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[767] Als sie endlich an einem Vorfrühlingsabend in dem etwas kahlen, doch sehr ordentlich gehaltenen Zimmer der Alservorstadt, das er bewohnte, die Seine wurde, hatte sie weniger das Gefühl einer lang ersehnten Erfüllung als das Bewußtsein einer endlich eingelösten Verpflichtung; und es war das erstemal, daß sie über eine ihrer Seelenregungen mit Alfred zu sprechen nicht imstande war, was ihr beinahe leid tat. Allmählich aber begann sie sich in seiner Nähe, in seinen Armen so beglückt zu fühlen, wie es ihr noch niemals begegnet war. Alfred war doch der erste Mensch, dem sie wirklich vertrauen, der erste, den wahrhaft zu kennen und von dem gekannt zu werden sie sich einbilden durfte. Aller andern gedachte sie wie fremder Menschen, denen sie sich in einem nicht ganz zurechnungsfähigen Zustand hingegeben hatte oder denen sie zum Opfer gefallen war. Er aber gehörte ihr. Das einzige, was sie manchmal befremdete, war, daß er es nun gern vermied, sich mit ihr öffentlich zu zeigen, mit der Begründung, daß es ihm peinlich wäre und doch auch ihr peinlich sein müßte, wenn sie zusammen zufällig Karl begegneten. Ihre gelegentlichen Aufforderungen aber, sie doch wieder einmal nach Enzbach hinauszubegleiten, schienen ihn geradezu zu verstimmen, und so stand sie in der Folge von der Äußerung solcher Wünsche ab.

Einer ihrer schönsten Tage war es, als Frau Knauer ihr einmal gestattete, Robert mit sich aufs Land zu nehmen, und ihr nun die Freude ward, »ihre beiden Kinder«, wie sie sie manchmal für sich selbst und diesmal auch vor Frau Leutner nannte, miteinander auf der Wiese umhertollen zu sehen. Sie faßte den festen Entschluß, im kommenden Herbst Franzl aus Enzbach fortzunehmen und in ihrer Nähe einzuquartieren.

Rascher, als sie selbst es für möglich gehalten, wurde diese Veränderung ins Werk gesetzt. Ohne sonderliche Mühe fand sie Unterkunft für ihren Sohn in der Familie eines in Hernals wohnenden Schneidermeisters, und so hätte Therese Gelegenheit gehabt, ihr Kind viel öfter zu sehen als bisher. Doch sie machte davon weniger Gebrauch, als sie sich vorgenommen hatte. Insbesondere die Sonntagnachmittage verbrachte sie regelmäßig mit Alfred, der indes Sekundararzt im Allgemeinen Krankenhaus geworden war.

Im nächsten Frühjahr schon war sie genötigt, ihren Buben aus dem Hause des Schneidermeisters zu entfernen, weil er sich mit[768] dessen Sohn, der etwas älter war als Franz, durchaus nicht zu vertragen schien. Es kam zu einer Auseinandersetzung zwischen Theresen und der Schneidersgattin, in der diese unklare Andeutungen über gewisse Unarten Franzls vorbrachte, Andeutungen, die Therese vorerst nicht ernst nahm und geneigt war, als Bosheiten aufzufassen. Sie fand bald ein anderes Quartier für ihn bei einer kinderlosen ältlichen Lehrerswitwe, das überdies in einem netteren Haus gelegen war, und so hatte Therese keinen Anlaß, sich über die Veränderung zu beklagen. In der Schule kam Franzl leidlich vorwärts, in der Familie Knauer war er so gern gesehen wie früher, und niemand schien hier das geringste von den Ungezogenheiten und Ungebärdigkeiten zu bemerken, über die, wie früher die Schneidersfrau, sich bald die Lehrerswitwe, wenn auch in recht milder Weise, aufzuhalten Ursache hatte.

Dies ging Therese nicht so nahe, als natürlich gewesen wäre, und sie konnte sich nicht verhehlen, daß im Mittelpunkt ihres Gefühlslebens nicht die Liebe für ihr eigenes Kind, auch nicht die Neigung für Alfred, sondern die Beziehung zu dem kleinen Robert stand, die allmählich den Charakter einer fast krankhaften Schwärmerei angenommen hatte. Sie hütete sich, von diesem Überschwang die Eltern etwas merken zu lassen, als würde dadurch die Gefahr einer Trennung heraufbeschworen. Aber wenn jene es auch an äußerer Zärtlichkeit für ihr Kind nicht fehlen ließen, Theresen entging es nicht, daß dieses im Grunde ihnen doch nicht viel mehr bedeutete als eine Art von Spielzeug, freilich ein sehr lebendiges und köstliches. Sicher war, daß sie ihr Glück in seiner ganzen Größe nicht zu schätzen wußten. Der Kleine selbst schien in seinen Gefühlen gegenüber den Eltern und denjenigen gegenüber seiner Erzieherin kaum einen Unterschied zu machen und nahm nach Art verwöhnter Kinder alle ihm dargebrachte Liebe und Vergötterung wie etwas Selbstverständliches hin.

