Erster Theil

Vorwort

[6] Der freundliche Empfang, welcher den Beschreibungen meiner Reisen durch mancherlei Städte und Länder wiederfuhr, munterte mich auf, auch mit einigen Ansichten hervorzutreten, die ich auf der großen Reise durch das Leben sammlete.

Jene Reisebeschreibungen sind Abbildungen nach der Natur, mit möglichster Wahrheit wiedergegeben, wie ich sie auffaßte. Ich möchte sie Landschaftsgemälde nennen, auf denen ich mich bemühte, jeden treu kopirten Gegenstand genau an den Platz hinzustellen, wo er in der Wirklichkeit sich befindet, indem ich mich wohl hüthete, den Regeln der Gruppirung oder dem Zauber des Effekts das kleinste Opfer zu bringen. Diese Blätter hingegen bieten willkührliche Zusammensetzungen einzelner Studien nach Gegenständen, wie sie mir auf dem Lebenswege begegneten, die ich nach Gefallen trennte und vereinte, so daß oft zu einer meiner Figuren mehrere Individuen und Oertlichkeiten beitragen mußten. Obgleich diesem nach keine einzige derselben[6] ein Portrait im strengen Sinne genannt werden darf, so würde es mich doch freuen, wenn jede einzelne für ein solches gehalten würde. Denn so wäre mir gelungen, wonach jeder Historienmaler streben muß, und was unser großer Meister durch Wahrheit und Dichtung so treffend bezeichnet.

Uebrigens fühle ich mich in meinem Gewissen verpflichtet, zu bekennen, daß mir die Gabe des Gesanges vom Himmel versagt ward und daß daher die in diesem Buche enthaltnen Gedichte nicht von mir sind. Ich danke sie einem Freunde, den ich gern von der Welt nenne. Friedrich von Gert stenbergk, von dem wir schon so manches schöne Lied, so manche zarte Dichtung mit Dank und Freude empfingen, der Verfasser der »kaledonischen Erzählungen« und der »Phalänen« steuerte meine Gabriele mit diesem Schmucke aus.


Geschrieben zu Weimar am ersten Pfingstfeiertage 1819.

Johanna Schopenhauer.[7]


»Niemand liebt seine Freunde inniger als ich, mein Leben gäbe ich willig für sie hin, aber Unmöglichkeiten darf mir niemand zumuthen.« Mit diesen Worten verließ Gräfin Eugenia ziemlich erhitzt den Salon der Gräfin Rosenberg, in welchem die Hauptprobe einer für den folgenden Abend bestimmten Darstellung von Tableaus so eben gehalten ward, und rauschte mit einer leichten Verbeugung an der eintretenden Aurelia vorüber. Flammend vor Zorn, blieb die Gräfin Rosenberg auf ihrem königlichen Throne sitzen. Ein reichgestickter Baldachin erhob sich über ihrem Haupte, ein Purpurmantel umwallte in weiten Falten ihre majestätische Gestalt, in ihrem schwarzen Haare funkelte ein Diadem von Brillanten, und ihre Hand hielt das goldne Zepter. Vor ihr[1] stand ein mit reichen Teppichen und Prachtvasen geschmückter Tisch, um sie her waren mehrere Herren und Damen in altrömischer und ägyptischer Kleidung eifrig, aber fruchtlos, bemüht, sie zu beruhigen. Die Scene gieng in einer alkovenartigen, von einem großen goldnen Rahmen umfaßten Vertiefung der Zimmerwand vor, gerade der Thüre gegenüber, verborgne Lampen gossen einen magischen Strom von Licht über sie aus, im Zimmer selbst herrschte tiefe Dämmerung, doch verrieth ein leises Flüstern und Rauschen die Gegenwart mehrerer Personen.

Sprachlos vor Erstaunen über das ihr unbegreifliche, plötzlich hereingebrochne Unheil, blieb Aurelia, die Tochter der Gräfin, in der eben geöffneten Thüre stehen; hinter ihr schmiegte sich furchtsam die sechzehnjährige Gabriele, welche in diesem Moment aus der tiefsten Einsamkeit eines alten Bergschlosses angelangt war, um einige Monate im hause ihrer Tante zuzubringen. Aurelia, ihre Kusine, hatte sie mit der Versichrung empfangen, daß sie zum Glücke heute ganz unter sich wären; und nun stand sie da, einen[2] freundlichen Empfang erwartend, und wußte bei dem wunderbaren Anblick, der sich ihr darbot, nicht, ob sie wache oder träume.

»Thue mir die Liebe,« rief die Gräfin Aurelien entgegen, so wie sie ihrer ansichtig ward, »thue mir die einzige Liebe, und werde morgen krank, bleib den ganzen Tag im Bette; ich lasse früh alles absagen, mit der Feier deines Geburtstages ist es vorbei, wir haben weder Konzert, noch Ball, noch Tableaus; Eugeniens prätentiöser Eigensinn vernichtet alles. Mit ihrer winzig-kleinen Figur besteht sie darauf, an meiner Stelle die Kleopatra vorzustellen, und da ich ihr beweise, wie unmöglich dieß sey und ihr die Rolle der Dienerin, welche das Schmuckkästchen trägt, zutheile, eilt sie davon und derangirt mir den ganzen Plan.« »Könnten wir nicht die Dienerin ganz weglassen?« stammelte furchtsam ein junger Mann in römischer Tracht, welcher wahrscheinlich den Antonius vorstellte. »Unmöglich,« erwiederte Kleopatra, »wo soll ich die köstliche Perle hernehmen, wenn das Schmuckkästchen fehlt? und überdies ist die Figur unumgänglich[3] nothwendig zur Gruppirung des Ganzen. Es ist vorbei,« fuhr sie fort, indem sie sich in höchst unmuthiger Stellung auf ihrem Throne zurück warf! »Eugenia macht heute Abend und morgen früh gewiß noch funfzig Visiten, um ihren Triumph zu sichern. Keine Dame wird an die Stelle treten, welche sie verschmähte, und alle Welt ist doch schon von der Darstellung unsrer morgenden Tableaus voll. Ottokar beschleunigt seine Zurückkunft von der Reise, um sie zu sehen, er trifft morgen ein, und nun ist alles zerstört! Ich könnte vor Verdruß weinen,« setzte sie hinzu, das Gesicht in beide Hände verbergend.

Aurelia benutzte diese Pause in der heftigen Rede ihrer Mutter, um Gabrielens Ankunft zu melden. »Laß die Kusine von Aarheim an Eugeniens Stelle treten,« rieth sie, indem sie das bange Kind hinter sich hervor zog und vor den Rahmen hinstellte. »Die Kleine?« fragte die Gräfin, sich emporrichtend und Gabrielen von oben bis unten mit prüfendem Blicke betrachtend. »Nun,« fuhr sie fort, »stehen wird sie ja können; nöthigen[4] Falls stellen wir sie auf eine Erhöhung. Willkommen, liebes Kind!« Mit diesen Worten zog sie Gabrielen zu sich in den Rahmen, küßte sie auf die Stirn, gab ihr ein goldnes Kästchen in die Hand, stellte sie in die gehörige Attitüde und schob sie an den von der Gräfin Eugenia verlaßnen Platz, indem sie selbst wieder ihren Thron einnahm. Alle andere, zur Gruppe gehörende Personen reihten sich im nämlichen Moment in gebührender Ordnung um sie her.

