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[674] Der Frühling kam heran, und am zweiten Osterfeiertage, früh am Nachmittag, erwartete Therese auf dem Stefansplatz die Gouvernante eines den Eppichs befreundeten Hauses, eine gutmütige, ziemlich verblühte Person, für die sie vom ersten Augenblick an nicht so sehr Freundschaft als Mitleid empfunden hatte. Das Fräulein ließ auf sich warten, und Therese vergnügte sich indes damit, die Vorübergehenden zu betrachten, die an diesem milden blauen Feiertag, alle wie von Sorgen befreit, irgendeinem heiteren Ziele zuzustreben schienen. An Liebespaaren war kein Mangel; Therese, ohne daß sich gerade Neid in ihr regte, empfand es als[674] etwas lächerlich, daß sie hier nicht einen Liebhaber, sondern eine ältliche Gouvernante erwartete, mit der sie durch keinerlei Gemeinsamkeit als durch die Ähnlichkeit des Berufs verbunden war; und es wurde ihr vor dem bevorstehenden, voraussichtlich langweiligen Nachmittag, den sie mit ihr verbringen sollte, beinahe ängstlich zumut. Da schon eine halbe Stunde über die verabredete Zeit verstrichen war, beschloß sie, sich allein ins Freie zu wagen. Noch einmal aus Gewissenhaftigkeit sah sie sich nach allen Seiten um, ob die andere nicht doch vielleicht von irgendwoher noch käme; dann aber verließ sie eiligst den Platz des Stelldicheins, tauchte im Strome der Spaziergänger unter und freute sich ihres Alleinseins, ihrer Freiheit und auch der Rätselhaftigkeit, von der jede nächste Stunde leuchtet, die keinen vorbestimmten Inhalt birgt. Es fügte sich, daß sie von der Menge geschoben und zugleich geführt den Weg gegen den Prater zu nahm und sich endlich in der Hauptallee fand, deren Bäume alle noch kahl standen, während der Erdboden schon nach Frühling duftete. Die Fahrbahn war von Wagen belebt und wurde belebter von Minute zu Minute, da in Fiakern und Equipagen das Publikum eben von den Rennen in der Freudenau zurückgefahren kam. Gleich vielen anderen stellte sich auch Therese für eine Weile am Wegrand hin; mancher Blick streifte sie, mancher wandte sich nach ihr zurück, unter anderen der eines jungen Offiziers, der, Max ein wenig ähnlich, ihr doch vornehmer, geradezu edler als ihr Verführer auszusehen schien. Übrigens war sie sich längst klar darüber, daß sie sich damals weggeworfen hatte, und sie versprach sich, ein nächstes Mal klüger zu sein.

Sie ging die dicht belebte Allee weiter und war nun im Bereich der Musikkapellen, die in den überfüllten Restaurationsgärten nicht nur für die Gäste an den Tischen spielten. Hunderte, Tausende wandelten vorüber, blieben stehen, drängten sich an die Zäune, und Therese freute sich, wie die Orchester einander ablösten und ineinandergriffen, wie in die sanfte Weise des einen nahen plötzlich von einem entfernteren her ein wüster Trommelschlag oder Tschinellenklang tönte und wie das Traben der Pferde, das Flüstern, Reden, Lachen der Menge, ja, wie die Lokomotivpfiffe vom Eisenbahnviadukt her gleichfalls an dem großen Festkonzert zum Empfange des Frühlings mitwirkten. –

