie scheint wirklich eine von den wenigen Frauen, die zur Mutterschaft bestimmt sind. Es ist nämlich nicht wahr, daß es viele von der Art gibt. Kinder zu kriegen dazu sind sie ja alle da, aber Mütter zu sein! Und gerade sie mußte das erleiden! Es ist mir eigentlich nie in den Sinn gekommen, daß so etwas eintreten könnte.«

Georg zuckte die Achseln. Dann sagte er: »Ich hatte erwartet, Sie noch einmal draußen zu sehen. Ich glaube, Sie versprachen mir sogar etwas dergleichen, als Sie vor acht Tagen mit Therese zusammen bei uns nachtmahlten.«

»Ach ja, wie wir uns so furchtbar gezankt haben, Therese und ich. Auf dem Heimweg ist es noch ärger geworden. Zum lachen. Wir gingen nämlich zu Fuß bis in die Stadt. Die Leute, die uns begegneten, müssen uns unbedingt für ein Liebespaar gehalten haben, so fürchterlich haben wir uns gestritten.«

»Und wer hat am Ende recht behalten?«

»Recht? Kommt das jemals vor, daß einer recht behält? Man diskutiert doch nur, um sich selbst, und nie um den andern zu überzeugen. Denken Sie nur, wenn Therese am Ende eingesehen hätte, daß ein vernünftiger Mensch sich nie und nimmer einer Partei anschließen kann! Oder wenn ich ihr hätte zugestehen müssen, daß meine Parteilosigkeit einen Mangel an Weltanschauung bedeute, wie sie behauptete! Wir hätten uns beide sofort totschießen können. Was sagen Sie übrigens zu diesem Gerede von Weltanschauung? Wie wenn Weltanschauung etwas anderes wäre, als der Wille und die Fähigkeit die Welt wirklich zu sehn, das heißt, anzuschauen, ohne durch eine vorgefaßte Meinung verwirrt[888] zu sein, ohne den Drang, aus einer Erfahrung gleich ein neues Gesetz abzuleiten, oder sie in ein bestehendes einzufügen. Aber den Leuten ist Weltanschauung nichts, als eine höhere Art von Gesinnungstüchtigkeit Gesinnungstüchtigkeit innerhalb des Unendlichen sozusagen. Oder sie sprechen von düsterer und heiterer Weltanschauung, je nach der Färbung, in der ihnen die Welt kraft ihres Temperaments und zufälliger persönlicher Erlebnisse erscheint. Menschen mit offenen Sinnen haben Weltanschauung und beschränkte nicht. So steht die Sache. Man muß wahrhaftig kein Philosoph sein, um Weltanschauung zu haben ... vielleicht darf man's nicht einmal sein. Jedenfalls hat Philosophie mit Weltanschauung nicht das geringste zu tun. Von den Philosophen hat gewiß jeder bei sich gewußt, daß er nichts anderes vorstellt, als eine Art von Dichter. Kant hat an das Ding an sich geglaubt und Schopenhauer an die Welt als Wille und Vorstellung, wie Shakespeare an Hamlet und Beethoven an die Neunte. Sie haben gewußt, daß nun ein Kunstwerk mehr auf der Welt ist, aber sie haben sich gewiß nicht eingebildet, daß sie eine endgültige »Wahrheit« entdeckt hätten. Jedes philosophische System, wenn es Rhythmus und Tiefe hat, bedeutet einen Besitz mehr auf Erden. Aber was soll es denn an dem Verhältnis eines Menschen zur Welt ändern, der selbst mit offenen Sinnen begnadet ist?« Er sprach weiter, immer erregter, geriet, wie es Georg erschien, ins Fieberhaftverworrene. Georg erinnerte sich daran, daß Heinrich einmal ein Ringelspiel erfunden hatte, das sich über den Erdboden höher und immer höher in Spiralen drehen sollte, um endlich in einer Turmspitze zu enden.

Sie nahmen den Weg durch wenig belebte und mäßig beleuchtete Vorstadtstraßen. Georg war es, als spazierte er in einer fremden Stadt umher. Plötzlich erschien ein Haus ihm sonderbar bekannt, und er merkte jetzt erst, daß sie an dem Haus der Familie Rosner vorbeigingen. Das Speisezimmer war erleuchtet. Wahrscheinlich saß dort oben der Alte allein, oder in Gesellschaft seines Sohnes. Ist es denn möglich, dachte Georg, daß in wenigen Wochen auch Anna wieder dort sitzen wird, am selben Tisch mit Vater, Mutter und Bruder, als wäre nichts geschehen? Daß sie wieder hinter jenem Fenster mit den jetzt geschlossenen Jalousien Nacht für Nacht schlafen, Tag für Tag aus diesem Hause sich zu ihren armseligen Lektionen begeben daß sie dieses ganze, klägliche Leben wieder aufnehmen wird, als hätte nichts, gar nichts sich verändert? Nein! Sie durfte nicht mehr zu den[889] Ihren zurückkehren, das wäre ja unsinnig gewesen. Zu ihm mußte sie kommen, mit ihm zusammen leben, zu dem sie gehörte. Das Telegramm aus Detmold! Beinahe hätte er dran vergessen. Er mußte mit ihr darüber reden. Hier war Hoffnung und Aussicht! In solch einer kleinen Stadt war das Leben wohlfeil. Auch war Georgs eigenes Vermögen noch lange nicht aufgezehrt. Man konnte es schon wagen. Überdies bedeutete die Stellung dort nur den Anfang. Vielleicht bald kam eine bessere, in einer andern, größern Stadt; über Nacht, unverhofft, wie solche Dinge immer kommen, war ein Erfolg da, man hatte einen Namen, nicht nur als Dirigent, sondern auch als Komponist, und es brauchten kaum zwei, drei Jahre zu vergehen, so konnten sie das Kind zu sich nehmen ... Das Kind! ... Wie die Gedanken ihm durch den Kopf stürmten ... Auch das konnte man auf einen Augenblick vergessen?