»Es geht!« rief hocherfreut die ganze Gesellschaft im Zimmer. »Aber,« setzte lachend Aurelia hinzu, »deliziös sieht es jetzt aus, das blasse Gesicht, die rothen Augen und das schwarze Kleid mitten in all der bunten Pracht und Herrlichkeit; doch sey nur getrost, Gabriele, morgen soll es besser werden, Wind und Staub haben dir heut auf der Reise übel mitgespielt, das ist morgen vorüber und ich will dich schon kostümiren.« Die arme Gabriele, welche bei allen diesen Vorgängen noch kein Wort hatte aufbringen können, flüsterte jetzt, halb nur hörbar und in großer Beklommenheit, die Frage: was sie denn eigentlich[5] morgen thun solle? »Was du heute thust,« war die kurze Antwort, »hier einige Minuten stehen und das Kästchen halten.« »In dem tiefen Traueranzug?« wandte Gabriele zur großen Belustigung der Uebrigen ein. Kaum konnte Aurelia vor Lachen dazu kommen, ihr zu bedeuten, daß sie morgen ohnehin auf einen Tag die Trauer ablegen müßte.

Gabrieleblickte sehr ernst um sich her. »Wie?« sprach sie, »die Trauer um meine Mutter ablegen, ehe die Zeit verflossen ist, während welcher die Sitte mir erlaubt, dieses Zeichen meines Schmerzes zu tragen? Nein, gnädige Tante! Das befehlen Sie mir nicht,« setzte sie mit fester Stimme hinzu, obgleich dabei zwei große Thränen, die schon lange in ihren dunkeln Augen geschimmert hatten, über ihre jetzt hochroth erglühenden Wangen herab rollten. »Nur zwei Monate sind es, seit meine Mutter begraben ward; wie könnte ich ihr Andenken nur Eine Stunde verleugnen! Ich kann es nicht, ich werde es nicht, ich will es nicht,« sprach sie höchst entschieden, und hob dabei, dennoch wie flehend,[6] ihre kleinen zarten Händchen empor. Die Gräfin und Aurelia schwiegen eine Weile vor Erstaunen über Gabrielens plötzlichen Muth, ehe sie begonnen auf das arme Mädchen heftig einzustürmen. Gabriele mußte verstummen, ängstlich blickte sie, wie Beistand suchend, um sich her, und erschrak dennoch nicht wenig, als ihr dieser höchst unerwarteter Weise zu Theil ward.

Aus dem dunkelsten Winkel des Zimmers, dicht neben dem Rahmen, erscholl mitten durch den Streit eine männliche Stimme: »Ich vereinige meine Bitte mit der des jungen Fräuleins; mir dünkt wahrlich, sie hat nicht ganz Unrecht.« »Ottokar!« rief Aurelia; »willkommen, so viel früher als wir es erwarteten,« die Gräfin. Aller Zwiespalt ward augenblicklich beseitigt, und die ganze Gesellschaft drängte sich freudig um den unbemerkt Hereingetretenen her. Gabriele taumelte fast in freudiger Ueberraschung, sie schlug die Augen nicht auf, sie wagte keinen Blick auf ihren Fürsprecher, aber sie wußte dennoch, wer er sey.

Jedermann beeiferte sich nun um die Wette, Eugeniens unverantwortliches Benehmen mit allen[7] seinen entsetzlichen Folgen dem eben Angekommenen auf das weitläuftigste auseinanderzusetzen. Er hörte alle gelassen an und schlug dann an der Stelle der Dienerin einen Edelknaben vor, deren er am folgenden Tage wenigstens ein Dutzend zur Auswahl in aller Frühe zu stellen versprach. Dieser Ausweg war niemanden von der Gesellschaft eingefallen, und die Idee ward mit dem allgemeinsten Beifall ergriffen.

Kleopatra verließ beruhigt ihren Königssitz, den ein herabrollender seidner Vorhang verhüllte, Römer und Aegypter begaben sich in die Nebenzimmer, um als moderne Herren und Damen wiederzukehren, die Lichter im Saal wurden angezündet, der Theetisch hereingebracht, und alles ordnete sich in friedlicher Eintracht um ihn her.

Die Gesellschaft bestand größtentheils aus dem engen Ausschusse der Bekannten der Gräfin, aus sogenannten Hausfreunden, die sich an freien Abenden gewöhnlich bei ihr versammelten; das Gespräch wogte rasch und lebendig, nur Gabriele blieb stumm. Niemand achtete sonderlich auf sie, denn ihr erstes auffallendes Erscheinen war über[8] Ottokars unerwarteten Eintritt gänzlich vergessen. Desto mehr Zeit gewann sie, fürs erste Athem zu schöpfen, und dann die neue Welt, in die sie versetzt war, zu betrachten. Zum erstenmal in ihrem Leben befand sie sich unter so vielen, ihr gänzlich fremden Gestalten, und das Gefühl, daß auch sie ihnen fremd sey und es wohl lange noch bleiben würde, machte ihr Herz beklommen. Der Anblick der Gräfin versetzte sie in immer neues Erstaunen, sie erschien ihr um zwanzig Jahre jünger als sie vor wenig Tagen zum erstenmal im Schloß ihres Vaters sie gesehen hatte, dessen Schwester sie war. Dem mit allen Toilettenkünsten unbekannten Kinde kam diese Verwandlung ganz unbegreiflich vor, ja sie hätte geglaubt, daß es gar nicht die Tante sey, wäre Aurelia nicht zugegen gewesen und hätte sie nicht Mutter genannt. Aurelien betrachtete sie mit dem heißen Wunsch, sogar mit dem Entschlusse, solche zu lieben; dennoch fühlte sie innerlich, daß ihr dieß nie gelingen würde. Der scharfe Blick der großen dunkelblauen Augen, das spöttische Lächeln, welches bei jedem Anlaß[9] um die Rosenlippen der schönen Aurelia spielte, vernichtete jede Möglichkeit herzlichen Vertrauens zu ihr.

Endlich wagte es auch Gabriele, den Blick zu Ottokarn zu erheben. Sie konnte es unbemerkt; er stand hinter Aureliens Stuhl im eifrigen Gespräche mit dieser. Seine hohe schlanke Gestalt, die Anmuth seiner Bewegungen waren von Gabrielen schon früher als heute bemerkt worden. Sie erkannte ihn jetzt daran; auch die edlen Züge seines Gesichts waren ihr nicht fremd, sie erschienen ihr wie die eines längst Bekannten, obgleich sie sie noch nie deutlich erblickt hatte. Eine Fülle hellbrauner Locken kräuselte sich um seine hochgewölbte Stirn, die blauen, muthig und kühn um sich her blitzenden Augen hatten bei allem Feuer etwas unbeschreiblich mildes und freundliches, und die dünnen Lippen des festgeschloßnen Mundes gaben seinem Gesicht einen sehr ernsten, fast wehmüthigen Ausdruck, der aber beim Sprechen in ein höchst anmuthiges Lächeln verschwebte. Sein ganzes Wesen trug das Gepräge kräftiger, zum Manne herangereifter Jugendblüthe.[10] Er schien etwa achtundzwanzig bis dreißig Jahre alt.