Im Laufe des Winters erkrankte Frau Knauer an Lungen- und Rippenfellentzündung und schwebte einige Tage in Lebensgefahr. Obwohl Therese ihr alles erdenkliche Gute wünschte, vermochte sie gewisse, nicht in Worte, kaum in Gedanken zu fassende Hoffnungen nicht völlig zu unterdrücken. Zwar hatte Herr Knauer niemals auch nur durch einen Blick vermuten lassen, daß Therese als Frau im geringsten auf ihn wirke; ihr selbst war er in seiner leeren Freundlichkeit so fremd geblieben wie je und als Mann eine fast widerwärtige Erscheinung, aber sie wußte:[769] wenn er nach dem Tode seiner Frau um ihre Hand anhielte, sie würde keinen Moment zögern, die Stiefmutter Roberts zu werden. Um diesen Preis hätte sie sich ohne weitere Überlegung auch von Alfred losgesagt, um so eher, als sie deutlich fühlte, daß dieses Verhältnis, wenn auch vorläufig nichts auf ein nahes Ende hindeutete, als Liebesbeziehung keineswegs zu Dauer bestimmt war.

Frau Knauer erholte sich langsam, war als Rekonvaleszentin höchst reizbar geworden, und es gab etliche, freilich unbeträchtliche Auseinandersetzungen zwischen ihr und Therese, an die diese im Augenblick nachher nicht mehr dachte. So geschah es einmal, daß Therese einen Einkauf für Frau Knauer hätte besorgen sollen. Sie fühlte sich an diesem Tage nicht wohl und schickte sich an, dem Stubenmädchen diesen Auftrag zu überweisen. Frau Knauer wollte nichts davon wissen, Therese erwiderte lebhafter, als es sonst ihre Art war, und Frau Knauer stellte ihr anheim, das Haus zu verlassen, wann es ihr beliebe. Therese nahm diese Äußerung nicht ernst, sie war ja hier überhaupt nicht mehr zu entbehren, und man konnte doch nicht daran denken, sie von Robert oder Robert von ihr zu entfernen. Und es war auch tatsächlich in den nächsten Tagen weder im Benehmen der Frau noch des Herrn Knauer ihr gegenüber eine Veränderung, eine Entfremdung oder gar eine Feindseligkeit zu bemerken. Schon war Therese daran, den kleinen Zwischenfall völlig zu vergessen, als eines Tages Frau Knauer wie von einer Tatsache, über die eine Diskussion gar nicht mehr möglich war, von dem bevorstehenden Scheiden Theresens aus dem Hause sprach. Sie erkundigte sich mit der größten Liebenswürdigkeit, ob Therese schon eine neue Stellung gefunden, und bemerkte, daß sie selbst während der kommenden Sommermonate auf dem Land ganz ohne Erzieherin auszukommen gedächte. Therese war überzeugt, daß eben sie für den Herbst als Erzieherin ausersehen sei, aber sie war zu stolz, sich selber anzutragen oder auch nur eine Frage zu stellen, und so vergingen die Tage wieder ungenützt. Noch immer war es ihr unmöglich zu glauben, daß sie wirklich fort sollte; eine solche Grausamkeit, nicht nur gegen sie, sondern auch gegen den kleinen Robert, war ja nicht auszudenken; und wenn nicht früher, davon war sie überzeugt, im letzten Augenblick noch würde man sie zurückzuhalten suchen. So schob sie alle Vorbereitungen hinaus bis zum letzten Tag, an dessen Morgen sie das erlösende Wort von Frau Knauer zu hören hoffte. Doch diese[770] stellte nur die freundliche Frage an sie, ob sie noch das Mittagessen mit ihnen einnehmen wolle. Therese fühlte Tränen in ihre Augen, ein Schluchzen in ihre Kehle steigen, vermochte nur hilflos zu nicken, und als Frau Knauer, doch in einer plötzlichen Verlegenheit, das Zimmer verlassen hatte, sank Therese vor Robert, der eben an seinem kleinen weißen Tischchen die Frühstückschokolade trank, schluchzend in die Knie, faßte seine Händchen und küßte sie hundertmal. Das Kind, zu dem man nur von einem vorübergehenden Urlaub des Fräuleins gesprochen, nahm den Schmerzensausbruch Theresens, dessen Ausmaß zu beurteilen es nicht imstande war, ohne Erstaunen hin, fühlte sich aber doch zu einer Art dankbarer Erwiderung verpflichtet und küßte sie auf die Stirn. Als Therese aufsah und die kühlen gleichgültigen Augen des verwöhnten Knaben auf sich gerichtet sah, durchschauerte es sie plötzlich, sie fuhr dem Kind wie scherzend mit den Fingern durch die Haare, erhob sich langsam, trocknete die Augen und war ihm endlich, wie gewöhnlich, beim Anziehen behilflich. Dann begleitete sie ihn in das Zimmer der Mutter, der er vor dem täglichen Spaziergang Adieu zu sagen pflegte, und stand dabei, mit einem freundlich starren Gesicht. Auf dem Spaziergang plauderte Therese mit dem Kind wie immer; sie hatte auch nicht vergessen, eine Semmel zum Füttern der Schwäne vom Hause mitzunehmen. Robert traf ein paar Gespielen, Therese unterhielt sich etwas herablassend mit einer ihr oberflächlich bekannten Bonne und fragte sich in irgendeinem Augenblick, aus welchem Grunde eigentlich sie sich immer wieder ihren Berufs-, ihren Schicksalsgenossinnen innerlich überlegen fühlte. War sie selbst etwas anderes, etwas Besseres? War sie nicht ein ebenso heimatloses Geschöpf wie all diese andern, die, ob sie nun Kindermädchen, Bonnen oder Gouvernanten hießen, in der Welt herumgestoßen wurden, von einem Haus ins andere, und die, auch wenn sie die Pflichten gegen ein ihnen anvertrautes Kind mütterlicher erfüllten, als die eigene Mutter es wollte oder vermochte, – ja, auch wenn sie ein Kind geliebt oder mehr geliebt hatten als ihr eigenes, auf jenes doch nicht das geringste Recht besaßen. Sie lehnte sich in ihrem Herzen auf, fühlte sich hart, beinahe böse werden, und plötzlich rief sie Robert, der mit anderen Kindern längs des Teiches hinlief und sich etwas bequem, wie es seiner Natur entsprach, fangen ließ, bevor er noch ermüdet war, mit ungewohnter Strenge an; es war später geworden als sonst und höchste Zeit, nach Hause zu gehen. Er kam sofort,[771] folgsam und innerlich unberührt, und man begab sich auf den Heimweg.