Heinrich sprach noch immer; es war ganz offenbar, daß er sich übertäuben wollte. Er fuhr fort, die Philosophen zu vernichten. Eben war er daran, sie von Dichtern zu Spielenden zu degradieren. Jedes System jedes philosophische und jedes moralische sei Wortspielerei. Eine Flucht aus der bewegten Fülle der Erscheinungen in die Marionettenstarre der Kategorien. Aber das war es eben, wonach es die Menschen verlangte. Daher alle Philosophie, alle Religion, alle Sittengesetze! Auf dieser Flucht waren sie immerfort begriffen. Wenigen, gar wenigen war die ungeheure, innere Bereitschaft gegeben, jede Erfahrung als neu und einzig zu empfinden die Kraft es zu ertragen, daß sie in jedem Augenblick gleichsam in einer neuen Welt stünden. Und doch: nur dem, der den feigen Drang überwinde, alle Erlebnisse in Worte einzuengen, dem zeige das Leben das vielfältig-eine, das wunderbare, sich in seiner wahren Gestalt.

Georg hatte die Empfindung, als strebte Heinrich mit all seinen Reden nur dies an: vor sich selbst jede Verantwortung gegenüber einem höhern Gesetz abzuschütteln, indem er keines anerkannte. Und wie in einem wachsenden Widerstand gegen Heinrichs faselhaft wunderliches Gebaren fühlte er, wie sich in seiner eigenen Seele das Bild der Welt, das ihm vor Stunden erst wie in Stücke zu zerfallen gedroht hatte, allmählich wieder zusammenzuschließen begann. Eben noch hatte er sich gegen die Sinnlosigkeit des Schicksals aufgelehnt, das ihn heute betroffen, und schon begann er dumpf zu ahnen, daß auch das, was ihm ein trauriger Zufall geschienen, nicht aus dem Leeren auf sein Haupt heruntergestürzt war, sondern daß es ebenso auf einem vorbestimmten,[890] nur dunklern Weg zu ihm herangezogen war, wie das, was auf weithin sichtbarer Straße sich ihm nahte und das er gewohnt war, Notwendigkeit zu nennen.

Sie waren vor dem Hause, in dem Heinrich wohnte. Der Hausmeister stand am Tor und teilte mit, daß er vor kurzem eine Depesche in Heinrichs Zimmer gelegt hätte.

»So?« sagte Heinrich wie gleichgültig und ging langsam die Treppen hinauf. Georg folgte. Im Vorzimmer zündete Heinrich eine Kerze an. Auf einem kleinen Tischchen lag die Depesche. Heinrich öffnete sie, hielt sie nah zum flackernden Licht hin, las für sich und wandte sich dann zu Georg. »Sie wurde heute morgens auf der Probe erwartet und ist nicht erschienen.« Er nahm den Leuchter in die Hand und trat, von Georg gefolgt, in den nächsten Raum, stellte das Licht auf den Schreibtisch und ging im Zimmer auf und ab. Georg hörte durchs offene Fenster über den dunkeln Hof Klaviergeklimper. »Sonst enthält die Depesche nichts?« fragte er.

»Nein. Aber offenbar ist sie nicht nur nicht auf der Probe gewesen, sondern war auch in ihrer Wohnung nicht zu finden. Sonst hätte man wohl telegraphiert, daß sie krank sei, oder sonst ein Wort der Erklärung. Ja, lieber Georg« er atmete tief auf »diesmal ist es geschehen.«

»Warum? Dafür ist doch kein Beweis vorhanden, kaum ein Anhaltspunkt.«

Heinrich schnitt mit einer seiner kurzen Handbewegungen die Rede des andern ab. Dann sah er auf die Uhr und sagte: »Heut hab ich keinen Zug mehr ... Ja ... was soll man nur was soll man nur beginnen?« Er hielt inne, blieb stehen und sagte plötzlich: »Ich werde zu ihrer Mutter fahren. Ja. Das ist das beste ... Vielleicht, vielleicht ...«

Sie verließen die Wohnung. An der nächsten Ecke nahmen sie einen Wagen.

»Hat die Mutter etwas gewußt?« fragte Georg.

»Ach Gott«, sagte Heinrich. »Was Mütter eben zu wissen pflegen. Es ist ja unglaublich, wie wenig die Menschen über das nachdenken, was in ihrer nächsten Nähe vorgeht, wenn sie nicht durch einen äußern Anlaß dazu genötigt werden. Und die meisten Menschen ahnen nicht einmal, was sie alles wissen, in der Tiefe ihrer Seele wissen, ohne sich's einzugestehen. Die gute Frau wird wohl etwas erstaunt sein, wenn ich so plötzlich vor ihr auftauche ... ich habe sie schon lange nicht gesehen.«[891]

»Was werden Sie ihr sagen?«

»Ja, was werde ich ihr sagen?« wiederholte Heinrich und biß an seiner Zigarre herum. »Hören Sie, ich habe eine großartige Idee. Sie werden mit mir kommen, Georg, ich stelle Sie als Direktor vor, ja? Sie sind auf der Durchreise hier, müssen noch heute mit einem Separatzug um elf Uhr fort, nach Petersburg, haben irgendwie gehört, daß sich das Fräulein in Wien aufhält, und ich, als alter Bekannter des Hauses bin so liebenswürdig Sie vorzustellen.«

»Sind Sie zu dergleichen Komödien aufgelegt?« fragte Georg.