Es that Gabrielen heimlich weh, daß er sie so gar nicht bemerkte, obgleich sie sich auch freute, ihn ungestört ansehen zu können. Da stimmte er das einseitige Gespräch zum Allgemeinen um, und sie konnte nun mit der gespanntesten Aufmerksamkeit auf jedes seiner Worte horchen. Er erzählte von seiner eben beendigten Reise, und seine lebendige Darstellung wußte auch dem Allergewöhnlichsten Leben und Interesse zu geben. Dabei entgieng es Gabrielen nicht, daß er dem Gespräch absichtlich diese Wendung gab, um nur die ewigen Spötteleien über die abwesende Eugenia zu beenden, und ihr Gefühl wußte es ihm heimlich Dank. Es lag ein eigener, aller Herzen sich bemächtigender Zauber in dem vollen, reinen Klange seiner Stimme. Gabriele horchte so lange auf diesen Ton, daß sie zuletzt nur ihn hörte, wie man einer lieblichen Musik sich hingiebt, ohne dabei die Worte des Gesanges zu beachten. Alles andere um sich her vergessend, saß sie da, als ganz unerwartet ein[11] ältlicher Mann, ihr Nachbar am Tische, sie durch eine gleichgültige Frage auf eine unangenehme Weise aus dieser süßen Selbstverlorenheit riß. Erschrocken darüber, fuhr sie zusammen, zerbrach beinah ihre Tasse und stammelte endlich hocherröthend eine Antwort, die niemand verstehen konnte. Die Augen der ganzen Gesellschaft wandten sich plötzlich ihr zu, und die Verlegenheit des armen Mädchens war entsetzlich, sie stieg bis zur qualvollsten Pein, als Aurelia nach ihrer schonungslosen Art laut ausrief: »Ich glaube die Kleine war eingeschlafen; kein Wunder, sie ist müde von der Reise!« und indem sie aufstehend ihre Hand ergriff, hinzusetzte: »Komm, Liebchen, ich bringe dich zu deiner Bonne, die wohl auch mit Schmerzen auf dich harrt, die Abschiedsknixe kannst du übrigens sparen;« und damit zog sie das tiefgekränkte Mädchen zur Thüre.

Beinahe weinend vor Schaam und Zorn über Aureliens unfreundliches Benehmen und ihre eigne Ungeschicklichkeit, langte Gabriele bei der guten Frau Dalling an, der Pflegerin ihrer Kindheit, und vermochte es kaum über sich, ihr die Begebenheiten[12] dieses Abends nur ganz im Allgemeinen kund zu thun. Alles schwamm in bunter Verworrenheit vor ihrem betäubten Sinn; nur Ottokars Gestalt, seine Stimme, seine Worte waren ihr deutlich in der Erinnerung geblieben. In ihrer jungen Brust gegen einander ankämpfend, wogten tausend nie zuvor gekannte süße und bittre Empfindungen und machten sie verstummen; Freude über Ottokars Wiederbegegnen, Schmerz, daß er sie gar nicht bemerkte, und dazu das herbe Gefühl des Alleinseyns, mitten unter fröhlichen Menschen. Noch nie war Gabriele sich selbst so unbedeutend erschienen, nie zuvor hatte sie Demüthigung vor Zeugen, Unzufriedenheit mit sich selbst wie heute empfunden, und es gelang ihr nur mit großer Anstrengung, sich zum tröstenden Selbstbewußtseyn endlich wieder empor zu ringen und den festen Entschluß zu fassen, äußere Zufälligkeiten nicht höher zu stellen als deren eigentlicher Standpunkt es fordert. Eine unaussprechliche Sehnsucht nach ihrer Mutter ergriff ihr tief verwundetes Gemüth, wie ein müdes Kind weinte sie sich endlich spät in den[13] Schlaf; aber alle die vielen neuen Gestalten des vergangnen Abends umschwirrten sie noch im ängstlichen Traume, und zwischen ihnen hindurch tönte tröstend Ottokars Stimme, mit der er die Worte sprach: »Ich bitte für das junge Fräulein, sie hat wahrlich nicht Unrecht!«


Ehe wir Gabrielen auf ihrem fernern Lebenspfade begleiten, wird es nöthig seyn, den Leser zu ihrer früheren Jugendgeschichte zurückzuführen und ihn mit ihren Eltern bekannt zu machen.

Ihr Vater, Baron Aarheim, war schon im frühen Jünglingsalter unumschränkter Gebieter seiner eignen Thaten und eines sehr bedeutenden Vermögens geworden. Er verbrachte seine Jugend theils auf Reisen, theils an Höfen auswärtiger Fürsten, und fand überall die Aufnahme, zu welcher Rang, Reichthum und eine ausgezeichnet vortheilhafte Gestalt ihn berechtigten. Durch keinen äußern Zwang zurückgehalten, stürzte er sich in den Strudel des großen Lebens, suchte rastlos alle Genüsse, gab sich ohne Maaß und Ziel allen Freuden hin, welche es bietet, bis er,[14] erschöpft und abgestumpft, im reifern Alter des ewig wiederkehrenden Einerleis überdrüssig ward und ihm entsagte, um ernstern Plänen zu folgen. Herrschsucht und Ehrgeiz traten jetzt in seinem Gemüth an die Stelle der Sucht nach ewigem Wechsel des Vergnügens; die Gunst des Fürsten, an dessen Hofe er eben lebte, zeichnete ihn vor allen andern aus und steigerte seinen Wunsch nach dem nächsten Platz neben dem Thron bis zur Leidenschaft, indem sie ihm ein Recht darauf zu geben schien. Anfänglich war es, als ob das Glück sein Streben begünstigen wollte; er erklimmte eine Stufe nach der andern, stieg immer höher und höher; aber das Gelingen machte ihn unvorsichtig, es schläferte seine Wachsamkeit ein, Feinde, die er gar nicht beachtete, arbeiteten im Verborgnen ihm entgegen; und so ward auch ihm das Schicksal, das schon so viele in seiner Lage traf, er fiel plötzlich, als er am sichersten zu stehen glaubte, und um so tiefer, je höher er gestiegen war.

Aarheims Fall zerriß die Verbindung mit der Tochter eines großen, glänzenden Hauses,[15] wenig Tage vor dem zur Vermählungsfeier bestimmten, und als er Besinnung genug gewann, um sich zu schauen, sah er sich furchtbar verlassen. Kein einziger Freund war ihm geblieben, seine Jugend früh und längst an ihm vorüber geschwunden, den größten Theil seines Vermögens hatten seine frühere Lebensweise und seine spätern großen Pläne verzehrt, seine Gesundheit war zerrüttet, er selbst erkannte in sich nur noch den Schatten von dem, was er einst gewesen war.

Sein Gemüth erstarrte in bitterm Haß, in tiefer Verachtung aller Menschen, vor allem der Frauen, und er schwur sich selbst, jeden geselligen Umgang so viel möglich Zeitlebens zu meiden. Von seinen vielen Gütern war ihm nur sein Stammgut geblieben, es lag tief im Gebirge, im Gebiet eines andern Fürsten; dorthin beschloß er vor dem Anblick der Welt zu fliehen, die ihn so unbarmherzig gemißhandelt hatte. Er raffte die Trümmern seiner übrigen Habe zusammen und eilte, sich in die tiefste Einsamkeit zu vergraben, in welcher nur demüthige Diener und zitternde Unterthanen seine Umgebung bildeten.[16] So lebte er mehrere Jahre und ward mit jedem Tage härter, schroffer und finsterer.

Der Brief eines Verwandten erinnerte ihn endlich einmal an die Außenwelt, die er so gern ganz vergessen hätte; es fiel ihm ein, daß sein noch immer sehr beträchtliches Gut Mannlehn war, und nach seinem Tode an einen entfernten Vetter fallen müsse, den er allein schon deshalb als seinen ärgsten Feind betrachtete, ohne ihn weiter zu kennen. Er war es leider gewohnt worden, von allen Menschen das Aergste zu vermuthen, und ahnete also auch bei seinem muthmaßlichen Erben das sehnlichste Verlangen nach seinem baldigen Tode, vielleicht gar Pläne, ihn zu beschleunigen; daher beschloß er plötzlich, sich noch im Spätherbst seines Lebens zu vermählen, um seinem Agnaten diese Hoffnung und Freude zu verderben.