Bisher hatte ihre dunkle, schlichte Kleidung und ihre unbewegte, fast gewohnheitsmäßig strenge Miene jede Zudringlichkeit von ihr ferngehalten. Nur als sie früher für eine kurze Weile[675] an der Umzäunung eines Gasthausgartens stehengeblieben war, hatte ein junger Mensch sich allzu nah an sie herangedrängt, war aber auf eine heftig abwehrende Armbewegung von ihr wieder verschwunden, ohne daß sie nur seine Züge deutlich wahrgenommen hätte. Als sie nun unter den noch laublosen Bäumen, vom Lärm und von der Musik sich entfernend, weiterging, merkte sie, daß sie sich jener absichtlichen Berührung nicht gerade mit Widerwillen erinnerte. Rasch, beinahe fliehenden Schrittes eilte sie weiter. Der Menschenstrom versickerte allmählich; auf einer Bank, der ersten, die unbesetzt war, dachte Therese für eine Weile auszuruhen. Ein junger Mensch kam an ihr vorüber, der ihr schon von weitem durch seine Erscheinung aufgefallen war: ein frisch gebügelter, doch schlecht sitzender, lächerlich heller Anzug schlotterte um seine hagere, schlanke Gestalt, er tänzelte mehr als er ging, beide Hände in den Hosentaschen; in der rechten, lose zwischen zwei Fingern, hielt er überdies seinen weichen braunen Hut. Er streifte Therese mit einem kindlichen und doch etwas tückischen Blick, nickte ihr zu, freundlich, herzlich beinahe, keineswegs frech, so daß sie den Gruß fast erwidert hätte und unwillkürlich lächelte. Nach ein paar Schritten machte er plötzlich kehrt, schritt rasch auf sie zu und nahm ohne weiteres neben ihr Platz. Sie wollte aufstehen, da hatte er auch schon zu reden angefangen, als hätte er ihre Bewegung nicht bemerkt, sprach von dem schönen Frühlingswetter, dem Pferderennen, dem er beigewohnt, dem Sturz eines Jockeis bei der Steeplechase, scherzte über ein auffallend gekleidetes Paar, das eben vorbeiging, fragte endlich Therese, ob sie den Wagen der Erzherzogin Josefa und den Viererzug des Barons Springer vorbeifahren gesehen habe und ob es nicht hübsch sei, die Musik von ganz ferne herklingen zu hören wie aus einer anderen Welt. Therese, von dem Schwall seiner Worte ein wenig benommen, erwiderte kurz, nicht eben unfreundlich; plötzlich aber erhob sie sich, grüßte flüchtig, – da stand auch er ohne weiteres auf, ging neben ihr einher und plauderte weiter. Er begann zu raten, wer sie eigentlich sein könnte; eine Wienerin keineswegs. O nein. Und als sie lächelte –: vielleicht eine Reichsdeutsche? sie spräche so gebildet. Ah, eine gebürtige Italienerin sei sie! Ja, gewiß. Die dunklen Haare, der glühende, verheißungsvolle Blick; eine Italienerin, gewiß! – Fast erschrocken sah sie zu ihm auf. Er lachte. Nun jedenfalls stamme sie aus dem Süden, ihre Eltern, ihre Ahnen jedenfalls, daß sie selbst eine Wienerin sei, das höre man ja ganz genau,[676] trotzdem sie so wenig rede – und eigentlich hochdeutsch. War sie etwa eine Schauspielerin? eine Sängerin? eine Primadonna? oder etwa eine Hofdame? Jawohl, eine Hofdame, die es lockte, sich einmal das Treiben des Volkes in der Nähe zu besehen, – wenn nicht gar eine Prinzessin oder eine Erzherzogin? Natürlich, eine Erzherzogin!

Davon war er nicht mehr abzubringen, und er tat sogar, als wenn es ihm ganz ernst damit wäre. Alles stimme dafür: die unauffällige, aber, wie er sich ausdrückte, hochdistinguierte Kleidung, die Haltung, der Gang, der Blick, – und er blieb hinter ihr stehen, ließ sie ein paar Schritte vorausgehen, um Haltung und Gang von rückwärts zu bewundern. »Hoheit,« sagte er plötzlich, als sie wieder in den Bereich der Musikkapellen gelangt waren, »es wäre mir eine besondere Ehre, Hoheit zu einem Souper einzuladen, aber die Wahrheit zu sagen – Armut ist keine Schande und Reichtum kein Unglück –, mein Vermögen beläuft sich leider nur auf einen Gulden netto. Das würde kein sehr fürstliches Mahl werden. Also müßten sich Hoheit Ihr Nachtmahl selber zahlen.«

Sie fragte ihn lachend, ob er verrückt sei. »Nichtsdestoweniger«, erwiderte er ernsthaft.