»Ach verzeihen Sie, Georg! Es ist ja alles gar nicht notwendig. Ich frage die Alte einfach, ob sie Nachricht hat ... Was sagen Sie ... wie schwül diese Nacht ist?«

Sie fuhren über den Ring, durch den hallenden Burghof, durch die Straßen der Stadt. Georg war eigentümlich gespannt. Wenn die Schauspielerin nun wirklich ruhig bei ihrer Mutter zu Hause säße, dachte er. Er fühlte, daß es eine Art Enttäuschung für ihn bedeuten würde. Dann schämte er sich dieser Regung. Ist denn die ganze Geschichte eine Zerstreuung für mich, dachte er. Was den andern Leuten passiert ... ist uns wohl selten mehr, würde Nürnberger finden ... Eine seltsame Art sich zu zerstreuen, um den Tod seines Kindes zu vergessen ... Aber was soll man tun? ... Ändern kann ich nichts mehr. In ein paar Tagen reis' ich fort. Gott sei Dank.

Der Wagen hielt vor einem Hause in der Nähe des Pratersterns. Über den Viadukt gegenüber dröhnte eben ein Zug, darunter weg liefen die Alleen des Praters ins Dunkle. Heinrich schickte den Wagen fort. »Ich danke Ihnen sehr«, sagte er zu Georg. »Leben Sie wohl.«

»Ich warte hier auf Sie.«

»Wollen Sie wirklich? Nun, ich bin Ihnen sehr dankbar.«

Er verschwand im Haustor. Georg ging auf und ab. Rings herum auf den Straßen war es trotz der späten Stunde noch ziemlich belebt. Aus dem Prater drangen die Klänge eines Militärorchesters zu ihm her. Ein Mann und eine Frau kamen an ihm vorbei. Der Mann trug ein schlafendes Kind auf dem Arm, das die Hände um den Hals des Vaters geschlungen hatte. Georg dachte an den Grinzinger Garten, an das kleine, ungewaschene Ding, das ihm von den Armen der Mutter aus die Händchen entgegengestreckt hatte. War er damals wirklich gerührt gewesen, wie Nürnberger behauptet hatte? Nein, Rührung war es wohl nicht. Etwas anderes[892] vielleicht. Das dumpfe Bewußtsein, dazustehen in der geschlossenen Kette, die von Urahnen zu Urenkeln ging, an beiden Händen gefaßt, mit teilzuhaben am allgemeinen Menschenlos. Nun stand er mit einemmal wieder losgelöst, allein ... wie verschmäht von einem Wunder, dessen Ruf er ohne Andacht gehört hatte. Von einem nahen Kirchturm schlug es zehn Uhr. Fünf Stunden erst, dachte Georg. Und wie ferne war schon alles. Nun durfte er wieder frei durch die Welt treiben, wie früher einmal ... Durfte er wirklich?

Heinrich kam aus dem Haustor. Hinter ihm fiel das Tor zu. »Nichts«, sagte er. »Ganz ahnungslos ist die Mutter. Ich habe nach der Adresse gefragt, als wenn ich ihr was Wichtiges mitzuteilen hätte. Ich wäre gerade aus dem Prater gekommen, und da fiel mir ein ... na und so weiter. Eine gute, alte Frau. Der Bruder sitzt am Tisch und zeichnet auf einem Reißbrett eine Ritterburg mit unzähligen Türmen aus einer illustrierten Zeitung ab.«

»Jetzt seien Sie einmal aufrichtig«, sagte Georg. »Wenn Sie sie auf diese Weise retten könnten, würden Sie ihr auch jetzt nicht verzeihen?«

»Ja Georg, merken Sie denn noch immer nicht, daß es sich gar nicht darum handelt, ob ich verzeihen will oder nicht? Denken Sie doch, ich hätte einfach aufgehört sie zu lieben, was doch gelegentlich passieren kann, auch ohne daß man ›verraten‹ worden ist. Denken Sie, eine Frau, die Sie liebt, würde Sie verfolgen, eine Frau, vor deren Berührung Ihnen aus irgendeinem Grunde graut, würde Ihnen schwören, sie bringt sich um, wenn Sie sie verschmähen. Wären Sie verpflichtet ihr nachzugehen? Könnten Sie sich den leisesten Vorwurf machen, wenn sie wirklich aus sogenannter verschmähter Liebe in den Tod ginge? Würden Sie sich als ihr Mörder fühlen? Das ist doch lauter Unsinn, nicht wahr? Also wenn Sie glauben, daß es das sogenannte Gewissen ist, das mich jetzt peinigt, so irren Sie sich. Es ist einfach die Sorge um das Schicksal eines Wesens, das mir einmal nahestand und gewissermaßen heute noch nahesteht. Die Ungewißheit ...« Plötzlich blickte er starr nach einer Richtung.