Seine Wahl fiel auf Augusten von Rohrbach, die elternlos und arm auf einem kleinen Gute unfern Schloß Aarheim einsam traurige Tage bei einer alten Tante verlebte. Er hatte das Fräulein nie gesehen, ehe er um ihre Hand sich[17] bewarb, aber der Ruf ihrer Schönheit und der unermüdeten Geduld, mit der sie den Launen einer höchst wunderlichen Frau sich fügte, war bis in seine Einsamkeit gedrungen, und dies hinlänglich, ihn für sie zu bestimmen. An Liebe glaubte er nicht und war weit entfernt, sie zu fordern; ihm genügte Gehorsam von seiner künftigen Gattin, und diesen zweifelte er nicht unter solchen Umständen zu erlangen oder zu erzwingen.

Auguste von Rohrbach war in frühester Kindheit zur mutterlosen Waise geworden; ihr Vater hatte sie erzogen. Sein diplomatischer Beruf erlaubte ihm keinen festen Wohnsitz, sondern trieb ihn rastlos durch fast alle die glänzendsten Städte Europens; doch ließ er sich dadurch nicht hindern, seinem einzigen Kinde die möglichste Sorgfalt zu weihen. Ueberallhin mußte Auguste ihrem Vater folgen, und sobald ihr Alter es erlaubte, benutzte er alle Gelegenheiten, ihr in jeder Stadt, wo sie längere Zeit lebten, die besten Lehrer zu verschaffen, um sie in allen, ihrem Geschlechte zusagenden Wissenschaften und Künsten unterrichten zu lassen.[18]

Die freigebige Natur hatte das Kind nicht nur mit einer höchst anmuthigen Gestalt ausgestattet, sie begünstigte es auch mit seltenem Talent und schneller Fassungsgabe. Und so geschah es denn gar bald, daß Auguste der Stolz ihres Vaters ward, ein Kleinod, mit dem er gern bei jeder Gelegenheit prunkte und auf dessen seltnen Werth er große Pläne für kommende Zeiten erbaute. So wie sie älter ward, suchte er alle ihre Vorzüge ins hellste Licht zu stellen; kein Schmuck, der ihre schöne Gestalt erheben konnte, war ihm zu kostbar, überall mußte das junge Mädchen vor den erlesensten Zirkeln ihr musikalisches Talent üben, im einzelnen Tanz oder durch die zu jener Zeit als etwas ganz neues bewunderten Attitüden der Lady Hamilton die Zuschauer entzücken, und auf alle Weise bestmöglichst glänzen und schimmern.

Bei dieser Erziehung wäre Auguste eine eitle Thörin geworden, wenn nicht zum Glück den Kindern auffallende Fehler ihrer Eltern oft zu schützenden Warnern auf ihrem Lebenswege würden, besonders wenn sie sich durch sie in ihrer[19] angebornen Eigenthümlichkeit behindert fühlen. Dies war eben bei Augusten der Fall. Bis zur Furchtsamkeit bescheiden, kostete es ihr, als ganz jungem Mädchen, manche heiße, bittre Thräne, wenn sie auf Befehl ihres Vaters vor großen Gesellschaften mit ihren Künsten auftreten mußte. Späterhin gewann sie freilich durch lange Gewohnheit mehr Muth, aber auch hellern Beobachtungsgeist. Das heimliche, neidische Hohnlächeln der Anwesenden und deren leise geflüsterten Anmerkungen entgingen Augustens Scharfblick nicht, obgleich ihr Vater nichts davon ahnete. Diesen blendete der rauschende Beifall, welchen alle die Herren und Damen seiner Tochter um so reichlicher zollten, je schärfer sie, von ihm unbeachtet, die Geißel der Kritik über sie schwangen. Auguste wagte es nicht, gegen ihren Vater ihre Bemerkungen laut werden zu lassen, er war zu glücklich in seiner Verblendung, als daß es sie nicht hätte schmerzen sollen, ihn daraus zu wecken; aber innerlich fühlte sie sich durch diese Falschheit seiner vorgeblichen Freunde oft schmerzlich verwundet. Sie selbst ward indessen wenigstens[20] dadurch in der anspruchlosen Bescheidenheit erhalten, zu welcher ihr ganzes Wesen sich ohnehin neigte, und ihr tiefes Erröthen bei jedem laut ausgesprochnen Lobe zeigte deutlich, wie wenig sie sich bewußt war, es zu verdienen.

Ihre reine, schöne Natur wäre dennoch vielleicht dem ewigen Entgegenarbeiten des eitlen Vaters erlegen, doch frühe Liebe erhob sich ihr zum Schutzgeist. Rein und innig loderte die stille Flamme heißer Neigung zu einem edeln jungen Manne in ihrer jungen Brust, ihr selbst fast unbekannt und nur im Schmerz der Trennung sich zuerst ihr ganz offenbarend.

Ihr Geliebter war Sekretär bei der Legation ihres Vaters und in seinem Hause, zum Theil mit Augusten erzogen. Er lebte mit ihr unter einem Dache, theilte mit ihr alle ihre Freuden, half ihr bei ihren musikalischen Uebungen, war am Tische und auf Reisen über all in ihrer Nähe. Was konnten beide mehr vom Schicksal zu erlangen wünschen? Sie waren glücklich wie Kinder, die sich des heutigen Tages freuen, ohne dabei an morgen zu denken.[21]

Augustens Vater aber dachte nicht nur an heut und morgen, sondern auch an alle, diesen folgende Tage und Jahre. Ein Zufall entdeckte ihm das Geheimniß der Liebenden, es stimmte nicht zu seinen hohen Plänen mit der einzigen, glänzend erzognen Tochter, aber er schwieg dazu, weil er das menschliche Herz genug kannte, um zu wissen, daß hier mit Einreden wenig abgeändert werden würde. Er handelte lieber, wie er es gewohnt war, sobald sein Vortheil es heischte, kalt und ruhig, besonnen und sicher. Eines Morgens erwartete Auguste vergebens ihren Freund bei ihren musikalischen Uebungen; bei Tafel vermißte sie sein Couvert; er war spurlos verschwunden, und ihre erbleichende, zitternde Lippe vermochte nicht, eine Frage nach ihm auszusprechen. Unter dem Vorwand eines geheimen Auftrags von der äußersten Wichtigkeit war er in der Nacht weit weg versendet worden, am Orte seiner Bestimmung hatte man schon dafür gesorgt, daß er in noch entferntere Länder geschickt wurde, und so war er auf ewig von Augusten geschieden, ohne eine Ahnung davon zu empfinden.[22] Die Argusaugen seines Gebieters bewachten ihn zu sorgfältig in jener verhängnißvollen Nacht, als daß er nur ein Wort des Abschieds an Augusten hätte gelangen lassen können, überdem glaubte er auch, nur auf wenige Wochen sich von ihr zu trennen. Späterhin ward es ihm ganz unmöglich gemacht, einen Brief auf sicherm Wege in ihre Hände zu bringen. Beide hatten keine Vertrauten, ihre reine jugendliche Liebe bedurfte deren nicht, sie scheute jede Berührung der Außenwelt; wie hätten sie Fremden ein Geheimniß gestehen können, das sie gegen einander selbst kaum in Worten auszusprechen versucht hatten.

