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[759] Mit dem vorzüglichen Zeugnis, das sie erhalten, hatte sie Freiheit der Wahl. Sie entschied sich für eine Familie Rottmann, wo ihr die beiden Töchter von dreizehn und zehn Jahren durch ihr offenes und lebhaftes Wesen schon bei der ersten Begegnung sympathisch gewesen waren. Die Mutter, Pianistin und, wie Therese gleich bei der ersten Unterredung erfuhr, häufig auf Konzertreisen, kam ihr mit fast übertriebener Liebenswürdigkeit entgegen, doch ihr unruhig-fahriges Wesen behagte Theresen nicht sonderlich. Aus dem Vater, einem ernsten, etwas melancholisch und auffallend jung wirkenden Mann, vermochte sie anfangs nicht klug zu werden. In den ersten Tagen hatte sie den Eindruck, als wenn er ein gern gesehener, mit Zuvorkommenheit behandelter Gast, aber nicht eigentlich der Herr des Hauses wäre. Dies änderte sich mit einem Schlag, als Frau Rottmann sich auf eine Konzertreise begab. Der Ton im Hause wurde freier, ungezwungener, von den beiden Mädchen schien ein Druck genommen, die Melancholie des Vaters verschwand, und die Dienstleute ordneten sich dem neuen Fräulein viel lieber unter, als sie es der Hausfrau gegenüber getan hatten. Von der Abwesenheit wurde kaum gesprochen; Briefe von ihr kamen nie, nur flüchtige Kartengrüße aus den verschiedenen deutschen Städten, in denen sie konzertierte. Therese war tätiger und befriedigter von ihrer Tätigkeit als jemals vorher, – sowohl als Leiterin des Haushaltes wie auch als Erzieherin der Kinder, deren erfreuliche Begabung den Unterricht geradezu zu einem Vergnügen gestaltete.

Als Frau Rottmann nach sechs Wochen wiederkam, wurde das sofort wieder anders, ja, ihr übler Einfluß wurde auch darin[759] offenbar, daß die beiden Mädchen geringere Fortschritte machten als während ihrer Abwesenheit und Herr Rottmann wieder in seine alte Melancholie verfiel. Den August verbrachte man in einer nahen einfachen Sommerfrische. Hier zog Frau Rottmann, anscheinend nur aus Langeweile, Therese plötzlich ins Vertrauen und erzählte ihr von allerlei Erlebnissen und Abenteuern, die ihr auf ihren Konzertreisen begegnet seien. Therese hätte sie lieber nicht angehört, wovon aber Frau Rottmann nichts merkte oder nichts merken wollte, da es ihr, wie Therese immer deutlicher fühlte, nur darauf ankam, in der für sie unerträglichen Einförmigkeit des Landlebens von verfänglichen Dingen zu sprechen, gleichgültig zu wem.

Kaum war man wieder in die Stadt gezogen, als die Geständnisse der Frau Rottmann ein jähes Ende nahmen. Im Herbst begab sie sich neuerdings auf Reisen, diesmal nach London, angeblich zu dem Zweck, um sich dort bei einem Pianisten von Weltruf weiter auszubilden. Sofort atmete wieder alles im Hause auf, und Therese fühlte sich in der Gesellschaft der beiden Mädchen und ihres Vaters so wohl, ja heimatlich, daß sie oft mit dem Gedanken spielte, ob sie sich nicht viel besser zu Rottmanns Frau und zur Mutter seiner Töchter eignen würde als jene andere. Der Mann gefiel ihr ganz besonders; sie ließ es ihn merken, die Nähe und Vertrautheit des täglichen Umganges tat das Weitere, und sie wurde seine Geliebte. Beide legten Wert darauf, daß das Verhältnis geheim bliebe, und sie hüteten sich sorgfältig im Beisammensein mit den andern, sich auch nur durch das geringste Zeichen gegenseitigen Einverständnisses zu verraten. Doch als Frau Rottmann vor Weihnachten wieder zurückkehrte, schien er mit einemmal vollkommen vergessen zu haben, was sich indes zwischen ihm und Therese ereignet hatte. Seine übergroße Vorsicht verletzte Therese, sie litt sehr, nicht nur aus beleidigtem Stolz; und als er wenige Wochen darauf nach neuerlicher Abreise seiner Gattin die Beziehungen zu Therese wieder aufnehmen wollte, wehrte sie sich anfangs mit Entschiedenheit. Aber er verstand es so gut, ihr die Notwendigkeit seines Verhaltens zu erklären, daß sie sich bald wieder seinen Wünschen fügte. Zuweilen ertappte sie sich auf dem Wunsche, daß Herr Rottmann auf irgendeine Weise, etwa durch anonyme Briefe, die Wahrheit über seine Frau erfahren möge; und einmal, in einer zärtlichen Stunde, wagte sie sogar selbst eine leise, wie scherzhafte Anspielung auf die Gefahren, denen schöne Frauen, insbesondere Künstlerinnen,[760] auf Reisen ausgesetzt seien. Aber Rottmann schien nicht einmal zu verstehen, daß es seine eigene Gattin war, von der in solchem Zusammenhang die Rede sein könnte.

