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[672] Am nächsten Tag trat Therese ihre neue Stellung an. Durch besondere Liebenswürdigkeit versuchte man, ihr über die Verlegenheit des ersten Mittagstisches hinwegzuhelfen, an dem sie auch den Sohn des Hauses, George, wie man seinen Namen französisch aussprach, kennenlernte, einen leidlich hübschen Burschen von achtzehn Jahren, der als Student der Rechte an der Universität inskribiert war.[672]

Eine Tageseinteilung für Therese ergab sich von selbst. Beide Mädchen besuchten die Schule, von Theresen wurden sie hinbegleitet und wieder abgeholt, sie war ihnen bei den Aufgaben behilflich, auf Regelmäßigkeit der Spaziergänge wurde von Frau Eppich besonderer Wert gelegt. Das Verhalten beider Eltern blieb weiterhin freundlich, wenn sich auch Therese bald über die vollkommene innere Gleichgültigkeit ihr gegenüber keiner Täuschung hingeben konnte. Man machte es ihr leicht, sich an den Gesprächen während der Mahlzeiten zu beteiligen, zuweilen wurden politische Themen angeschlagen, und mit unverkennbarer Absicht gab bei solcher Gelegenheit Dr. Eppich höchst liberale Ansichten zum besten, gegen die sich niemand wandte als sein eigener Sohn, der dem Vater allzu weitgehenden Idealismus vorwarf, was dieser nicht ungern, fast geschmeichelt zu hören schien. Was Frau Eppich anbelangt, so gab es Tage, an denen sie nicht nur für ihre Töchter, sondern auch für wirtschaftliche Angelegenheiten des Hauses das lebhafteste Interesse zeigte, bald in diesem, bald in jenem Zimmer unerwartet auftauchte und Anordnungen traf; – und andere, an denen sie sich um Haus, Wirtschaft und Kinder nicht im geringsten kümmerte und für Therese außer bei den Mahlzeiten unsichtbar blieb. George machte sich im Zimmer seiner Schwestern öfter zu schaffen, als unumgänglich notwendig war, seine Blicke, bald schüchtern, bald unverschämt, verrieten Theresen bald, daß er in ihrer Nähe Wünsche und vielleicht Hoffnungen hegte, von denen sie aber, vollkommene Zurückhaltung bewahrend, nichts zu merken schien. Das ältere der beiden Mädchen schien manchmal geneigt, sich Theresen mit Herzlichkeit an- und aufzuschließen, hielt sich aber, wenn dies an irgendeinem Tage fast geschehen war, an den darauffolgenden wie mit Absicht nur noch ferner von ihr. Die jüngere war von einer gleichmäßigen, noch durchaus kindlichen Heiterkeit, und beide Töchter hingen an der Mutter mit großer Zärtlichkeit, die, wie Therese manchmal zu merken glaubte, von dieser nicht in gleicher Weise und oft nur zerstreut, ja ungeduldig erwidert wurde.

Für sich selbst hatte Therese wenig Zeit übrig. An jedem zweiten Sonntag hatte sie »Ausgang«, wie der Ausdruck lautete, doch wußte sie kaum, was sie mit ihren freien Stunden anfangen sollte, und benutzte sie ohne rechte Lust zu Spaziergängen und, selten, zu einem Theaterbesuch. Über die Behandlung im Hause hatte sie sich auch weiterhin kaum zu beklagen, trotzdem kam[673] allmählich eine gewisse Unruhe, ja beinahe ein Gefühl von Unsicherheit über sie, als dessen Ursache sie die sonderbar wechselnden Stimmungen innerhalb der Familie zu erkennen glaubte, in die sie selbst unwillkürlich einbezogen wurde, ohne recht zu wissen wie. Kein Wesen war da, dem sie sich anvertrauen konnte oder wollte. Nur eine französische Erzieherin, nach Theresens Auffassung kaum mehr ganz jung zu nennen, obwohl sie die Dreißig noch nicht überschritten hatte, war ihr etwas sympathischer, und sie benützte die Gelegenheit, durch Unterhaltungen mit ihr sich in der französischen Konversation zu vervollkommnen. Sylvie war amüsant, vertraute Theresen, wenn auch mit einiger Zurückhaltung, allerlei nicht unbedenkliche Geschichten aus ihrer Vergangenheit an und versuchte auch Therese zu persönlichen Mitteilungen zu ermuntern. Diese, von Natur verschlossen, erzählte nicht viel mehr als sie auch dem fremdesten Wesen hätte sagen dürfen, merkte aber, daß Mademoiselle Sylvie an ihre Unverdorbenheit nicht recht glauben wollte. Therese wunderte sich manchmal selbst, daß sich ihr Herz, ja, daß sich kaum ihre Sinne mehr jener verflossenen Seligkeiten in den Armen des Leutnants zu erinnern vermochten. Die Enttäuschung über seinen Betrug war ja längst verschmerzt, trotzdem war ihr, als könne sie niemals mehr einem Manne Glauben schenken, und manchmal war sie darüber froh. Es schmeichelte ihr auch ein wenig, daß sie sich eines vortrefflichen Rufs erfreute und daß Frau Eppich gegenüber den Bekannten des Hauses Theresens Abstammung aus einer alten österreichischen Offiziersfamilie nicht ungern erwähnte.

Quelle:
Arthur Schnitzler: Gesammelte Werke. Die erzählenden Schriften, 2 Bände, Band 2, Frankfurt a.M. 1961, S. 672-674.
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