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[786] Wenige Tage später wurde sie von Herrn Mauerhold brieflich um ihren »ehebaldigsten« Besuch gebeten. Sie hatte Franzl schon drei Wochen lang nicht gesehen und geriet sofort in eine unverhältnismäßig heftige Aufregung. Herr Mauerhold empfing sie freundlich, aber in sichtlicher Verlegenheit. Seine Frau schwieg befangen. Endlich erklärte er, daß er aus Familienrücksichten mit seiner Frau Wien verlassen, in ein kleines niederösterreichisches Städtchen übersiedeln und daher Therese bitten müsse, den Buben anderswohin in Pflege zu geben. Therese atmete erleichtert auf; sie äußerte, daß es vielleicht ganz gut wäre, wenn Franzl aus der Großstadt wieder fort und in eine kleine Ortschaft käme, und sie erklärte sich gerne bereit, ihn auch nach der Übersiedlung bei seinen jetzigen Pflegeeltern zu belassen, wo er sich ja so wohl zu fühlen scheine. An der wachsenden Verlegenheit der beiden merkte sie, daß man ihr offenbar irgend etwas verschwieg, und als sie immer dringender Aufklärung verlangte, erfuhr sie endlich, daß Franzl sich neulich einen kleinen Hausdiebstahl hatte zuschulden kommen lassen. Und nun, da dies ausgesprochen war, hielt die Frau, die bisher stumm dagesessen war, nicht mehr länger an sich. Diese kleinen Diebereien waren nicht das Schlimmste.[786] Der Bub hatte noch allerlei Unarten und Angewohnheiten, von denen sie Heber gar nicht reden wolle. Auch aus der Schule seien Klagen gekommen. Die ungeratenste Jugend in der Nachbarschaft sei sein Verkehr, bis in die Nacht hinein treibe er sich auf der Straße herum, und es sei gar nicht abzusehen, wohin das bei dem elfjährigen Buben mit der Zeit noch führen solle. Therese saß mit gebeugtem Haupt wie eine Schuldbeladene. Nun ja, sie sah ein, daß sie unter diesen Umständen ihren Vorschlag nicht aufrecht halten könne, sie wollte nur warten, bis der Bub aus der Schule käme, und ihn lieber gleich mitnehmen. Herr Mauerhold, mit einem Blick auf seine Frau, meinte vorsichtig, es sei ja nicht gar so eilig, auf ein paar Tage käme es nicht an, man wolle den Buben gern noch im Hause behalten, bis Therese ein neues Heim für ihn ausfindig gemacht habe. Therese merkte mit Verwunderung, daß dem gutmütigen Mann Tränen in den Augen standen. Er war es nun, der sich anschickte, sie zu trösten: manche Knaben hätten in diesem bedenklichen Alter nicht viel getaugt, aus denen dann noch ganz anständige Menschen geworden wären. Die Stunde, in der Franz aus der Schule nach Hause kommen sollte, war längst vorüber; Therese aber, die sich nur ein paar Stunden Urlaub erbeten hatte, konnte nicht länger bleiben; sie dankte Herrn Mauerhold, versprach, sich sofort nach einem neuen Quartier für Franzl umzusehen, und ging. Auf dem Heimweg wurde sie ruhiger und nahm sich vor, die Angelegenheit mit irgend jemandem zu besprechen. Aber mit wem? Sollte sie ihre Mutter ins Vertrauen ziehen? An Alfred schreiben? Was konnten die raten oder gar helfen? Sie mußte schon alles mit sich selber ausmachen und allein in Ordnung bringen.

Zufällig traf sie am nächsten Tag im Stadtpark wieder mit Sylvie zusammen. Sie wäre wohl die letzte gewesen, die Therese unter anderen Umständen ins Vertrauen ziehen und um Rat hätte fragen wollen. Aber in ihrer Unruhe, ihrer Ungeduld, ihrem Drang, eine mitfühlende Seele zu finden, sprach sie sich zu Sylvie aus und erzählte ihr alles, mehr als sie je irgend jemand anderem erzählt hatte; und als wollte sich dieses Vertrauen belohnen, gerade in Sylvie fand sie eine Ratgeberin, eine Freundin so herzlich, klug und ernst, wie Therese es nie und nimmer erwartet hätte. Sie redete Theresen zu, ihre jetzige Stellung aufzugeben, überhaupt keine von dieser Art vorläufig anzunehmen, mit ihrem Sohn zusammen eine kleine möblierte Wohnung zu nehmen und nur mehr Privatlektionen zu erteilen. Sie selbst, Sylvie, machte[787] sich anheischig, ihr in kürzester Zeit einige solche Stunden zu verschaffen, und stellte ihr auch für die nächste Zeit einiges Geld zur Verfügung; »sie habe immerhin kleine Ersparnisse«, fügte sie mit einem verschmitzten Lächeln hinzu, das Therese nicht bemerken wollte. Sylvies Anerbieten aber nahm sie dankbar an.

Und mit neuer Hoffnung und plötzlich wiedergefundener Energie wurde die Ausführung des erfolgversprechenden Entschlusses ins Werk gesetzt. Ihre Kündigung wurde in der Familie des Bankdirektors mit einiger Überraschung aufgenommen, die beiden Mädchen ließen das Fräulein nur ungern ziehen, das ältere weinte herzbrechend, und Therese war gerührt von der Liebe, die sie in einem jungen Mädchenherzen erweckt hatte, ohne es auch nur zu ahnen.

Quelle:
Arthur Schnitzler: Gesammelte Werke. Die erzählenden Schriften, 2 Bände, Band 2, Frankfurt a.M. 1961, S. 786-788.
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