»Was ist Ihnen?« fragte Georg.

»Sehen Sie nicht? Ein Telegraphenbote. Er kommt auf das Haustor zu.« Ehe der Mann noch klingeln konnte, war Heinrich bei ihm, und sagte ihm ein paar Worte, die Georg nicht verstehen konnte. Der Bote schien Einwendungen zu machen, Heinrich erwiderte, und Georg, der nähergetreten war, konnte es[893] hören. »Ich habe Sie ja hier vor dem Tor erwartet, weil mich der Arzt dringend darum gebeten hat. Dieses Telegramm enthält ... vielleicht ... eine traurige Nachricht ... und es könnte für meine Mutter der Tod sein ... nun wenn Sie mir nicht glauben, so klingeln Sie doch, ich geh mit Ihnen ins Haus.« Aber schon hatte er auch die Depesche in Händen, öffnete sie hastig und las beim Licht einer Straßenlaterne. Sein Antlitz blieb völlig unbeweglich. Dann faltete er die Depesche wieder zusammen, reichte sie dem Boten hin, drückte ihm ein paar Silbermünzen in die Hand und sagte: »Sie müssen sie doch selbst drin abgeben.«

Der Bote war befremdet, aber durch das Trinkgeld milde gestimmt. Heinrich klingelte und wandte sich ab. »Kommen Sie«, sagte er zu Georg. Sie gingen stumm die Straße weiter. Nach ein paar Minuten sagte Heinrich: »Es ist geschehen.«

Georg erschrak heftiger, als er erwartet hätte. »Ist es möglich ...« rief er aus.

»Ja«, sagte Heinrich. »Im See hat sie sich ertränkt. In dem See, an dem Sie heuer im Sommer ein paar Tage gewohnt haben«, setzte er hinzu, in einem Ton, als trüge Georg nun auch irgendwie einen Teil der Verantwortung für das, was geschehen war.

»Was steht in dem Telegramm?« fragte Georg.

»Es ist vom Direktor. Er hat eben die Nachricht erhalten, daß sie beim Kahnfahren verunglückt ist. Erbittet nähere Weisungen von der Mutter.« Er sprach kühl, hart, als läse er eine Notiz aus der Zeitung vor.

»Die unglückliche Frau! Sollten Sie nicht doch, Heinrich ...«

»Was ...? Zu ihr? Was soll ich denn bei ihr tun?«

»Wer denn als Sie, kann ihr jetzt ... und muß ihr beistehen?«

»Wer denn als ich?« Er blieb stehen. »Sie denken, weil es sozusagen meinetwegen geschehen ist? Ich erkläre Ihnen hiermit feierlich, daß ich mich total unschuldig fühle. Der Kahn, aus dem sie sich hat sinken lassen, und die Wellen, die sie empfangen haben, können sich nicht schuldloser fühlen, als ich. Das will ich nur feststellen. Aber daß ich zu der Mutter hinein muß ... Ja, damit haben Sie vollkommen recht.« Und er schlug wieder die Richtung nach dem Hause ein. »Wenn Sie wollen«, sagte Georg, »so bleibe ich bei Ihnen.« »Was fällt Ihnen ein, Georg. Gehen Sie nur ruhig nach Hause. Was soll ich noch alles von Ihnen verlangen? Und grüßen Sie Anna und sagen Sie ihr, wie sehr ich beklage ... na Sie wissen ja ... Da wären wir. Sie gestatten, daß ich noch ein paar Sekunden verziehe, ehe ich ...« Er blieb stumm[894] stehen. Dann begann er wieder, und seine Züge verzerrten sich: »Ich will Ihnen etwas sagen, Georg. Folgendes: Es ist ein großes Glück, daß man in gewissen Augenblicken gar nicht weiß, was einem eigentlich begegnet ist. Wenn man die Unheimlichkeit solcher Augenblicke nämlich sofort so stark empfände, wie man sie später in der Erinnerung empfinden wird, oder wie man sie in der Erwartung empfunden hat man würde verrückt. Auch Sie Georg, ja Sie auch. Und manche werden eben wirklich verrückt. Das sind wahrscheinlich die Leute, denen die Gabe verliehen ist, sofort richtig zu empfinden. Meine Geliebte hat sich ertränkt, hören Sie? Es ist nicht anders zu sagen. Ist wirklich früher andern etwas Ähnliches passiert? O nein. Sie glauben sicher, daß Sie schon ähnliches gelesen oder gehört haben. Es ist nicht wahr. Heute das erstemal ... das erstemal, seit die Welt steht, ist so etwas passiert.«

