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[879] Gegen Mittag erschien Alfred an ihrem Bett, der die Sache aus der Zeitung erfahren hatte. Um diese Zeit war die Temperatur gesunken, doch waren Delirien eingetreten. Unruhig warf sich Therese hin und her mit bald offenen, bald geschlossenen Augen und flüsterte unverständliche Worte. Auch den neuen Besucher schien sie vorerst nicht zu erkennen. Nachdem der behandelnde Sekundarius sich zu dem Herrn Dozenten Dr. Nüllheim über den Fall fachlich ausgesprochen, ließ er ihn allein bei der Kranken. Alfred setzte sich an ihr Bett, fühlte ihren Puls, er war schwach und erregt. Und nun, als ginge von dieser einstens geliebten Hand eine Wirkung auf die Leidende aus, die andern gleichgültigen Berührungen versagt war, schien die Unruhe der Kranken nachzulassen; und als der Arzt den Blick eine Weile ohne besondere Absicht auf ihre Stirn, ihre Augen gerichtet hielt, geschah noch Merkwürdigeres: diese Augen, die bisher, auch wenn sie geöffnet waren, offenbar niemanden zu erkennen vermocht hatten, schimmerten wie in allmählich erwachendem Bewußtsein. Die verfallenen, gleichsam verdämmernden Züge erhellten, strafften, ja verjüngten sich; und wie Alfred sich näher zu ihr herabbeugte, flüsterte sie: »Dank.« Er wehrte ab, faßte nun ihre beiden Hände und sprach tröstliche, herzliche Worte, wie sie sich auf seine Lippen drängten. Sie schüttelte den Kopf, immer heftiger,[879] nicht nur, als wenn sie von Trost nichts hören wollte, es war klar, daß sie ihm irgend etwas zu vertrauen hatte. Er beugte sich noch näher zu ihr, um sie zu verstehen. Und sie begann: »Du mußt es vor Gericht sagen, versprichst du mir das?« – Er dachte, das Delirium beginne wieder. Er legte die Hand auf ihre Stirn, versuchte sie zu beschwichtigen. Aber sie sprach, vielmehr sie flüsterte weiter, da sie kein lautes Wort hervorbringen konnte: »Du bist ja Doktor, dir müssen sie glauben. Er ist unschuldig. Er hat mir nur vergolten, was ich ihm getan habe. Man darf ihn nicht zu hart strafen.« Wieder versuchte Alfred, sie zu beruhigen. Sie aber sprach hastig weiter, als ahnte sie, daß ihr nicht mehr viel Zeit gegönnt sei. Was sich in jener fernen Nacht ereignet und was doch nicht Ereignis geworden war – was sie zu tun begonnen und doch nicht bis zu Ende getan – woran ihr Wunsch mehr gewirkt hatte als ihr Wille – wessen sie sich immer wieder erinnert und was sie sich doch niemals ins Gedächtnis zu rufen gewagt hatte; – die Stunde – vielleicht war es nur ein Augenblick gewesen –, in dem sie Mörderin gewesen war, lebte mit so völliger Klarheit wieder in ihr auf, daß sie sie fast wie etwas Gegenwärtiges erlebte. – Es waren nur wenige, nicht immer dem Laut nach verständliche Worte, die Alfred, ihren flüsternden Lippen nah, zu vernehmen vermochte. Doch er faßte Theresens Selbstbeschuldigung auf als das, was sie sein sollte, als einen Versuch, ihren Sohn zu entsühnen. Ob dieser Zusammenhang nun vor einem himmlischen oder irdischen Richter tatsächlich gelten mochte – für diese Sterbende – denn sie war es, auch wenn ihr noch Jahrzehnte des Daseins bestimmt sein sollten, – für Therese bestand er nun einmal; und Alfred fühlte, daß das Bewußtsein ihrer Schuld in dieser Stunde sie nicht bedrückte, sondern befreite, indem ihr nun das Ende, das sie erlitten hatte oder erleiden sollte, nicht mehr sinnlos erschien. So versuchte er es gar nicht mit Worten der Beruhigung und des Trostes, die in dieser Stunde ihren Sinn nicht erfüllt hätten; denn er ahnte, daß sie den Sohn, der ihr so lange ein Verlorener gewesen war, gleichsam wiedergefunden, in dem Augenblick, da er zum Vollstrecker einer ewigen Gerechtigkeit geworden war.

Nachdem sie gesprochen, sank sie schwer zurück. Alfred fühlte, wie sie ihm nun wieder entrückt war und immer weiter entrückte, und endlich erkannte sie ihn nicht mehr.

Im Laufe der nächsten Stunden trat eine Verschlimmerung ein, mit der die behandelnden Ärzte immerhin gerechnet hatten, –[880] und plötzlich, unerwartet, erlosch sie, noch ehe man eine rettende Operation an ihr aus zuführen vermochte.

Alfred sprach mit dem Ex-officio-Verteidiger, der für den Muttermörder Franz bestellt war, und in der Verhandlung versuchte der beflissene junge Anwalt, jenes Geständnis der Mutter, das Alfred ihm zur Verfügung gestellt hatte, als mildernden Umstand geltend zu machen. Er hatte beim Gerichtshof nicht viel Glück. Der Staatsanwalt bemerkte mit nachsichtigem Spott, daß der Angeklagte jene erste Stunde seines Daseins wohl kaum im Gedächtnis bewahrt haben dürfte, und sprach sich im allgemeinen gegen gewisse, sozusagen mystische Tendenzen aus, die man nun auch schon zur Verdunkelung völlig klarer Tatbestände und damit, wenn auch manchmal in zweifellos guter Absicht, zur Beugung des Rechtes auszunützen versuche. Der Antrag auf Ladung eines Sachverständigen wurde abgelehnt, schon darum, weil man ja wirklich nicht entscheiden konnte, ob in diesem Fall ein Arzt, ein Priester oder ein Philosoph zu so verantwortlichem Amt berufen gewesen wäre. Als mildernden Umstand ließ man einzig und allein des Angeklagten uneheliche Geburt und die damit verbundenen Mängel seiner Erziehung gelten. So lautete das Urteil auf zwölf Jahre schweren Kerker, verstärkt durch Dunkelhaft und Fasten an jedem Jahrestage der Tat.

Therese Fabiani war zu dem Zeitpunkt, als die Verhandlung stattfand, längst begraben. Doch neben einem bescheidenen, dürren, immergrünen Kranz mit der Aufschrift: »Meiner unglücklichen Schwester« lag ein blühender Frühlingsstrauß, noch unverwelkt, auf dem Grab; die schönen Blumen waren mit erheblicher Verspätung aus Holland angelangt.

Quelle:
Arthur Schnitzler: Gesammelte Werke. Die erzählenden Schriften, 2 Bände, Band 2, Frankfurt a.M. 1961.
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