Nach dem Mittagessen bat Therese Frau Knauer um die Erlaubnis, in dieser Nacht noch hier schlafen zu dürfen. Frau Knauer erteilte sie ihr ohne weiteres, doch war ihr anzumerken, daß sie sich dabei etwas gnädig vorkam. Therese versprach, als wäre sie dazu verpflichtet, morgen früh das Haus zu verlassen, ohne Robert noch einmal zu sehen, Herr Knauer dankte Theresen für die musterhaften Dienste, die sie geleistet, er hoffe, sie manchmal wiederzusehen, sie würde, mit ihrem Buben, im Hause immer willkommen sein.

Alfred gegenüber, zu dem sie sich in den Nachmittagsstunden dieses Tages flüchtete, machte sie kein Hehl aus ihrer Verzweiflung. Sie erklärte, daß sie diese Existenz überhaupt nicht mehr zu ertragen imstande sei, daß sie irgendeinen anderen Beruf ergreifen wolle, daß sie nach Salzburg zu ihrer Mutter ziehen werde. Alfred setzte ihr geduldig auseinander, daß sie ja Zeit habe zu überlegen; diesen Sommer müsse sie jedenfalls ganz ihrer Erholung widmen; sie solle ein paar Wochen in Salzburg und eine Zeit mit Franzl verbringen, am besten in Enzbach, wo sie ja immer wieder bei Frau Leutner freundliche Aufnahme finden würde. Durch einen Schleier von Tränen blickte sie in Alfreds Antlitz und merkte, daß er mit gleichgültigen, ja gelangweilten Augen über sie hinweg oder durch sie hindurch sah, ganz in der gleichen Art, wie es Herr Knauer, wie es Frau Knauer, wie es wenige Stunden vorher ihr geliebter kleiner Robert getan. Ihr Befremden, ihre innere Qual entging ihm nicht; er lächelte befangen, bemühte sich, zärtlich zu sein, sie nahm es hin, denn sie lechzte nach Liebe. Und zugleich fühlte sie, daß heute, auch wenn sie noch Jahre, wenn sie noch das ganze Leben lang mit Alfred zusammenbliebe, daß in diesem Augenblick der Abschied, der große Abschied anfing. Wie er es schon öfters bisher ohne Erfolg getan, bot ihr Alfred für die nächsten Monate seine Unterstützung an, die sie diesmal nicht zurückweisen konnte.

Quelle:
Arthur Schnitzler: Gesammelte Werke. Die erzählenden Schriften, 2 Bände, Band 2, Frankfurt a.M. 1961, S. 767-772.
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