Das Tor öffnete sich und fiel wieder zu. Georg stand allein auf der Straße. Der Kopf war ihm wirr, das Herz bedrückt. Er ging ein paar Schritte, dann nahm er einen Wagen und fuhr nach Hause. Er sah die Tote vor sich, so wie sie an jenem hellen Sommertage vor der Bühnentür gestanden war, in roter Bluse und kurzem, weißen Rock, mit den irrenden Augen unter dem rötlichen Schopf. Er hätte damals übrigens geschworen, daß sie mit dem Komödianten, der Guido ähnlich sah, ein Verhältnis hatte. Vielleicht war es auch so. Das konnte eine Art von Liebe gewesen sein und was sie für Heinrich fühlte, eine andere. Es gab wirklich viel zu wenig Worte. Für den einen geht man in den Tod, mit dem andern liegt man im Bett, vielleicht noch in der Nacht, eh man sich für den einen ertränkt. Und was beweist ein Selbstmord am Ende? Vielleicht nur, daß man in irgendeinem Augenblick den Tod nicht recht verstanden hat. Wie wenige versuchen es noch einmal, wenn es ihnen einmal mißglückt ist. Das Gespräch mit Grace fiel ihm ein, an Labinskis Grab, das glühend-kalte, an dem sonnigen Februartag im schmelzenden Schnee. In jener Stunde hatte sie ihm gestanden, daß sie von keinem Grauen erfaßt worden war, als sie Labinski erschossen vor ihrer Wohnungstür gefunden hatte. Und als vor vielen Jahren ihre kleine Schwester gestorben war, hatte sie eine Nacht lang am Totenbett gewacht, ohne auch nur eine Spur von dem zu empfinden, was andere Menschen Grauen nannten. Aber etwas, das diesem Gefühle ähnlich sein mochte, so erzählte sie Georg, hatte sie in der Umarmung von Männern kennen gelernt. Zuerst war ihr das selbst rätselhaft[895] gewesen, später glaubte sie es zu verstehen. Sie war nach der Aussage von Ärzten zur Unfruchtbarkeit bestimmt, und darum mußte es wohl geschehen, daß der Augenblick der höchsten Lust, durch dieses Verhängnis gleichsam sinnlos geworden, ihr wie in ahnungsvollen Schauder versank. Dies war Georg damals wie ein affektiertes Gerede erschienen, heute zum erstenmal spürte er einen Hauch von Wahrheit darin. Sie war ein seltsames Geschöpf gewesen. Ob ihm noch einmal ein Wesen solcher Art begegnen würde? Warum nicht? Am Ende bald. Nun fing ja eine neue Epoche seines Lebens an, und irgendwo wartete vielleicht schon das nächste Abenteuer. Abenteuer ...? Durfte er daran noch denken ...? Hatte er von heute an nicht ernstere Verpflichtungen als je? Liebte er Anna nicht mehr, als je zuvor ...? Das Kind war tot ... Aber das nächste würde leben ...! Heinrich hatte wahr gesprochen: Anna war dazu bestimmt, Mutter zu werden. Mutter ... Aber, dachte er fröstelnd, ist sie denn auch bestimmt, Mutter meiner Kinder zu werden? ... Der Wagen hielt. Georg stieg aus, ging die zwei Treppen hinauf in seine Wohnung. Felician war noch nicht zu Hause. Wer weiß, wann er kommt? dachte Georg. Ich kann ihn nicht erwarten, ich bin zu müd. Er entkleidete sich rasch, sank ins Bett, und tiefer Schlaf nahm ihn auf.

Als er erwachte, suchten seine Augen durchs Fenster, wie er es nun seit Tagen gewohnt war, eine weiße Linie, zwischen Wald und Wiesen: den Sommerhaidenweg. Er sah aber nur einen bläulichen, leeren Himmel, in den eine Turmspitze sich bohrte, mit einemmal wußte er, daß er zu Hause war, und alles, was er gestern erlebt hatte, fiel ihm ein. Doch fühlte er Leib und Seele morgenfrisch, und ihm war, als hätte er außer dem Traurigen, das geschehen war, sich auch irgendeiner günstigen Sache zu entsinnen. Ach ja. Das Telegramm aus Detmold ... War das denn etwas so Günstiges? Gestern Abend hatte er es nicht so empfunden.

Es klopfte an seine Tür. Felician trat zu ihm ins Zimmer, Hut und Stock in der Hand. »Ich hab gar nicht gewußt, daß du heute zu Hause geschlafen hast«, sagte er. »Grüß dich Gott. Also was gibts denn draußen neues?«

Georg hatte den Arm auf den Polster gestützt und blickte zu seinem Bruder auf. »Es ist vorüber«, sagte er. »Ein Bub, aber tot.« Und er sah vor sich hin.

»Geh«, sagte Felician bewegt, trat auf ihn zu und legte unwillkürlich[896] die Hand auf des Bruders Haupt. Dann tat er Hut und Stock beiseite, setzte sich zu ihm aufs Bett, und Georg mußte an Morgenstunden seiner Kinderjahre denken, da er beim Erwachen manchmal seinen Vater so am Bettrand sitzen gesehen. Er erzählte Felician, wie alles gekommen war, sprach ins besondere von Annas Geduld und Sanftmut, aber mit einem gewissen Unbehagen fühlte er, daß er sich ein wenig zwingen mußte, um seinen Mitteilungen den Ton von Ernst und Gedrücktheit zu bewahren, der ihnen ziemte. Felician hörte mit Anteil zu, erhob sich dann und ging im Zimmer auf und ab. Indes stand Georg auf, begann Toilette zu machen und berichtete dem Bruder, wie merkwürdig sich der weitere Verlauf des Abends gestaltet hatte; sprach von den Gängen und Fahrten mit Heinrich Bermann, und von der eigentümlichen Art, wie sie endlich von dem Selbstmord der Schauspielerin erfahren hatten.

»Ah, das ist die«, sagte Felician. »Es steht nämlich schon in der Zeitung.«

»Also wie ist es denn geschehen?« fragte Georg neugierig.

»Sie ist in den See hinausgefahren und hat sich vom Kahn aus ins Wasser gleiten lassen ... Na, du wirst ja lesen ... Jetzt fährst du wohl gleich wieder aufs Land hinaus?« fügte er hinzu.

