67

[772] Am nächsten Morgen verließ sie das Haus. Sie fuhr nach Salzburg und wurde von der Mutter herzlich aufgenommen. Es schien Theresen diesmal, als hätte alles Krankhafte, Zerfahrene, Unreine[772] im Wesen der Mutter, das Therese so oft peinlich und schmerzlich berührt hatte, sich in ihre Bücher hineingezogen und sich darin verdichtet; und sie selbst sei nun eine ganz vernünftige, brave alte Frau geworden, mit der man nicht nur gut auskommen, sondern die man sogar liebgewinnen konnte. Sie sprach die Absicht aus, nach Wien zu übersiedeln: sie habe mehr und vielfältigere Anregung nötig, als in Salzburg zu finden sei; dazu kam, daß Karl sich verlobt hatte und sie davon träumte, als alternde Frau in der Nähe oder gar im Kreise heranwachsender Enkelkinder zu leben. Wieder ließ sie sich von Therese über die Familien berichten, in denen sie als Erzieherin gelebt hatte, auch von Theresens ganz persönlichen Erlebnissen – sie machte kein Hehl daraus – hätte sie gern mehr erfahren, und nach dem Eingeständnis, daß es ihr mit den Jahren immer schwerer fiele, gewisse unerläßliche Szenen der Leidenschaft mit den rechten Worten darzustellen, fragte sie Therese, ob diese nicht versuchen wolle, für einen Roman, mit dem sie, die Mutter, eben jetzt beschäftigt sei, die betreffenden Kapitel abzufassen. Jedenfalls bestand sie darauf, daß Therese das Manuskript daraufhin einer Durchsicht unterziehe. Therese las, erklärte sich außerstande, den Wunsch der Mutter zu erfüllen, was diese anfangs geneigt war, als Ungefälligkeit aufzufassen, ohne es ihr aber weiter nachzutragen.

Nach einer Woche holte Therese ihren Buben aus Wien ab, um für eine Weile mit ihm nach Enzbach zu ziehen. Sie war diesmal entschlossen, ihn sehr zu lieben, und es gelang ihr vorerst, während sie an Robert, nach dem sich ihr Herz in Sehnsucht verzehrte, nur mit Bitterkeit zu denken vermochte. Alfred holte sie ab und machte mit ihr eine kleine Reise in die steierischen Voralpen, auf der Therese sehr glücklich war. Er mußte wieder nach Wien ins Spital; sie kam allein nach Enzbach zurück. Frau Leutner vermochte Theresen nicht lange zu verschweigen, daß sie sich über Franzl diesmal in mancher Beziehung zu beklagen habe. Der Aufenthalt in Wien schien ihm doch gar nicht gutgetan zu haben. Er sei ungebärdig, ja frech, in einer Villa unten mit anderen Jungen zusammen hatte er mutwillig Gartenbeete verwüstet, und das schlimmste war, daß er sogar kleine Diebereien beging. Der Bub leugnete. Ein paar Blumen hatte er in jenem Garten gepflückt, das war alles. Und daß er die paar Kreuzer eingesteckt, die Frau Leutner auf dem Tisch hatte liegen lassen, das war nur zum Spaß gewesen. Auch Therese konnte und wollte diese Kleinigkeiten nicht recht ernstnehmen. Sie versprach Frau Leutner, daß sich[773] Franzl wieder bessern werde, und brachte ihn dazu, die gutmütige Frau um Verzeihung zu bitten. Sie selbst aber verdoppelte ihre Zärtlichkeit für ihn. Sie beschäftigte sich mit ihm den ganzen Tag, unterrichtete ihn, ging viel mit ihm spazieren, und es war ihr, als wenn schon innerhalb weniger Tage sein Wesen sich zum Besseren wandle.

Einmal kam Agnes zu Besuch in auffallendem Sonntagsputz, mit ihren achtzehn Jahren um vier oder fünf Jahre älter aussehend, und Franzl empfing sie wieder mit Entzücken. Sie küßte ihn, als wenn sie seine Mutter wäre, und doch ganz anders, und schielte dabei frech zu Theresen hin. Bei Tisch erzählte sie allerlei Schlimmes über das vornehme Haus, wo sie »zweites Stubenmädchen« war, behandelte Therese gleich zu gleich, erkundigte sich, wo sie jetzt »in Dienst« sei, und ließ es an Anspielungen nicht fehlen über mancherlei, was man sich als junge hübsche Person von den jungen und ganz besonders von den älteren Herren gefallen lassen müßte, – wovon Therese wohl auch etwas erzählen könne. Therese, entrüstet, verbat sich Bemerkungen solcher Art. Agnes wurde anzüglich; Frau Leutner machte dem beginnenden Zank ein Ende. Agnes sagte: »Komm, Franzl«, und lief mit ihm davon. Therese weinte bitterlich. Frau Leutner tröstete sie; es kam Besuch aus der Nachbarschaft; der Bub und Agnes kamen wieder zurück; und ehe diese ziemlich früh am Abend wieder in die Stadt hineinfahren mußte, trat sie auf Therese zu, streckte ihr die Hand hin: »Sein S' nicht bös, es war ja nicht so gemeint« – und der Friede schien wieder hergestellt.

Indes nahte die Zeit heran, in der Therese sich nach einer Stellung umsehen mußte. Ein Versuch, an einer Erziehungsanstalt als Lehrerin einzutreten, war erfolglos geblieben, da sie die notwendigen Prüfungen nicht abgelegt hatte. Wieder einmal nahm sie sich vor, dies bei nächster Gelegenheit nachzutragen. Sie tat nun, was sie schon so oft getan: las Zeitungsannoncen, schrieb Offerte; es kam ihr alles mühseliger und aussichtsloser vor als je. Manchmal fiel ihr ein, daß sich auch Alfred ein wenig für sie bemühen könne, zum mindesten, indem er sie auf Zeitungsanzeigen aufmerksam machte, die ihm zufällig vor Augen kämen, doch um alle Dinge, die ihren Beruf angingen, schien er sich wie mit Absicht nicht zu kümmern. In Enzbach hatte er sich nicht mehr blicken lassen.

Quelle:
Arthur Schnitzler: Gesammelte Werke. Die erzählenden Schriften, 2 Bände, Band 2, Frankfurt a.M. 1961, S. 772-774.
Lizenz:
Kategorien:
Ausgewählte Ausgaben von
Therese
Therese: Chronik eines Frauenlebens
Therese: Chronik eines Frauenlebens Roman
Therese: Chronik eines Frauenlebens Roman
Therese
Romane. Der Weg ins Freie / Therese / Frau Berta Garlan