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[684] Um Kasimir öfters als alle vierzehn Tage nur einmal zu sehen, mußte Therese zu allerlei Ausreden ihre Zuflucht nehmen; – bald schützte sie einen Theaterbesuch mit einer Freundin, bald eine unerläßliche Zusammenkunft mit ihrem Bruder vor, um gelegentlich auch abends das Haus verlassen zu können. Da sie im übrigen ihre Pflichten als Erzieherin gewissenhaft erfüllte, schien man ihr diese kleinen Unregelmäßigkeiten nicht weiter übelzunehmen.

Der Freund Kasimirs, mit dem er seiner Angabe nach das Atelier gemeinsam bewohnte, war unerwartet, so erzählte Kasimir, von einer Reise zurückgekehrt und die Alleinbenützung des Raumes für ihn fraglich und unsicher geworden. So war das Liebespaar, wenn es ungestört sein wollte, darauf angewiesen, in übeln Gasthofzimmern flüchtig einzukehren, deren Miete, wenn Kasimir nicht eben bei Kasse war, von Therese bezahlt werden mußte. Sie tat es nicht ungern, ja, es bereitete ihr eine gewisse Genugtuung. Freilich hatten seine ständigen Geldverlegenheiten zur Folge, daß er häufig recht mißgestimmt war; und einmal geschah es, daß er Therese ohne jeden ersichtlichen Grund in der heftigsten Weise anfuhr. Aber als sie, dieses Tones ungewohnt, wortlos von seiner Seite aufstand, sich rasch ankleidete und Miene machte, sich zu entfernen, warf er sich vor ihr auf die Kniee und erflehte ihre Verzeihung, die sie ihm, allzu rasch, wie sie fühlte, zu gewähren bereit war.

In den ersten Julitagen sollte die Familie des Advokaten nach Ischl aufs Land ziehen. Therese dachte daran, ihre Stellung zu wechseln, nur um Kasimir nahebleiben zu können. Er selbst aber riet ihr ab und versprach ihr, sie im Sommer zu besuchen, sich vielleicht nah von ihr, in einem Bauernhaus, einzumieten oder, wenn's nicht anders ging, irgend etwas Abenteuerliches zu unternehmen, nur um bald wieder mit ihr beisammen zu sein.

Am letzten Sonntag, vor der Übersiedlung nach Ischl, machten sie einen Ausflug in den Wiener Wald. Am späten Nachmittag saßen sie in einem Wirtsgarten auf einem Wiesenhang, ringsum[684] stand wehender Wald. An den Tischen tranken, sangen, lachten die Leute, Kinder liefen und stürzten auf und ab, drin in der Wirtsstube beim offenen Fenster saß ein dicker Mensch in Hemdärmeln und spielte auf einer Harmonika. Kasimir hatte heute Geld, er ließ es sich und Theresen an nichts fehlen. In ihrer Nähe saß ein Ehepaar mit zwei Kindern, Kasimir begann ein Gespräch mit den Eltern, in dem er die herrliche Aussicht zur Donauebene pries, trank ihnen zu, fand das »Weinderl« nicht übel, berichtete von köstlichen ausländischen Sorten, die er auf seinen Reisen getrunken, vom Veltliner, vom Santa Maura, vom Lacrimae Christi und vom Xeres de la Frontera. Dann erzählte er Geschichten von Räuschen, die er mit angesehen, zur Belustigung der Gesellschaft äffte er das Torkeln und Lallen eines Betrunkenen nach, und endlich begann er zu den Klängen der Harmonika eine komisch-trübselige Melodie zu singen. Man klatschte ringsum in die Hände, und Kasimir dankte mit scherzhaften Verbeugungen. – Therese fühlte sich immer trauriger werden. Wenn sie nun unversehens aufstände und verschwände, – würde er's nur merken? Und wenn sie plötzlich ganz aus seinem Leben fort wäre, würde er sie vermissen und sich darüber Gedanken machen? Und selbst erschreckt von dieser plötzlichen Erleuchtung, fragte sie sich, ob sie nicht gut daran getan hätte, ihm eine gewisse Besorgnis, zu der sie Ursache zu haben glaubte und die auch ihm eine bedeuten müßte, schon auf dem Herwege mitzuteilen. Nun würde sie es gewiß nicht mehr über sich bringen. Wozu auch? Und morgen schon konnte sich ihre Sorge als überflüssig erweisen.

Die Sonne war lange fort, der Wald stand schwarz und still. Aus der Ebene stieg sanft der Abend. Quer über den Hang, am Wirtshaus vorbei, marschierten Studenten mit roten Kappen. Unwillkürlich sah Therese hin, ob ihr Bruder nicht unter ihnen wäre. Aber der trug ja keine Kappe. Daß er bei einer Couleur war, das hatte sie ja auch nur gelogen, wie so vieles andere. Was Karl wohl dazu sagen würde, wenn ihre Angst sich als begründet erwiese? Ach, was ginge es ihn an! Ihn so wenig wie andere. Wem war sie Rechenschaft schuldig? Niemandem, nur sich selbst.

Es war beinahe dunkel, als sie sich mit Kasimir auf den Rückweg machte. Er schlang den Arm um sie, sie gingen den Wiesenhang abwärts, den Wald entlang. An einer abschüssigeren Stelle gerieten sie ins Laufen, fast fiel sie hin, sie lachten wie Kinder. Er umschlang sie fester, sie fühlte sich wieder wohl. Allzu rasch waren sie in der Ebene; und durch die belebten Straßen, zwischen[685] Gärten und Villen in lustigem Marschschritt wanderten sie weiter. In einem überfüllten Straßenbahnwagen fuhren sie der Stadt zu. Therese wurde es plötzlich wieder unbehaglich zumute, Kasimir aber, im Gedränge zwischen müden Weibern, lachenden Kindern, angeheiterten Männern, fühlte sich sichtlich so wohl, als wäre dies sein eigentliches Element. Sofort beteiligte er sich an dem albernen Geschwätz, das zwischen den Fahrgästen hin und her ging, spielte den Galanten, bedeutete einem dicken Herrn, er müsse sofort aufstehen, um einem hübschen, jungen Mädel seinen Sitzplatz einzuräumen, und bot ringsum von den Zigaretten an, die er oben im Wirtshaus erstanden hatte. Therese war froh, als die Fahrt zu Ende war. Bis zu ihrem Wohnhaus war es nah, vor dem Tor wurde noch rasch ein Rendezvous für das Ende der Woche verabredet, und Kasimir schien es plötzlich mit dem Abschied eilig zu haben. Sie sah ihm nach, bis das Tor sich hinter ihr schloß. Er hatte sich nicht einmal mehr nach ihr umgewandt.

Quelle:
Arthur Schnitzler: Gesammelte Werke. Die erzählenden Schriften, 2 Bände, Band 2, Frankfurt a.M. 1961, S. 684-686.
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