Sie beschleunigte ihre Schritte. Es sei spät, sie müsse nach Hause. Nun, so würde sie ihm doch wenigstens gestatten, daß er sie bis zur Hofequipage begleite, die sicher irgendwo auf sie warte. Beim Schweizerhaus –? beim Preuscherschen Museum? Oder beim Viadukt? Sie waren indes auf einen Seitenweg gelangt; in einem einfacheren Wirtsgarten hinter einem grünen Staketzaun bei Bier, Salami und Käse ließ ein geringeres Publikum sich's behaglich sein und an der Musik genügen, die in abgerissenen Klängen aus benachbarten und ferneren Gärten herübertönte. Und bald, zu ihrem eigenen Staunen, saß Therese mit ihrem Begleiter an einem ziemlich wackeligen Tisch mit rotgeblümter Decke, und beide verzehrten mit Appetit, was ihnen der schwitzende, in einen fettglänzenden Frack gekleidete Kellner vorsetzte. – »Oh, Herr Swoboda«, sprach ihn Theresens Begleiter an, als kennte er ihn längst, und stellte allerlei spaßhafte Fragen an ihn. »Was macht der Herr Großpapa? Noch immer Wahrsager? Und das Fräulein Tochter? Immer noch Dame ohne Unterleib?« Dann überbot er sich in komischen Entschuldigungen, daß er es gewagt, die Prinzessin in ein so unmögliches Lokal zu bringen. Aber hier sei auch weniger Gefahr, daß ihr Inkognito gelüftet werde. Dann lenkte er ihre Aufmerksamkeit auf einzelne Figuren;[677] auf den Herrn im dunklen Überzieher und dem in die Stirn gedrückten steifen Hut – sicher ein Defraudant auf der Flucht –, auf die zwei Soldaten mit ihren Liebsten, die, jedes Paar gemeinsam, aus je einem Krügel ihr Bier tranken, auf den glotzäugigen Familienvater mit der dicken Frau und den vier Kindern, auf den uralten, glattrasierten Herrn, der unter der Laterne saß und vor sich hin brummte, und endlich entdeckte er mit gutgespieltem Schreck in einem Winkel des Gartens einen Herrn in Schwarz, mit Zylinder sonderbarerweise, der natürlich nur ein Geheimpolizist sein konnte. Offenbar zur Bewachung der Prinzessin hier anwesend. –

Alles, was er so zum besten gab, war nicht im geringsten witzig und im Ausdruck ziemlich trivial; und Therese fühlte das wohl. Aber nach den langen Monaten, in deren Verlauf niemand ein harmlos-lustiges Wort zu ihr gesprochen, in dieser stets drückenden Atmosphäre von Unfreiheit und Anstand, hatte sich in Theresen unbewußt eine solche Sehnsucht nach Fröhlichkeit aufgespart, daß sie jetzt, an der Seite eines Menschen, den sie vor einer Stunde noch nicht gekannt, unbeobachtet, frei, überdies von zwei rasch genossenen Gläsern Wein leicht benommen, begierig die erste armselige Gelegenheit ergriff, selbst ein wenig fröhlich zu sein und zu lachen. Flüchtig überlegte sie, was ihr Begleiter eigentlich sein mochte. Maler vielleicht? oder Schauspieler? Nun, was immer – jedenfalls war er jung und unbekümmert, und ganz bestimmt war es lustiger heute, als es damals in Salzburg in dem vornehmen Hotelgarten mit Alfred gewesen war. Und sie fragte ihren Begleiter, ob er Salzburg kenne. Salzburg? aber natürlich war er dort gewesen. Auch in Tirol, auch in Italien, auch in Spanien –; bis Malta sei er gekommen. Ob sie denn noch nicht erraten habe, daß er ein Handwerksbursche sei, ein patentierter Handwerksbursche, der mit dem Ränzel durch die Welt wandere? Gestern erst sei er wieder hier angelangt, eigentlich mit der Absicht, morgen wieder sein Bündel zu schnüren. Aber wenn er die Hoffnung hegen dürfe, ihre Hoheit wiederzusehen, so sei er bereit, ein paar Tage zuzugeben, und Nächte, setzte er beiläufig hinzu.