»Natürlich«, erwiderte Georg. »Aber ich hab dir ja noch was zu sagen, Felician, was dich interessieren dürfte.« Und er berichtete dem Bruder von dem Detmolder Telegramm.

Felician schien erstaunt. »Das wird ja ernst«, rief er aus.

»Ja, es wird ernst«, wiederholte Georg.

»Du hast noch nicht geantwortet?«

»Nein, wie hätt ich können?«

»Und was gedenkst du zu tun?«

»Aufrichtig gestanden, ich weiß nicht recht. Du begreifst, daß ich nicht auf der Stelle hinfahren kann, besonders unter diesen Umständen.«

Felician schien nachdenklich. »Mit einem kleinen Aufschub wird ja wohl nichts verloren sein«, sagte er dann.

»Das denk ich mir auch. Vor allem muß ich wissen, wie's draußen geht. Ich möchte mich natürlich auch gern mit Anna beraten.«

»Wo hast du denn das Telegramm, darf man's lesen?«

»Drin auf dem Schreibtisch liegt's«, sagte Georg, der eben damit beschäftigt war, sich die Schuhe zuzuschnüren.

Felician begab sich ins Nebenzimmer, nahm die Depesche zur[897] Hand und las. »Das ist ja viel dringender«, bemerkte er, »als ich gedacht habe.«

»Mir scheint, Felician, es kommt dir noch immer merkwürdig vor, daß ich nun bald einen wirklichen Beruf haben soll.«

Felician stand wieder bei seinem Bruder, strich ihm übers Haar und sagte: »Es ist vielleicht eine gute Fügung, daß die Depesche gerade gestern gekommen ist.«

»Gut? Inwiefern?«

»Ich meine, nach so einem trüben Ereignis dürfte dir die Aussicht auf praktische Betätigung doppelt wohltun ... Aber ich muß dich jetzt leider verlassen. Ich hab noch eine ganze Menge zu tun; Abschiedsbesuche unter anderm.«

»Wann fährst du denn, Felician?«

»Heut in acht Tagen. Sag Georg, du kommst doch heut wahrscheinlich noch vom Land zurück?«

»Wenn draußen alles in Ordnung ist, ganz bestimmt.«

»Wir könnten uns vielleicht am Abend noch treffen?«

»Das wär mir sehr lieb, Felician.«

»Also wenn's dir recht ist ich bin von sieben Uhr an zu Hause. Wir können vielleicht zusammen soupieren, aber allein, nicht im Klub.«

»Ja, gern.«

»Und ich möcht dich was bitten«, begann Felician nach kurzem Schweigen wieder. »Bestell draußen einen Gruß von mir, einen herzlichen ... und sag ihr, daß ich den innigsten Anteil nehme.«

»Ich danke dir, Felician, ich werde es ihr ausrichten.«

»Wirklich, Georg, ich kann dir gar nicht sagen, wie sehr es mich berührt hat«, fuhr Felician mit Wärme fort. »Ich hoffe nur, sie kommt bald darüber hin weg ... Und du auch.«

Georg nickte. »Weißt du«, sagte er leise, »wie er hätte heißen sollen? Felician!«

Felician sah seinem Bruder ins Auge, sehr ernst, dann drückte er ihm die Hand. »Aufs nächstemal«, sagte er mit einem guten Lächeln. Noch einmal drückte er dem Bruder die Hand und ging. Georg sah ihm nach, zwiespältig bewegt. Ganz unangenehm ist es ihm ja doch nicht, dachte er, daß es so gekommen ist. Rasch machte er sich fertig und beschloß, heute wieder einmal zu Rad aufs Land zu fahren.

Erst als er über die belebteren Straßen hinaus war, kam er zum Gefühl seiner selbst. Der Himmel hatte sich ein wenig getrübt, und von den Hügeln her wehte Georg ein kühler Wind wie[898] Herbstgruß entgegen. Er wollte in der kleinen Ortschaft, wo das gestrige Ereignis jedenfalls schon bekannt geworden war, niemandem begegnen und nahm den obern Weg zwischen Wiesen und Gärten zum rückwärtigen Eingang. Je näher der Augenblick kam, da er Anna wiedersehen sollte, um so schwerer wurde ihm ums Herz. Am Gitter saß er vom Rad ab und zögerte ein wenig. Der Garten war leer; unten lag das Haus, in Stille versunken. Georg atmetet tief und schmerzlich auf. Wie anders hätte es sein können! dachte er, schritt hinab und hörte den Kies unter seinen Füßen knirschen. Er trat auf die Veranda, lehnte das Rad ans Geländer und schaute durch das offene Fenster ins Zimmer hinein. Anna lag mit offenen Augen.

»Guten Morgen«, rief er möglichst heiter.

Frau Golowski, die an Annas Bett gesessen war, erhob sich und erzählte gleich: »Gut haben wir geschlafen, fest und gut.«

»Na, das ist schön«, sagte Georg und schwang sich über die Brüstung ins Zimmer.

»Du bist ja sehr unternehmend heute«, sagte Anna mit ihrem verschmitzten Lächeln, das Georg an längst vergangene Zeiten erinnerte. Frau Golowski teilte mit, der Professor wäre am frühen Morgen dagewesen, hätte sich vollkommen zufrieden gezeigt, und Frau Rosner in seinem Wagen mit in die Stadt genommen. Dann entfernte sie sich, mit guten Blicken.