Ganz auf sich zurückgeworfen, blieb nun Auguste in der glänzendsten Gesellschaft einsam, wie in einer Wüste. Kein Laut des einzigen Wesens in der Welt, zu dem sie allein zu gehören sich bewußt war, tönte zu ihr herüber, nie hörte sie mehr den geliebten Namen nennen, als wenn sie selbst in stiller Mitternacht, unter heißen, langverhaltnen Thränen, ihn den stummen Wänden ihres einsamen Zimmers zurief.[23] Ihr Vater wußte in aller Freundlichkeit so abschreckend-schroff vor ihr zu stehen, daß das bange Mädchen es kaum wagen mochte, in seiner Gegenwart nur an den Geliebten zu denken. Er sah wohl ihre stille Trauer, aber er fragte nie nach der Ursache derselben und hoffte alles von der Zeit.

Dem Anschein nach verfehlte diese auch nicht, ihre gewohnte Macht zu bewähren. Auguste fand allmälig eine wehmüthige Freude im Schmerz um das verlorne Glück, in der unaussprechlichen Sehnsucht, die jetzt einzig in ihrem Busen lebte, und auch ihr Aeußres wurde von diesem Gefühl verklärt. Sie gewöhnte sich daran, ihren Freund unter den Todten zu denken. Ihr Vater, der es bemerkte, suchte schweigend sie in diesem Glauben zu bestärken, und nun wandte sie ihren Blick einzig nach oben, der Heimath ihres Lebens und ihrer Liebe. Hier unten ging sie willig den ihr von ihrem Vater vorgezeichneten Pfad, lächelte freundlich zu allen seinen Wünschen, und suchte wenigstens ihn zu erfreuen, da für sie auf der Erde keine Freude mehr blühte.[24]

So verlebte Auguste noch drei Jahre in verschiednen Ländern und äußern Umständen, ohne eine befreundete Seele um sich zu wissen. Selbst des Mädchenglücks, eine gewöhnliche Jugendfreundin zu besitzen, hatte sie zeitlebens entbehrt. Sie war selten viel länger als ein Jahr an dem nehmlichen Orte geblieben, hatte unzähligemal alle ihre Umgebungen wechseln müssen, und nie Zeit oder Gelegenheit gefunden, irgend eine dauernde Verbindung zu knüpfen. Die letzte Stadt, in welcher sie mit ihrem Vater längere Zeit verweilte, war Stockholm. Auf einer Reise von dort aus erkrankte er plötzlich in einem kleinen schwedischen Städtchen und starb.

Nie war eine Waise verlaßner, als die jetzt zwanzigjährige Auguste am Grabe ihres Vaters. Sie harrte dort, bis der ihr in den letzten Augenblicken vom Verstorbnen bestimmte Vormund sie nach Deutschland abzuholen kam. Der Nachlaß ihres Vaters war sehr gering, eignes Vermögen hatte er nie besessen und dabei in der Welt zu glänzend Haus gehalten, um beträchtliche Summen für seine Tochter zurücklegen zu[25] können; ihr blieb kaum genug, um davon nothdürftig zu leben. Willenlos, wie sie von jeher war, folgte sie jetzt ohne Widerrede dem Rath ihres Vormunds, und ließ sich von ihm zu der einzigen Verwandtin führen, die sie ihres Wissens noch in der Welt hatte, und die allein ihrer Jugend einen anständigen Zufluchtsort bieten konnte.

Unter Entsagungen aller Art, unter steten Uebungen unbeschreiblicher Geduld, schwanden von nun an Augustens Tage auf dem einsamen Landgute ihrer Tante, einer nach dem andern, einer wie der andre. So lebte sie mehrere Jahre lang. Erinnerungen der glänzenden Vergangenheit machten ihr die düstre Gegenwart nicht noch trüber, denn sie hatte keine Freude an deren flüchtigem Schimmer gefunden; aber das verklärte Bild des verlornen Geliebten wohnte noch immer tief verborgen in ihrem Herzen, von ewigem Jugendglanz umflossen, wie das Bild eines Heiligen in einem dunkeln Grabmal, das eine nie erlöschende Lampe erleuchtet.

Uebrigens war Auguste weder fröhlich noch[26] traurig, nur freundlich und still. Die Wenigen, welche sie kannten, ahneten nicht die ganze Freudenlosigkeit ihres Daseyns, aber alle bewunderten ihre Anmuth, ihr anspruchloses Wesen, und priesen die unerschöpfliche Langmuth und engelgleiche Gelassenheit, mit denen sie den wunderlichsten, unerträglichsten Launen ihrer Tante gefällig entgegen kam.

Letztere war eine jener scheinheiligen alten Betschwestern, die unter dem Mantel der Frömmelei die abschreckendsten Eigenschaften zu verdecken suchen, und mit dem glattesten, herzlosesten Egoism die ganze Welt nur einzig zu ihrer Bequemlichkeit erschaffen glauben. In der schriftlich an sie gerichteten Bewerbung des Baron Aarheim um Augustens Hand, sah sie nur den Finger Gottes, der sie von einer ihr lästigen Hausgenossin befreien wollte, und verkündete daher schonungslos ihrer Nichte das ihr unverdienter Weise zugefallne große Glück; dabei ermangelte sie nicht, dieses einzig ihrem eifrigen Gebet für Augustens Wohlfahrt zuzuschreiben. Dieser ihr Leben war jetzt mehr als je ganz[27] nach Innen gekehrt, die Außenwelt kümmerte sie wenig, weniger noch ihr eignes Schicksal; an Glück auf der Erde zu glauben hatte sie längst verlernt, und all ihr Hoffen ging weit über dieses Prüfungsleben hinaus. Daher fügte sie sich ohne Widerstreben dem deutlich ausgesprochnen Willen der Tante, wie sie sich früher dem ihres Vaters gefügt hatte. Mit ruhiger Fassung reichte sie dem Baron die Hand, als er sie heimzuführen kam. Sie war es sich bei diesem Schritte deutlich bewußt, daß sie nur ein unerfreuliches Daseyn mit einem ähnlichen, vielleicht noch unerfreulicherem vertauschte, aber sie folgte willenlos dem Winke des Schicksals.

Fest entschlossen, durch Treue, Sorgfalt und jede Aufopferung, dem Manne, der sie gewählt hatte, alles zu werden, was sie ihm zu werden vermochte, und bei allen ihren Handlungen einzig sein Glück zu bezwecken, betrat sie die dunkle Schwelle vom Schloß Aarheim. Und doch fühlte sich Auguste unendlich glücklicher wie sie es je zu träumen gewagt hatte, als sie nach Jahresfrist Gabrielens Mutter ward. Nun hatte sie[28] ein lebendes Wesen, das sie umfassen und beglücken konnte, mit all der bis jetzt tiefverborgnen Liebe, die der Grundton ihres Daseyns war. Sie lebte nun nicht mehr ohne Plan und Zweck in dieser Welt, sie wußte jetzt, für wen sie lebte, und trug nicht mehr bloß ergeben sondern freudig alle andere Zumuthungen des ihr im übrigen noch immer nicht freundlicher gewordnen Geschicks.

Gabriele ward beim Eintritt in das Leben vom Vater nicht freundlich willkommen geheißen. Er hatte auf einen Erben seines alten Namens und seines Stammgutes gehofft, und suchte nicht den Unmuth über die getäuschte Erwartung seiner Gemahlin schonend zu verhehlen. Jahre vergingen, Gabriele blieb das einzige Kind, und der Vater blickte nie mit Liebe, oft mit verbißnem Zorn auf sie herab.

