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[668] Seit einigen Wochen war sie in Stellung im Hause eines Reisenden, wo sie das einzige fünfjährige Söhnchen zu betreuen hatte. Den Vater hatte sie nur zweimal flüchtig zu sehen bekommen, als einen kleinen, immer eiligen, vergrämten Mann, die Frau verhielt sich mit einer gewissen gleichgültigen Freundlichkeit ihr gegenüber, den Buben, ein hübsches blondes Kind, hatte sie beinahe liebgewonnen, und so hoffte sie, daß ihr in diesem Haus endlich ein längeres Verweilen gegönnt sein würde. Als sie an einem Sonntagabend früher als erwartet heimkam, fand sie das Kind schon zu Bette gebracht, aus dem benachbarten Zimmer hörte sie flüsternde Stimmen; nach einer kurzen Weile trat die Frau heraus in einem flüchtig umgeworfenen Morgenkleide, verlegen und ärgerlich, ersuchte sie, in der Nähe etwas kalten Aufschnitt zu besorgen, und als Therese wieder heimkehrte, fand sie die Frau sorgfältig angekleidet am Bett des Kindes sitzen, mit ihm ein Bilderbuch durchblätternd. Gegenüber Theresen zeigte sie sich heiter und unbefangen, plauderte ungewohnterweise mit ihr über häusliche Angelegenheiten; am nächsten Morgen aber, unter einem nichtigen Vorwand, erteilte sie ihr die Kündigung. Wieder stand Therese auf der Straße. Zum erstenmal kam ihr der Gedanke, wieder heimzureisen. Aber ihr Geld reichte kaum für das Billett, und so begab sie sich mit ihrem kleinen Handkoffer wieder einmal auf den Weg in das alte Vorstadthaus auf der Wieden mit den vielen Höfen und Stiegen, wo sie bei der Witwe Kausik schon etliche Male in den Pausen zwischen einer Stellung und der andern übernachtet hatte. Sie schlief dort in einem elenden Zimmer zusammen mit der Frau und den Kindern; im ganzen Hause roch es nach Petroleum und schlechtem Fett, auf dem Hof gab es schon um drei Uhr morgens den Lärm von knarrenden Rädern, wieherden Pferden und rohen Männerstimmen, der sie immer vor der Zeit, auch diesmal wieder, aus dem Schlafe weckte. Die Stunden des ruhigen, allmählichen Erwachens, wie sie ihr noch vor kurzer Zeit in der Heimat vergönnt gewesen waren, kamen ihr in wehmütige Erinnerung, zum erstenmal faßte sie mit Schrecken die Tiefe ihres Abstiegs und die Geschwindigkeit, mit der er sich vollzog. Und mit vollkommen klarer Besinnung erwog sie zum erstenmal die Möglichkeit, von ihrer Jugendfrische, von ihren körperlichen Reizen, wie es so viele andere in ihrer Lage taten, Nutzen zu ziehen und sich[669] einfach zu verkaufen. Jene andere Möglichkeit: geliebt zu werden, wieder einmal glücklich zu sein, hatte sie seit ihrer ersten Enttäuschung nicht mehr in Betracht gezogen, und die täppischen und widerlichen Annäherungsversuche, die sie im Laufe der letzten Monate von Dienstherren, Fleischhauergehilfen, Handlungskommis hatte erdulden müssen, waren nicht angetan gewesen, sie zu Abenteuern zu verlocken. So bot sich ihrer ermüdeten und enttäuschten Seele von allen Formen der Liebe gerade die gewerbsmäßige als die reinlichste und anständigste dar. Sie gab sich noch eine Frist von einer Woche. Fand sich bis dahin keine gute Stellung, dann, so schien es ihr in dieser trüben Morgendämmerstunde, blieb ihr nur mehr die Straße übrig.

Quelle:
Arthur Schnitzler: Gesammelte Werke. Die erzählenden Schriften, 2 Bände, Band 2, Frankfurt a.M. 1961, S. 668-670.
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