Georg beugte sich zu Anna nieder, küßte sie innig auf Augen und auf Mund, rückte den Stuhl näher, setzte sich und sagte: »Mein Bruder grüßt dich herzlich.«

Es zuckte unmerklich um ihre Lippen. »Danke«, erwiderte sie leise und bemerkte dann: »Du bist ja mit dem Rad herausgekommen?«

»Ja«, erwiderte er. »Da muß man nämlich auf den Weg aufpassen, was zuweilen sein Gutes hat.« Dann berichtete er vom Abschluß des gestrigen Abends, erzählte das Ganze wie eine spannende Geschichte, und erst zum Schluß, wie es sich gehörte, durfte Anna er fahren, wie Heinrichs Geliebte geendet hatte. Er erwartete sie bewegt zu sehen, aber sie behielt einen sonderbar harten Zug um den Mund.

»Es ist doch furchtbar«, sagte Georg. »Findest du nicht?«

»Ja«, erwiderte Anna kurz, und Georg fühlte, daß ihre Güte hier völlig versagte. Er sah den Widerwillen aus ihrer Seele fließen, nicht lau wie von einem Wesen zum andern hin, sondern stark und tief, wie einen Strom des Hasses von Welt zu Welt. Er ließ[899] das Thema fallen und begann von neuem: »Jetzt was Wichtiges, mein Kind.« Er lächelte, hatte aber ein wenig Herzklopfen.

»Nun?« fragte sie gespannt.

Er nahm das Detmolder Telegramm aus seiner Brusttasche und las es ihr vor. »Was sagst du dazu?« fragte er mit gespieltem Stolz.

»Und was hast du geantwortet?«

»Noch gar nichts«, erwiderte er beiläufig, als wäre er nicht gesonnen, die Sache sonderlich ernst zu nehmen. »Ich wollt es natürlich vorher mit dir besprechen.«

»Also was denkst du?« fragte sie unbeweglich.

»Ich ... lehne natürlich ab. Ich depeschiere, daß ich ... in der nächsten Zeit keineswegs hinkommen könnte.« Und er erläuterte ihr ernsthaft, daß mit einem Aufschub weiter nichts verloren sei, da er ja als Gast jedenfalls willkommen und diese dringende Aufforderung doch nur einem Zufall zu verdanken war, auf den zu hoffen man nicht das Recht gehabt hätte.

Sie ließ ihn eine Weile reden, dann sagte sie. »Du bist schon wieder einmal leichtsinnig. Vor allem find ich, hättest du gleich antworten sollen. Und ...«

»Nun, und? ... Vielleicht auch gleich heute früh fortfahren, statt zu dir herauszukommen wie?« scherzte er.

Sie blieb ernst. »Warum nicht?« sagte sie. Und auf sein befremdetes Zurückwerfen des Kopfes: »Mir geht es ja Gott sei Dank sehr gut, Georg; und auch wenn es mir etwas schlechter ginge, helfen könntest du mir ja doch nicht, also ...«

»Ja, Kind«, unterbrach er sie, »mir scheint, du verstehst gar nicht recht, um was es sich handelt! Das Hinfahren ist natürlich eine ziemlich einfache Sache aber das Dortbleiben! Das Dortbleiben mindestens bis Ostern! So lange dauert die Saison.«

»Na, daß du nicht fortgefahren bist, ohne mir vorher adieu zu sagen, Georg, das finde ich natürlich ganz in der Ordnung. Aber siehst du, fort mußt du ja jedenfalls, nicht wahr? Wenn wir auch gerade in der letzten Zeit nicht darüber gesprochen haben, wir haben's doch beide gewußt. Also ob du in vier Wochen wegfährst, oder übermorgen oder heute ...«

Nun begann Georg sich ernstlich zu wehren. Das sei durchaus nicht gleichgültig, ob in vier Wochen oder heute. Im Laufe von vier Wochen könne man sich doch mit gewissen Gedanken vertraut machen und überdies alles genau besprechen hinsichtlich der Zukunft.

»Was gibt es da viel zu besprechen«, erwiderte sie müd. »In[900] vier Wochen nimmst du ... kannst du mich ebensowenig mitnehmen als heute. Ich glaube sogar, daß jede ernsthafte Besprechung zwischen uns erst nach deiner Rückkunft einen Sinn erhalten kann. Bis dahin wird sich mancherlei geklärt haben ... Wenigstens in Bezug auf deine Aussichten.« Sie blickte zum Fenster hinaus, in den Garten. Georg zeigte eine gelinde Entrüstung über ihre kühle Sachlichkeit, die sie auch in einer solchen Stunde nicht verließe. »Ja wahrhaftig!« sagte er, »wenn man so bedenkt was das bedeutet, daß du hier bleibst und ich ...«

Sie sah ihn an. »Ich weiß, was es bedeutet«, sagte sie.