Augustens unaussprechliche Milde, ihre unermüdete, allen Wünschen des Barons zuvorkommende Sorgfalt für ihn, siegten doch endlich einigermaaßen über sein von der Welt verwahrlosetes Gemüth. Ihm war jetzt zu wohl in[29] seinem Hause geworden, als daß er die Urheberin dieses ihm bis jetzt unbekannt gebliebnen behaglichen Zustandes nicht hätte von den übrigen Menschen unterscheiden sollen. Zwar blieb er hart und kalt im Leben wie zuvor, aber er duldete Augustens stilles Walten, in seinem Schloß sowohl als auf seinem Gute, und ließ ihr schweigend die Freiheit, das Schicksal seiner Unterthanen auf manigfache Weise zu erleichtern. Allmählig ward sein Vertrauen zu ihr immer größer, so daß er ihr zuletzt die ganze Verwaltung seiner Geschäfte allein übertrug, allem menschlichen Umgang, außer mit ihr und den ihn zunächst umgebenden Dienern, völlig entsagte und sich auf den entferntesten Flügel des weitläuftigen Schlosses zurückzog, wo er sich eine von allen übrigen Bewohnern desselben ganz abgesonderte Wohnung einrichten ließ.

Eine von seinen Vorfahren vor langer Zeit gesammelte Bibliothek war in der von ihm erwählten gänzlichen Abgeschiedenheit der einzige Zeitvertreib, welcher sich dem Baron gewissermaaßen entgegendrängte. Zuerst bewog ihn[30] Langeweile, die alten Bücher zu mustern und zu ordnen, aus welchen sie bestand; bald aber zog ihn der Inhalt eines Theils derselben unwiderstehlich an. Eine sehr vollständige große Sammlung alter alchymistischer Schriften, gedruckt und im Manuskript, war ihm in die Hände gefallen; er hatte sie Anfangs nur aus bloßer Neubegier durchblättert, aber diese Blätter fingen bald an, ihn immer ernstlicher zu beschäftigen, so daß er zuletzt mit unermüdetem Eifer sie Tag und Nacht studirte und alles Uebrige dabei vergaß, bis ihm die Möglichkeit, mit der Natur in ihrem geheimsten Walten zu wetteifern, völlig erwiesen schien.

Schon lange hatte er mit einem, aus gekränktem Stolz und Mitleid gemischten bittern Gefühl auf seine Gemahlin und seine Tochter geblickt, wenn er bedachte, daß diese nach seinem Tode Schloß Aarheim verlassen müßten, und in einer, wenn auch nicht hülflosen, doch gegen jetzt sehr beschränkten Lage zurückbleiben würden. Nun, da die Möglichkeit, Gold zu machen, ihm immer deutlicher, ja zuletzt zur Gewißheit ward,[31] regte sein alter eingeschlummerter Ehrgeiz aufs neue die Flügel. Schon sah er im Geist Gabrielen zur reichsten Erbin von Europa erhoben, um deren Hand einst Fürsten werben würden. Im voraus genoß er den hohen Triumph über seine Feinde, die ihn in den Staub getreten zu haben wähnten, aus dem er jetzt zu ihrer Beschämung glorreich empor zu steigen hoffte, und er beschloß, sein ganzes übriges Leben an dieses große Ziel zu setzen, zu dessen Erreichung ihm nichts zu kostbar schien.

Er ließ dicht neben seinem Zimmer ein eignes Laboratorium erbauen, in welchem er sich unablässig mit alchymistischen Versuchen beschäftigte, wenn er nicht über den Schriften brütete, die ihm jetzt als das Höchste erschienen. Den Seinigen ward er nur bei der Mittagstafel sichtbar und saß selbst dann stumm und in Gedanken verloren, ohne auf irgend etwas zu achten, was um ihn her geschah. Niemand im Hause konnte den eigentlichen Zweck seines Strebens nur ahnen, denn er arbeitete immer bei verschloßnen Thüren, und nahm nur im äußersten[32] Nothfall einen alten Diener zur Hülfe, der gar nicht wußte, was er that, indem er seinem Herrn bei alchymistischen Prozessen Handreichung leistete. Auguste selbst durfte nie die Schwelle der Zimmer ihres Gemahls betreten. Sie glaubte mit allen übrigen Hausgenossen, daß der Baron sich mit Erfindung neuer Färbestoffe beschäftige, denn er selbst hatte auf eine geschickte Weise diese Meinung zu veranlassen gewußt. Herzlich gern gönnte sie ihm diese harmlose Beschäftigung, ohne weiter darüber zu grübeln, und war nur besorgt, jede Störung mit verdoppelter Aufmerksamkeit von ihm abzuwenden.

Auguste erfreute sich jetzt der glücklichsten Zeit ihres Lebens. Jede Stunde des Tages durfte sie ungehindert dem Liebling ihrer Seele weihen, nie störte die Außenwelt sie in dieser süßen Beschäftigung, denn kein Besuch betrat jemals das Schloß, und die alte Tante war bald nach ihrer Verheirathung gestorben.

Die kleinen Sorgen für das Hauswesen hatte Frau Dalling anfangs redlich mit ihr getheilt, zuletzt sie deren völlig enthoben. Diese[33] wackere, nicht ungebildete Frau war noch vor Gabrielens Geburt in Augustens Dienste getreten und hatte bald nicht nur Vertrauen sondern auch Achtung und Liebe ihrer Herrschaft und der übrigen Hausgenossen sich erworben. Sogar der finstre, strenge Gebieter Aller bemerkte ihre treuen Dienste nicht ohne Wohlgefallen. Frau Dalling selbst hing mit der treusten Liebe an ihrer freundlichen Herrin und dem holdseligen Kinde, und hätte im Fall der Noth ihr Leben für beide willig geopfert.

Den schwachen Lebensfunken, mit welchem Gabriele zur Welt kam, konnte nur Mutterliebe und die sorgsamste Pflege vor frühem, völligen Erlöschen bewahren; sehr langsam wuchs sie kräftiger heran und ward endlich ein zwar gesundes, aber kein blühendes Kind. Ihre ganze Erscheinung hatte etwas ätherisches. Wenn das kleine zierliche Geschöpf durch den Garten hüpfte, die vollen, goldnen Locken um den blendend weißen Hals flogen, das dunkelbraune Auge fröhlich blitzte, und ein blasses Roth das einer weißen Rosenknospe ähnliche Gesichtchen sanft überhauchte;[34] dann glich es mehr der Elfenkönigin Titania, als einem sterblichen Wesen. So blieb Gabriele bis in ihr sechzehntes Jahr, dem Ansehen nach völlig ein Kind. Die köstlichsten Blumen zögern ja immer am längsten, ehe sie die schützende Knospe durchbrechen.

Wehmüthig bange sah Auguste dem Zeitpunkt entgegen, in welchem der goldne Traum der Kindheit dem ihr vom Himmel zum Trost gesandten Engel entschweben mußte; sie suchte ihn so lange als möglich zu entfernen; aber das ohne alle Gespielen ihres Alters, einzig bei dieser Mutter aufwachsende Mädchen reifte im Innern weit früher heran als im Aeußern.