Frau Rottmann kehrte um einige Tage früher als erwartet von ihrer Tournee heim, zeigte sich in ihrem Benehmen gegen Therese völlig verändert, richtete kaum das Wort an sie und hatte noch in der Ankunftsstunde hinter geschlossenen Türen eine Auseinandersetzung mit ihrem Gatten. Kaum hatte dieser das Haus verlassen, berief sie Therese zu sich, erklärte ihr, daß sie alles wisse, und nachdem sie anfangs die Überlegene gespielt, beschimpfte sie sie in der unflätigsten Weise.

Therese fand kein Wort der Erwiderung, ihre Empörung, daß der Mann sich feige jeder Auseinandersetzung entzogen und offenbar seiner Frau Vollmacht gegeben, die Angelegenheit ganz nach ihrem Willen zu erledigen, war stärker als ihr Schmerz. Frau Rottmann hatte auch dafür gesorgt, daß die Töchter einige Stunden vom Hause abwesend waren, und verlangte von Therese kategorisch, daß sie innerhalb dieser Zeit das Haus verlassen haben müsse.

Während Therese, in ihrem Zimmer allein gelassen, ihre Sachen packte, kam ihr die ganze schmachvolle Unsinnigkeit ihres Erlebnisses zu Bewußtsein. Und plötzlich faßte sie den Entschluß, nicht zu gehen, ehe sie der Frau und auch dem Manne alles ins Gesicht geschleudert, was sie zu hören verdienten. Aber Frau Rottmann war nicht mehr daheim, und das Dienstmädchen verständigte Therese mit einem unverschämten Grinsen, daß das Ehepaar sich gemeinsam ins Theater begeben habe. Ob sie vielleicht für das Fräulein den Wagen holen und das Gepäck hinunterbringen solle? Nein, erwiderte Therese, sie habe mit den Herrschaften noch zu sprechen, sobald sie aus dem Theater kämen. Zum Fortgehen angezogen saß sie da, mit zusammengebissenen Lippen; Handkoffer, Reisetasche lagen bereit; ein ungeheurer Zorn wühlte in ihr; und sie wartete. Die beiden Mädchen kamen nach Hause, waren aufs höchste erstaunt, als sie Therese reisefertig fanden. Sie bestürmten sie mit Fragen; Therese schluchzte, konnte längere Zeit nicht reden, endlich erklärte sie, sie habe ein Telegramm erhalten, daß ihre Mutter schwer erkrankt sei und sie sofort nach Salzburg reisen müsse. Dann erhob sie sich, umarmte die Mädchen so zärtlich, als wenn sie ihre eigenen gewesen wären, bat sie, ihr den Abschied nicht schwer zu machen, ging, wartete im Hausflur, bis ihr das Dienstmädchen einen Wagen geholt hatte, und fuhr davon.

Quelle:
Arthur Schnitzler: Gesammelte Werke. Die erzählenden Schriften, 2 Bände, Band 2, Frankfurt a.M. 1961, S. 759-761.
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