Unwillkürlich wich er ihrem Blick aus, nahm ihre Hände, küßte sie, war innerlich aufgewühlt. Als er wieder aufblickte, sah er ihre Augen mütterlich auf sich ruhen. Und wie eine Mutter sprach sie ihm zu. Sie erklärte ihm, daß er gerade in Hinsicht auf die Zukunft und es schwebte um dieses Wort kaum wie ein linder Hauch eigener Hoffnung eine solche Gelegenheit nicht versäumen dürfe. In zwei oder drei Wochen konnte er ja von Detmold aus auf ein paar Tage wieder nach Wien zurückkommen. Denn das würden die Leute dort gewiß einsehen, daß er seine Angelegenheiten hier in Ordnung bringen müßte. Aber vor allem wäre es notwendig, ihnen einen Beweis seines ernsten Willens zu geben. Und wenn er auf ihren Rat etwas halte, so gäbe es nur eins: noch heute abends abzureisen. Um sie brauche er keine Sorge zu hegen, sie fühlte, daß sie außer jeder Gefahr sei, ganz untrüglich fühle sie das. Natürlich werde er täglich Nachricht haben, zweimal, wenn er wollte, früh und abends. Er gab nicht gleich nach, kam nochmals darauf zurück, daß das Unerwartete dieser Trennung ihn geradezu niederdrücken würde. Sie erwiderte, daß ihr ein solcher rascher Abschied viel lieber sei, als die Aussicht auf weitere vier Wochen in Bangen, Rührung und Abschiedsangst. Und das wesentliche bleibe doch immer: daß es sich um nicht viel mehr handle als ein halbes Jahr. Dann hatte man wieder ein halbes für sich, und wenn alles gut ginge, so standen vielleicht nicht mehr viele solcher Trennungszeiten bevor.

Nun fing er wieder an: »Und was wirst du in diesem halben Jahr tun, während ich fort bin? Es ist doch ...«

Sie unterbrach ihn: »Vorläufig wird es schon so weitergehen, wie es eben jahrelang gegangen ist. Aber ich hab heute früh über vielerlei nachgedacht.«

»Die Gesangschule?«

»Auch das. Obzwar das natürlich nicht so leicht ist und nicht[901] so einfach und überdies«, setzte sie mit ihrem verschmitzten Gesicht hinzu, »es wäre doch schade, wenn man sie gar zu bald wieder zusperren müßte. Aber über all das werden wir nachher reden. Jetzt geh einmal telegraphieren.«

»Ja was?« rief er so verzweifelt aus, daß sie lachen mußte. Dann sagte sie: »Sehr einfach. Werde morgen mittag die Ehre haben, mich in Ihrer Kanzlei einzufinden. Aller-, alleruntertänigst, oder ergebenst ... oder allerhochmütigst ...«

Er sah sie an. Dann küßte er ihr die Hand und sagte: »Du bist entschieden die Gescheitere von uns zweien.« Sein Ton deutete an: auch die Kühlere, aber ein Blick von ihr, mild, zärtlich und etwas spöttisch, lehnte diesen Nebensinn ab.

»Also in zehn Minuten bin ich wieder da.« Er verließ sie mit heiterer Stirn, trat ins Nebenzimmer und schloß die Türe. Gegenüber, hinter jener andern, jetzt fiel es ihm mit Macht wieder ein, lag sein totes Kind im Sarg ... denn das »Nötige«, wie gestern Doktor Stauber sich ausgedrückt hatte, war ja wohl schon besorgt worden. In einer wehen Sehnsucht krampfte sich sein Herz. Frau Golowski kam aus dem Vorzimmer. Sie trat auf ihn zu, sprach bewundernd von der Ergebenheit und der Gefaßtheit Annas. Georg hörte etwas zerstreut zu. Seine Blicke glitten immerfort über jene Türe hin, und endlich sagte er leise: »Ich möcht es doch noch einmal sehen.«

Sie schaute ihn an, leicht erschrocken zuerst und dann mitleidig.

»Schon zugenagelt?« fragte er angstvoll.

»Schon fortgeschafft«, erwiderte Frau Golowski langsam.

»Fortgeschafft?!« Sein Gesicht verzerrte sich mit einmal so peinvoll, daß die alte Frau wie beruhigend die Hände auf seinen Arm legte. »Ich war in aller Früh die Anmeldung machen«, sagte sie, »und das andre ist dann sehr schnell gegangen. Vor einer Stunde hat man's abgeholt in die Totenkammer.«

In die Totenkammer ... Georg erbebte. Und er schwieg lange, verstört, wie wenn er eine völlig unerwartete grauenhafte Neuigkeit erfahren hatte. Als er wieder zu sich kam, fühlte er noch immer die freundliche Hand Frau Golowskis auf seinem Arm und sah ihren Blick aus übernächtigen, gütigen Augen auf seinem Antlitz ruhen.

»Also erledigt«, sagte er, mit einem empörten Blick nach oben, als wär ihm jetzt erst die letzte Hoffnung tückisch geraubt. Dann reichte er Frau Golowski die Hand. »Und Sie haben alles das auf[902] sich genommen, liebe gnädige Frau ... Wahrhaftig ich weiß nicht ... wie ich Ihnen das je ...«

Eine Bewegung der alten Frau wehrte jeden weitern Dank ab. Georg verließ das Haus, warf auf den kleinen, blauen Engel, der wie ängstlich zu den verblühten Beeten niederschaute, einen verächtlichen Blick und trat auf die Straße. Auf dem Weg zum Amt überlegte er angestrengt die Fassung des Telegramms, das seine Ankunft in dem Ort des neuen Berufs und der neuen Verheißung ankündigen sollte.

Quelle:
Arthur Schnitzler: Gesammelte Werke. Die erzählenden Schriften, 2 Bände, Band 1, Frankfurt a.M. 1961, S. 868-903.
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