Augustens Natur war die reinste, alles opfernde Liebe. Schüchtern geworden in der ihr so unfreundlichen Welt, hatte sie sich immer tief verborgen gehalten, und nur gestrebt, alles, was sie berührte, unbemerkt zu beglücken, bis sie in Gabrielen ein Wesen fand, bei dem es Pflicht ward, sich unverschleiert zu zeigen. Nun ward die mütterliche Liebe in ihrem so lange verwaist gebliebenen Gemüth zur hell lodernden[35] Flamme der Leidenschaft. Sie zog Gabrielen mit sich in ihre schöne innerliche Welt, dort lebten Mutter und Tochter ein, allen Uebrigen verborgenes, engelgleiches Leben, in gegenseitigem Verstehen, wie diese Erde es selten birgt. Vertrauen auf Gott, Muth und Ergebung zum Schutz gegen die unvermeidlichen Stürme des Lebens wußte Auguste frühe dem jungen Herzen ihrer Tochter einzuflößen. Gabriele lernte von ihr, stilles Dulden, bei festem Anhalten an das Rechte, als der Frauen höchste Pflicht erkennen; aber in wehmüthig vertrauten Stunden lernte sie auch von der Mutter, daß nur in der Brust des Weibes stille, durch sich selbst beglückte und beglückende Liebe wohnt, die selten echte Gegenliebe findet, und ihrer auch nicht bedarf, um des Lebens höchste, schönste Blüthe zu seyn.

Fröhlich suchte Auguste nun alles wieder hervor, was sie früher im Geräusch der ihr jetzt so fernen Welt erlernt hatte, um auch äußerlich ihren Liebling damit zu schmücken. Sie brachte dadurch in ihre düstre Einsamkeit ein wunderliches[36] Feenleben voll Wechsel und Glanz, von dem, außer der vertrauten Frau Dalling niemand etwas ahnen konnte. In den ausländischen Sprachen, die der Mutter während ihres langen Aufenthalts in fremden Ländern so geläufig als die eigne geworden waren, lernte Gabriele sich mit Leichtigkeit ausdrücken. Musik und bildende Kunst blieben auch in den trübsten Tagen Augustens freundliche Tröster; jetzt übte sie sie mit Gabrielen und fühlte die reinste entzückendste Freude bei deren Fortschritten in beiden. Sie lehrte sie, die unsterblichen Lieder der Dichter durch den Wohllaut der Stimme zu beleben. Uebung jeder schönen Kunst machte aus jedem Tage ihres stillen Beisammenseyns ein Fest. Gabriele lernte sogar, von der Mutter geleitet, sich durch Blumenkränze mit gemeßnem Schritte winden, oder mit einem Shawl die reizendsten Stellungen der Antike nachbilden. Auguste sah oft mit wonneglänzendem Auge die kleine Grazie, das Tamburin schwingend, im leichten, südlichen Tanze auf und niederschweben; sie gedachte dabei der trüben Tage ihrer eignen[37] Jugend, in denen sie lächelnd, wenn gleich mit halb gebrochnem Herzen, sich auf Befehl ihres Vaters vor schimmernden Versammlungen so zeigen mußte, und pries dankbar das Geschick ihres glücklichen Kindes und seine ungetrübte Freude an der heitern Kunst.

Stunden ernstern Unterrichts wechselten mit diesen, dem Schmuck des Lebens geweihten. Auguste selbst hatte eine zu sorgfältige Erziehung genossen, als daß sie nicht ihrer Tochter eine sehr vorzügliche Lehrerin hätte werden können. Sie las mit ihr aufmerksam und nöthigen Falls erläuternd, das Beste, was in unsrer und in fremden Sprachen für den Unterricht der Jugend geschrieben ward; sie führte sie früh in die Geschichte der Völker ein, aber sie öffnete ihr auch früh das Wunderreich der Poesie; Gabrielens leicht bewegliche Fantasie versank in seinem Zauber, und das rege Mutterherz mit ihr.

So geschah es denn, daß Gabrielens liebliche Erscheinung allen Reiz kindlich unbefangener Unschuld mit Kenntnissen und Talenten[38] vereinte, welche sonst nur durch die liberalste Erziehung reicher Eltern in großen Städten erworben werden können. In ihrer tiefen Einsamkeit kam ihr keine Ahnung von dem, was sie eigentlich war; alle Mädchen ihres Alters und Standes dachte sie sich weit unterrichteter, kunstreicher, liebenswürdiger als sich selbst, denn sie hatte noch nie eines gesehen, und fremdes Lob noch nie ihr Ohr berührt. Selbst ihr Vater hatte keine Ahnung von dem, was sie wußte und war; er sah sie nur bei Tische, wo Frau und Tochter in bangem Schweigen vor ihm erstarrten, und er selbst nur den Mund öffnete, um nach Vollziehung früherer Befehle zu fragen, oder neue zu ertheilen. Gabrielen fiel übrigens der Zwang, welchen seine Gegenwart ihr und der Mutter auflegte, nicht im geringsten auf. Von Jugend an dessen gewohnt, glaubte sie, es sey in allen Familien so, könne und dürfe nicht anders seyn, und Auguste hütete sich, sie in diesem Glauben irre zu machen.

Nie hätte das Band gelöst werden sollen, das Mutter und Tochter so beglückend vereinte,[39] ihre Herzen hätten immer zusammen, in gleicher Bewegung schlagen müssen, bis von Einem Grabe beide in einer Stunde aufgenommen worden wären. Aber im Buche dort oben war es anders geschrieben. Auguste erkrankte plötzlich und starb. Wenige Tage nur hatte das verzehrende Fieber in ihrem Innern gewüthet, der Schmerz des Todes war schonend an ihr vorüber gegangen; aber die Krankheit zerstörte gleich anfangs ihr Bewußtseyn, sie entschlief ohne auch nur einigermaaßen für Gabrielens künftige Verhältnisse sorgen zu können. Das Bild dieser Tochter am Grabe dieser Mutter verdecke ein undurchdringlicher Schleier; wer könnte es unternehmen, solch einen Schmerz beschreiben zu wollen!

Baron Aarheim erstarrte vor Schrecken über das so plötzlich über ihn hereingebrochene Unheil. Geliebt hatte er Augusten nicht, denn sein versteinertes Gemüth konnte nicht lieben; ihren vollen Werth hatte er nie klar erkannt, nur dumpf empfunden; aber schmerzlich fühlte er die durch ihren Tod entstandne Unbequemlichkeit,[40] für sein Haus und sein Kind selbsteigen sorgen zu müssen. Sobald er nur einigermaaßen wieder zur Besinnung kam, war er ernstlich darauf bedacht, sich dieser Sorgen zu entledigen, um nur wieder ungestört seinen alchymistischen Arbeiten leben zu können, von denen er sich hoffnungsreicher als je, den glänzendsten Erfolg ganz nahe versprach. Zum erstenmale würdigte er seine Tochter eines ernstlichen Bemerkens; ihre jugendliche Anmuth gefiel ihm. Von der seltnen Ausbildung ihres Geistes und ihrer Talente wußte und ahnete er fortwährend nichts, sie blieben ihm verhüllt, denn früherer Gewöhnung eingedenk, wagte es das traurige, schüchterne Mädchen kaum, in seiner Ehrfurcht gebietenden Nähe zu athmen.

Des Barons eifrigstes Bestreben ging jetzt dahin, Gabrielen irgendwo unterzubringen, wo sie alles lernen sollte, was ihr seiner Meinung nach noch fehlte. Seine Schwester, die Gräfin Rosenberg, schien ihm bei reiflichem Nachsinnen die Einzige, an die er sich in dieser Angelegenheit wenden konnte. Sie war mehrere Jahre[41] jünger als er, frühe verwitwet, und lebte mit ihrer einzigen Tochter mitten im Geräusch einer drei Tagereisen vom Schloß Aarheim entfernten großen Stadt, in welcher sie eines der glänzendsten Häuser bildete. Hier sollte Gabriele für den ausgezeichneten Platz gebildet werden, auf dem sie, wie der Vater fest glaubte, in der Welt zu glänzen bestimmt war. Seit mehr als zwanzig Jahren ergriff der Freiherr zum erstenmal wieder die Feder, um seiner Schwester zu schreiben. Er machte sie mit seinem Verluste bekannt, stellte ihr die Verlegenheit vor, in der er sich wegen der Erziehung seiner einzigen Tochter befand, und wandte alles an, um sie zu einem Besuch auf seinem einsamen Schlosse zu bewegen.