Der Zahlkellner stand da, sie beglichen, jeder für sich, ihre Zeche, dann verließen sie den Garten; der Unbekannte nahm Theresens Arm und ließ ihn nicht los. Zwischen Buden, Schießstätten, Wirtshäusern, Ringelspielen, während überall der Feiertagslärm allmählich zu verklingen begann, schritten sie dem Ausgang zu.[678] Mit einem Ausrufer, der in böhmischem Dialekt zum Besuche eines magischen Kabinetts mit pikanten Überraschungen einlud, ließ sich Theresens Begleiter, den Dialekt nachahmend, zur Erheiterung der Umstehenden in eine Unterhaltung ein. Das behagte Theresen wenig, sie löste ihren Arm aus dem seinen, wollte gehen, doch er war gleich wieder bei ihr. Bei einem Wagenstand stellte er sich an, als wenn er nach einer Hofequipage suchte und untröstlich sei, sie nicht zu finden. »Nun ist der Spaß zu Ende,« sagte sie, »und ich glaube, es ist das Beste, wir sagen uns Adieu.«

»Nun, wenn der Spaß zu Ende ist,« sagte er mit einem unerwarteten Ernst, »so schickt es sich wohl, daß ich mich in aller Form vorstelle: Kasimir Tobisch. Früher einmal«, setzte er mit Selbstironie hinzu, »von Tobisch, aber«, so erklärte er gleich, es habe wenig Sinn, den Adel zu fuhren, wenn man ein armer Schlucker sei. Und nun sollte die Gnädigste einmal raten, was er außerdem noch sei. – »Maler«, sagte sie, ohne sich lange zu bedenken. – Er nickte rasch. Es stimmte. Er wäre Maler und Musiker, je nachdem. Ob die Gnädigste nicht einmal sein Atelier besichtigen wolle? Als sie darauf nicht einmal antwortete, begann er wieder von seinen Reisen zu reden. Oh, nicht nur in Italien sei er gewesen, auch in Paris, auch in Madrid und in England, als Maler und Musiker. Orchestermusiker, er spiele so ziemlich alle Instrumente, von der Flöte bis zur großen Trommel. Ach, was war Madrid für eine Stadt, geheimnisvoll und romantisch. Aber Rom, das ging doch über alles. Die Katakomben zum Beispiel: eine Million Skelette und Totenköpfe rief unter der Erde, – es war nicht gemütlich, dort unten herumzuspazieren. Wenn man sich verirrte, war man verloren. Einem seiner Freunde war es passiert, aber er wurde noch gerettet. – Und das Colosseum – ein Riesenzirkus, hunderttausend Menschen hatten Platz darin. Jetzt war es verfallen, und der Mond stand darüber. Natürlich nur bei Nacht. Haha!

Sie näherten sich dem Hause, in dem Therese wohnte, sie ersuchte ihn zurückzubleiben, auf seine Bitte gab sie ihm Namen und Adresse; – und überdies ein Stelldichein für heute in zwei Wochen. Sie merkte, daß er ihr in einiger Entfernung folgte und an der Ecke stehenblieb, bis sie im Tor verschwunden war.

Quelle:
Arthur Schnitzler: Gesammelte Werke. Die erzählenden Schriften, 2 Bände, Band 2, Frankfurt a.M. 1961, S. 674-679.
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