63

[761] In später Nachtstunde kam sie in Enzbach an; eine Davongejagte, Erniedrigte, Unglückliche, angeekelt von der Welt, aber mehr noch von sich selbst. Ihr Bub schlief fest; im Dunkel sah sie eben nur einen blassen Schimmer des geliebten Kindergesichtes; es fiel ihr schwer auf die Seele, daß sie zwei Monate lang nicht bei ihm gewesen war. Andern Menschen hatte sie gehört, hatte andern gehören müssen; wieder einmal ging ihr das Ungerechte ihres Schicksals auf, und sie schwor sich zu, daß sie sich nicht in aller Zukunft für die Kinder fremder Leute aufopfern, daß ihr eigenes Kind nicht lange mehr unter fremden Leuten leben sollte.

Es dauerte lange, ehe der Schlummer sich ihrer erbarmen wollte. In der Nacht vorher – sie faßte es kaum – hatte sie noch im Hause Rottmanns, ja in seinem Bett geschlafen. Als könnte sie damit etwas ungeschehen machen, hüllte sie sich tief in Kissen und Decke. Was war aus ihr geworden in diesem letzten Jahr!

Des Morgens aber erwachte sie frischer, froher als seit langer Zeit. Es war wie ein Wunder. Diese eine Nacht fern von der Stadt, der Familie Rottmann entronnen, hatte sie, so schien es ihr, geradezu gesund gemacht. Blieb das Leben nicht leicht, solange solche Wunder möglich waren? Das freie Sonnenlicht, die ländliche Ruhe, immer wohltuend für sie, beglückten sie diesmal, wie sie es noch nie getan. Wenn man hier bleiben könnte! Immerhin – eine Reihe von guten Tagen lag vor ihr, und sie war nun froh, daß sie trotz anfänglicher Weigerung es nicht verschmäht hatte, gelegentlich kleine Geldgeschenke von Herrn Rottmann anzunehmen, die es ihr ermöglichten, den Enzbacher Aufenthalt etwas länger auszudehnen als sonst. An ihrem Buben entzückte sie diesmal alles, ja sogar eine gewisse Haltung des Kopfes, die ihr früher manchmal peinlich, ja unheimlich gewesen war, weil Franzl sie in solchen Momenten allzusehr an Kasimir Tobisch erinnert hatte, störte sie kaum. Sie machte weite Spaziergänge mit ihm, tollte auf den Wiesen mit ihm herum, sie war jung, ein Kind, und Franzl war es auch, ja, er war es eigentlich niemals so sehr gewesen.

Eines Tages, kaum eine Woche nach Theresens Eintreffen, kam Agnes aus der Stadt zu Besuch. Franzl empfing sie mit Ausbrüchen der Freude, die Therese befremdeten, und kümmerte sich an diesem Tag so gut wie gar nicht um seine Mutter. Und[762] als er beim Abschied von Agnes sich ganz ungebärdig, geradezu verzweifelt anstellte, verspürte Therese eine so heftige Erbitterung gegen ihn, als wäre er ein erwachsener Mensch, der ihr ein schweres Unrecht zugefügt und den sie zur Verantwortung ziehen durfte. Gegen Agnes aber, deren Wesen ihr diesmal besonders hinterhältig und frech erschienen war, empfand sie einen wahrhaftigen Haß.

Ihre Stimmung schlug an diesem einen Tage völlig um. Den Gedanken, ihr Kind zu sich zu nehmen, hatte sie schon früher als vorläufig unausführbar wieder verworfen. Es blieb ihr ja doch nichts anderes übrig, als auch weiterhin ihren Lebensunterhalt als Erzieherin fremder Kinder zu erwerben und den Buben auf dem Land zu lassen. Eines aber schwor sie sich zu: niemals wieder eine Dummheit zu machen. In der letzten Zeit war sie, wie sie wohl empfand, als Frau immer reizvoller geworden; so einfach, ja beinahe ärmlich sie sich notgedrungen kleidete, sie wußte die Vorzüge ihrer Gestalt immer besser zur Geltung zu bringen, und trotz ihres anständigen, ja im allgemeinen zurückhaltenden Auftretens hatte sie zuweilen eine Gebärde, ein Aufblitzen im Blick, das auch dann allerlei zu verheißen schien, wenn sie nicht im entferntesten daran dachte, ein solches Versprechen einzulösen. Sie nahm sich vor, von nun an besseren Gebrauch von den Gaben zu machen, die ihr die Natur geschenkt. Nach ihren letzten Erfahrungen im Hause Rottmann fühlte sie sich berechtigt, innerlich bereit und fähig, den Männern gegenüber berechnend, kalt, nur auf ihren eigenen Vorteil bedacht zu sein. Sie stand in Verhandlung mit einigen Büros und bot sich auf Annoncen hin da und dort als Erzieherin an, insbesondere bei Witwern mit Kindern, aber es wollte vorerst nichts zum Abschluß kommen.

Unter den Briefen, die sie erhielt, befand sich einmal unter anderen die verspätete gedruckte Einladung zu Alfreds Promotion, die indes schon stattgefunden hatte; – und zufällig am gleichen Tage kam eine Anfrage ihrer Mutter, ob sie nicht den Aufenthalt bei ihrer Freundin – das Wort war mit Anführungszeichen versehen – abkürzen und für einige Tage nach Salzburg kommen wollte. Therese nahm dies als Schicksalswink und verließ Enzbach am Morgen darauf. Was sie aber vor allem nach Salzburg zog, war die Hoffnung, Alfred dort anzutreffen, der, wie sie vermutete, nach der Promotion eine Zeitlang bei seinen Eltern verweilen würde.

Quelle:
Arthur Schnitzler: Gesammelte Werke. Die erzählenden Schriften, 2 Bände, Band 2, Frankfurt a.M. 1961, S. 761-763.
Lizenz:
Kategorien:
Ausgewählte Ausgaben von
Therese
Therese: Chronik eines Frauenlebens
Therese: Chronik eines Frauenlebens Roman
Therese: Chronik eines Frauenlebens Roman
Therese
Romane. Der Weg ins Freie / Therese / Frau Berta Garlan