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[667] Die Nachrichten aus Salzburg waren in dieser ganzen Zeit spärlich gewesen; sie selbst hatte bei ihrer fluchtartigen Abreise eine Adresse natürlich nicht angegeben, und die erste Antwort, die sie endlich nach Monaten an ein Stellungsbureau erbeten hatte, fiel so flüchtig aus, wie es ihre eigenen Abschiedsworte gewesen waren. Klang aber anfangs in den Briefen der Mutter noch ein Ton der Verletztheit durch, so hätte man aus den späteren schließen können, daß Therese eigentlich im besten Einvernehmen mit ihr das Haus verlassen hatte. Und waren auch Theresens Briefe bei aller Zurückhaltung so abgefaßt, daß eine mitfühlende Seele immerhin die Jämmerlichkeit und das Elend ihrer Existenz aus ihnen hätte herauslesen können – die Mutter schien dergleichen nicht zu bemerken, und es kam sogar vor, daß sie ihrer Genugtuung über Theresens Wohlbefinden Ausdruck gab. Doch was Hohn hatte scheinen können, war nichts anderes als Zerstreutheit. Oft genug kamen in diesen Briefen völlig gleichgültige, ja Theresen unbekannte Namen vor. Vom Vater hieß es nur, daß sein Zustand »im ganzen unverändert« sei, und vom Bruder war[667] überhaupt keine Rede, bis plötzlich eine Karte eintraf, die nichts anderes enthielt als den im Ton eines leisen Vorwurfs geäußerten Wunsch, Therese möge sich doch einmal nach Karl umsehen, von dem sie, die Mutter, seit Wochen überhaupt nichts höre und den sie während der Ferien in Salzburg vergeblich erwartet habe.

Die Adresse war angegeben, und so machte sich Therese an einem freien Spätsommernachmittag auf den Weg zu ihm. In einem ärmlichen, doch ordentlich gehaltenen Zimmer saß sie ihm gegenüber, durch dessen Fenster nichts zu sehen war als eine nackte Mauer mit Luken, hinter denen die Treppe eines benachbarten Hauses hinanstieg. Wie Therese aus Karls Fragen entnahm, wähnte er sie erst vor kurzer Zeit hier angekommen, fand es höchst vernünftig, daß sie sich auf eigene Füße gestellt habe, äußerte sich bedauernd zum Siechtum des Vaters, das sich noch über Jahre hinziehen könne, und tat der Mutter überhaupt keine Erwähnung. Er erzählte ferner, daß er die zwei Söhne eines klinischen Professors gegen ein sehr mäßiges Entgelt viermal wöchentlich drei Stunden lang unterrichte, was ihm für später immerhin manchen Vorteil bringen könnte, und sprach mit auffallender Lebhaftigkeit von allerlei Mißständen an der hiesigen Universität, von der Protektionswirtschaft, von der Bevorzugung der Professorensöhne, insbesondere aber von der Verjudung der Hochschule, die einem den Aufenthalt in den Hörsälen und Laboratorien geradezu verleiden könne. Nach einiger Zeit entschuldigte er sich, daß er nun leider fort müsse, da jeden Sonntagabend eine Zusammenkunft gleichgesinnter Kollegen in einem Kaffeehaus stattfinde, bei der er als Schriftwart nicht fehlen dürfe. Er begleitete Therese die Treppe hinunter und verabschiedete sich von ihr schon am Haustor mit einem flüchtigen: »Laß bald wieder von dir hören.« Sie blickte ihm nach, er schien ihr gewachsen, sein Gewand saß ordentlich, aber etwas schlotternd, er trug einen steifen braunen Hut und erschien ihr mit seinem ungewohnt hastigen Gang in seiner ganzen so veränderten Erscheinung wie ein fremder Mensch. Entmutigt und wie neuerdings vereinsamt, denn nun merkte sie erst, daß sie sich von diesem Besuche irgend etwas erwartet hatte, nahm sie wieder den Weg nach Hause.

Quelle:
Arthur Schnitzler: Gesammelte Werke. Die erzählenden Schriften, 2 Bände, Band 2, Frankfurt a.M. 1961, S. 667-668.
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