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[763] Sie hatte sich nicht getäuscht. Am ersten Tag ihres Aufenthaltes schon, auf dem Domplatz, trat er ihr entgegen. Sie nahmen einen Weg, den sie vor vielen Jahren oft gegangen waren, und in der Mittagsschwüle – kein Blatt rührte sich über ihnen – saßen sie auf der gleichen Bank, an der einstmals zwei junge Offiziere, der eine schwarzäugig, die Kappe in der Hand, an ihnen vorüberspaziert waren. Therese erzählte diesmal Alfred gar manches aus ihrem Leben; sie fühlte, daß er alles verstehen müßte und daß er wohl noch mehr hätte verstehen können, als sie ihm anvertraute. Auch daß sie Mutter eines neunjährigen Buben war, verschwieg sie ihm nicht, und Alfred gestand ihr, daß er das längst gewußt habe. Als sie damals in dem Wagen mit aufgeschlagenem Dach an ihm vorübergefahren war, hatte er wohl gemerkt, daß ihre Begleiterin, eine alte Frau, ein Kind auf dem Schöße gehalten, und hatte keinen Augenblick gezweifelt, daß es Theresens Kind sei. Er war übrigens gar nicht damit einverstanden, daß sie die Existenz ihres Kindes so geheim hielte. Man sei doch im ganzen etwas vorurteilsfreier geworden, und es gebe Familien, wo man ihre Vergangenheit gewiß nicht übelnehmen würde.

Sie trafen einander auch in den nächsten Tagen, immer zufällig, und hatten es doch immer beide vorhergewußt. Alfred sprach von seinem Beruf, im Herbst sollte er als Sekundararzt ins Allgemeine Krankenhaus eintreten. Sie verabredeten nichts Bestimmtes miteinander, aber als er ihr bei der letzten Begegnung seine Abreise nach Wien für denselben Abend ankündigte, wußten sie, daß sie einander in Wien bald wiedersehen würden.

Drei Tage später fuhr auch Therese nach der Hauptstadt. Die Mutter begleitete sie zur Bahn. Noch nie war sie so herzlich zu der Tochter gewesen als in diesen Tagen, und trotzdem verspürte Therese noch immer eine Art von innerem Widerstand, ihr Allerpersönlichstes mitzuteilen. Da, unvermuteterweise, als Therese schon am Coupéfenster stand, als Abschiedswort, rief ihr die Mutter zu: »Küß mir deinen Buben.« Therese errötete zuerst, dann lächelte sie, und als der Zug sich in Bewegung gesetzt hatte, nickte sie der Mutter zu wie einer neugewonnenen Freundin.

Quelle:
Arthur Schnitzler: Gesammelte Werke. Die erzählenden Schriften, 2 Bände, Band 2, Frankfurt a.M. 1961, S. 763-764.
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