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[788] An einem schwülen Hochsommertag bezog Therese mit Franzl zwei möblierte Zimmer mit Küche in einer bequem gelegenen stillen Vorstadtstraße, in einem ziemlich neuen, bescheidenen, aber reinlich gehaltenen Hause. Vorher schon durch Bemühungen aller Art: Anfragen bei Familien, wo sie früher in Stellung gewesen, Antworten auf Zeitungsannoncen, zum Teil unter tätiger Mithilfe von Sylvie, hatte sie sich ein paar Lektionen gesichert, mit deren Ertrag sie zur Not ihr Auskommen zu finden hoffte. Auch eine kleine Summe, die die Frau des Bankdirektors ihr beim Abschied geschenkt hatte, kam ihr zustatten. Unendlich viel bedeutete es für sie, daß sie nun, eigentlich zum erstenmal in ihrem Leben, in einer Art von eigenem Heim wohnen durfte. Sie glaubte zu fühlen, daß ihrem Sohn bisher vielleicht gar nichts anderes zu einer gedeihlicheren Entwicklung gefehlt hatte als das Zusammenleben mit seiner Mutter. Die Schule, die er jetzt besuchte, war von der früheren weit genug entfernt, um den Verkehr mit den bisherigen Kameraden so gut wie unmöglich zu machen. Wie sie es nun schon öfters erfahren, in den ersten Wochen ließ er sich in der neuen Umgebung gar nicht übel an. Ja, ihr war, als lerne sie ihn erst jetzt wirklich kennen. Eine gewisse Kindlichkeit seines Wesens, die allzu früh verlorengegangen war, kam allmählich aufs neue zum Vorschein. Wie schön war es doch, mit ihm gemeinsam am Mittagstisch zu sitzen bei einem Mahl, das sie selbst bereitet, wie wunderbar, abends, wenn sie von ihren Lektionen[788] nach Hause kam, mit einer stürmischen Umarmung von ihm empfangen zu werden, und wie schwoll ihr das Herz, wenn er ihr die Ehre erwies, sie bei irgendeiner schwierigen Aufgabe um Rat zu fragen. Sie fühlte sich wohl, zufrieden, beinahe glücklich. In Briefen an Alfred, die zu schreiben sie plötzlich wieder ein lebhaftes Bedürfnis trieb, sprach sie sich über alle diese Dinge weitläufig aus, und wie der Rückkunft eines Freundes, nicht eines ehemaligen Geliebten, freute sie sich entgegen, als er ihr seine baldige Wiederkunft nach Wien ankündigte, wo er eine Assistentenstelle an der psychiatrischen Klinik antreten sollte.

Quelle:
Arthur Schnitzler: Gesammelte Werke. Die erzählenden Schriften, 2 Bände, Band 2, Frankfurt a.M. 1961, S. 788-789.
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