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[681] Therese wartete am Eingang des Stadtparks. Gegenüber, vor einem Ringstraßen-Café, saßen die Gäste im Freien und sonnten sich. Ein blasses Kind bot Theresen Veilchen zum Kauf an. Sie nahm einen kleinen Strauß. Ein Vorübergehender flüsterte ihr etwas ins Ohr, eine völlig unverblümte Aufforderung in so unverschämten Worten, daß sie nicht einmal wagte, sich umzuwenden. Sie wurde blutrot, aber nicht aus Zorn allein. War sie nicht[681] verrückt, daß sie wie ein Sklavin – wie eine Nonne lebte? Wie alle sie nur ansahen! Mancher wandte sich nach ihr um, einer, ein hübscher, eleganter Mensch, ging ein paarmal an ihr vorüber, wartete offenbar ab, wie lange sie noch allein bleiben würde. Es war vielleicht ganz gut, daß Kasimir nicht kam. Ein armer Teufel und ein Narr dazu – und gerade der? – warum denn? Sie hatte ja die Wahl.

Doch da kam er heran in einem ganz lichten Sommeranzug, nicht eben vom besten Schneider, wie man wohl bemerken konnte, aber er saß ihm ganz gut; den weichen Hut in der Hand, wie gewöhnlich, die andere Hand in der Hosentasche, ging er frei und leicht. Sie lächelte und war froh. Er küßte ihr die Hand, sie wandelten im Stadtpark hin und her, Arm in Arm, standen am Teich, sahen den Kindern zu, die die Schwäne futterten, Kasimir erzählte von einem Pariser Park und von einem Teich, darin er eines Abends herumgerudert war und im Kahn, im Schatten eines künstlichen Felsens, übernachtet hatte. »Wohl nicht allein?« meinte sie. Er legte die Hand beteuernd aufsein Herz. »Ich weiß nicht mehr. Vergangene Dinge.« – Therese wollte Von Paris und Rom und all den fernen Städten nichts mehr hören. Wenn er sich dahin sehne, so solle er doch lieber gleich wieder davonreisen. Er drückte ihren Arm fest an den seinen und lud sie ein, auf der Terrasse des Kursalons mit ihm eine Jause zu nehmen. An einem kleinen Tischchen ließen sie sich nieder, und Therese bekam plötzlich eine lächerliche Angst, daß man sie hier mit Kasimir sehen und darüber »ihrer Herrschaft« berichten könnte. Unter diesem Wort, das ihr durch den Sinn fuhr, beugte sie unwillkürlich den Kopf, und Kasimir, der sehr vornehm dasaß, mit überschlagenen Beinen, eine Zigarette rauchend, sagte ihr geradezu ins Gesicht, was in ihr vorginge. Sie schüttelte leise den Kopf, aber die Tränen waren ihr nahe. »Armes Kind«, sagte Kasimir, und mit Entschiedenheit fugte er hinzu: »Das soll anders werden.« Er rief nach dem Kellner, zahlte, die Geldstücke klapperten großartig und etwas lächerlich auf der Marmorplatte, dann stieg er mit Therese die breiten Stufen in den Park hinab. Er erzählte ihr, wie sehr er sich nach ihr gesehnt habe. Nur in der Arbeit habe er einige Ruhe gefunden. Er sprach von einem Bild, das er eben male, einer phantastischen Landschaft, »tropisch-utopisch«, und von anderen, die er fast fertig im Kopfe trage »Heimatsbilder«. – »Heimatsbilder?« – Ja, denn sonderbarerweise habe er auch so etwas wie eine Heimat. Und er sprach von dem kleinen[682] deutsch-böhmischen Städtchen, in dem er geboren war, von seiner Mutter, die heute noch als Witwe nach einem Notar dort wohne, von den bunten Blumenbeeten in dem kleinen Vorgarten, darin er als Kind gespielt hatte. Nun erzählte auch Therese von ihrer Familie, von dem Vater, der sich als General aus gekränktem Ehrgeiz erschossen, von der Mutter, die unter einem fremden Namen für große Zeitungen Romane schreibe, von ihrem Bruder, dem Couleurstudenten. Und sie selbst, ja, warum solle sie es nicht gestehen, sei einmal verlobt gewesen mit einem Offizier, dessen Eltern die Heirat mit einem armen Mädchen nicht zugeben wollten, – aber davon wolle sie lieber nicht reden, das sei eine zu traurige Erinnerung. Kasimir drang nicht in sie.

Sie spazierten durch Vorstadtstraßen, die Therese nicht kannte. Sie dachte ihres Kindertraums: sich auf fremden Wegen verlieren, von irgendwo wieder zurückkehren, wo einen niemand vermutet hatte. »Hier wären wir«, sagte Kasimir einfach. Sie blickte auf. Sie standen vor einem Zinshaus, das aussah wie hundert andere, er hielt ihren Arm fest, trat mit ihr ins Tor, sie gingen die Treppe hinauf, vorbei an Türen mit angenagelten Visitenkarten oder Messingschildern, an Gangfenstern, hinter denen gleichgültige Schatten huschten, und endlich ganz oben unter dem Dach öffnete Kasimir mit knarrendem Schlüssel eine Tür. In dem ziemlich geräumigen Vorzimmer stand nichts als eine Wäscherolle, die Wände waren fast kahl, an einer hing ein Abreißkalender. Durch die nächste Tür traten sie ins Atelier. Das riesige Fenster war fast zu zwei Drittel durch einen dunkelgrünen Vorhang verhängt, so daß es auf der einen Seite beinahe Tag, auf der anderen beinahe Nacht war. Im Dunkel stand eine große Staffelei mit einem durch ein schmutziges Tuch verhängten Bild. Auf einer alten Kommode lagen Bücher, auf einer länglichen Kiste eine Palette mit verschmierten Farben, daneben ein bläulicher Samtmantel. Auf dem Fußboden, halb gefüllt, standen kleinere und größere trübe Fläschchen und Flaschen. Es roch nach Terpentin, getranten Stiefeln und einem süßlichen Parfüm. Aus einem Winkel heraus leuchtete die Lehne eines roten Fauteuils. Kasimir warf seinen Hut kühn in eine Ecke, trat auf Therese zu, nahm ihren Kopf in beide Hände, guckte ihr vergnügt und etwas schielend in die Augen, umfaßte sie, zog sie zu dem Fauteuil hin und auf seinen Schoß nieder. Da der eine Fuß des Fauteuils nachzugeben schien, schrie sie leicht auf. Er beruhigte sie, dann begann er sie zu küssen, langsam, wie mit Bedacht. Sein Schnurrbart[683] roch nach einer Resedapomade, eigentlich nach einem Friseurladen, aus dem sie als Kind ihren Vater einmal abgeholt hatte. Seine Lippen waren feucht und kühl. –

Quelle:
Arthur Schnitzler: Gesammelte Werke. Die erzählenden Schriften, 2 Bände, Band 2, Frankfurt a.M. 1961, S. 681-684.
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