Aurelien war diese Einladung höchst unwillkommen, ihre Mutter hingegen ergriff sie mit einer Art von Begeisterung, die ihr sogar den Muth gab, dem Willen ihrer Tochter für dieses Mal gerade entgegen zu handeln. Eine Wallfahrt zum Stammhause ihrer Vorfahren, welches die Gräfin noch nie besucht hatte, schien[42] ihr so romantisch, sie dachte sich die dunkeln, hohen Gemächer, die gemalten Fensterscheiben, die langen Gallerieen voll alter Bilder ihrer Ahnen so interessant, sie freute sich so sehr auf den neuen Stoff zur geselligen Unterhaltung, daß sie, ungeachtet aller Einwendungen Aureliens, die Reise so viel möglich beschleunigte, und mehrere Tage früher im Schloß Aarheim eintraf als der Baron es erwarten konnte.

Doch kaum hatte sie einige Stunden dort verlebt, so sehnte sie sich schon wieder recht herzlich in ihre gewohnten Umgebungen zurück. Alles, was sie sah, machte auf sie einen weit andern Eindruck, als sie erwartet hatte. Die todte Stille in dem großen öden Gebäude ängstigte sie, die dunkeln winkligen Gänge und Säle, die viele Ellen-dicken Mauern schienen sie erdrücken zu wollen, vor allen aber erregte ihr der Anblick ihres Bruders ein nie gefühltes unüberwindliches, Grausen. Als einen großen stattlichen Mann hatte sie ihn zum letztenmal erblickt, nach einer langen Reihe von Jahren sah sie ihn jetzt, wieder zum hinfälligen, hagern Greise gealtert, und suchte[43] vergebens in seinen von mannigfachen Leidenschaften durchwühlten Zügen, in seinen tiefliegenden, dunkel glühenden Augen nach einer Spur von dem, was er in frühern Tagen gewesen war. Seine ganze Erscheinung blieb ihr nur eine stete ernste Erinnerung an die mächtige Gewalt der Zeit, die sie so gern für immer vergessen hätte, er stand vor ihr wie ein Gespenst, das aus einem schönen Traum sie erweckt, und seine Gegenwart war ihr um so entsetzlicher, je mehr sie zu verbergen strebte, was sie dabei empfand.

Auf Aurelien, die, vier Jahre älter als Gabriele, in der höchsten Pracht völlig erblühter Schönheit strahlte, machte der Baron freilich nicht den Eindruck als auf ihre Mutter, dafür aber fühlte sie sich beim ersten Schritt in das Schloß von der gräßlichsten Langenweile ergriffen. Besonders aber war sie ärgerlich über die kleine blasse Kusine, der unschuldigen Veranlassung dieser ihr widerwärtigen Reise. Um diesem Zorn Luft zu machen, auch wohl, um sich doch auf irgend eine Weise zu amüsiren, verfolgte sie die arme Gabriele[44] mit tausend lustigen Einfällen über das, was sie altmodisch-empfindsames Wesen nannte, und spottete ganz ohne Erbarmen, wenn das arme verschüchterte Kind dadurch in Verlegenheit gerieth, und sich irgend eine kleine Unbehülflichkeit zu Schulden kommen ließ. In bessern Stunden kramte sie vor ihr alle die Künste aus, um derentwillen man sie in der Stadt unter dem Namen einer zweiten Korinna zu vergöttern pflegte. Gabrielens sprachloses Staunen dabei schien ihr ein großer Triumph, ihr ahnete nicht, daß diese nur zu begreifen suchte, wie man von solchen Künsten so viel Wesens machen könne, die sie selbst nur gewohnt war als Erholung von ernstern Beschäftigungen zu üben. Noch weniger fiel es ihr ein, daß die unbedeutende Kleine in Manchem wohl nicht ohne Erfolg mit ihr zu wetteifern fähig wäre, denn Gabriele war zu furchtsam, und auch zu bescheiden gewöhnt, um auf die entfernteste Weise etwas davon zu äußern.

Es bedurfte nicht Aureliens ungestümes Treiben, um die Gräfin zur möglichsten Abkürzung[45] eines Aufenthalts zu bewegen, der ihren Erwartungen so gar nicht entsprach, besonders da der Baron weit entfernt war, auf dessen Verlängerung zu bestehen. Die Gräfin versprach ihrem Bruder in allgemeinen Ausdrücken, Gabrielen bis zum Frühlinge zu sich zu nehmen, ihr den nämlichen Unterricht zu verschaffen, den die glänzende Aurelia gehabt hatte, und sie in die Welt einzuführen. Dieß genügte ihm. Sie selbst hatte Gabrielen kaum des Bemerkens würdig geachtet. Von ihrer sehr kleinen Gestalt, und ihrem ganzen Ansehen getäuscht, hielt sie sie für ein kaum vierzehnjähriges Kind, und dieß mußte ein jeder, der solche zum erstenmale sah, und nicht Gelegenheit hatte, ihren weit über ihre sechzehn Jahre hinaus gebildeten Geist zu erkennen.

Am dritten Tage nach ihrer Ankunft rollten beide Damen sehr fröhlich über die Zugbrücke der alten Burg der Stadt wiederum zu. Gabriele athmete erleichtert auf, indem sie ihnen nachsah, aber im nämlichen Moment traf sie wie ein Donnerschlag aus heitrer Luft die Erklärung[46] ihres Vaters, daß sie in acht Tagen den Damen folgen würde, um wenigstens bis zum Frühling bei diesen zu verweilen. Dennoch vernahm sie den Befehl, ohne eine Einwendung dagegen zu wagen, denn die Möglichkeit, mit Blicken oder Worten dem Willen ihres Vaters zu widerstreben, war ihr nie in ihre Seele gekommen.

Es that ihr sehr weh, alle liebe, gewohnte, durch die einstige Gegenwart ihrer Mutter geheiligte Umgebungen verlassen zu müssen, besonders da sie vernahm, daß Frau Dalling sie zwar begleiten aber gleich nach vollendeter Reise zurückkehren würde, um wie sonst dem Haushalt ihres Vaters vorzustehen. Der schmerz über den Tod ihrer Mutter ergriff sie mit verdoppelter Gewalt; sie fühlte, wie trostlos sie in der Stadt unter Fremden seyn würde, von denen keiner ihre Mutter gekannt hatte. Hier im Schloß war sie es nicht, wenn sie auch weinte; der Mutter Geist wehte noch über alles, was sie umgab, sie setzte gleichsam unter seinem Schutz das gewohnte Daseyn fort, und achtete sich nicht[47] durch das Grab gänzlich von ihrer Mutter geschieden. Dabei fühlte sie ein unnennbares Grauen, wenn sie sich das künftige Leben mit der Gräfin und Aurelien lebhaft dachte, ein Gefühl, das durch die Art, wie beide sich in diesen Tagen gegen sie benommen hatten, recht wohl zu entschuldigen war; aber sie hatte Kraft genug ihr innres Widerstreben während der ganzen acht Tage, die sie noch im Schloß ihres Vaters blieb, zu verbergen, und mit schweigender Ergebung allen Anstalten zu ihrer Abreise zuzusehen. Sie gedachte dabei der Lehren und des Beispiels ihrer Mutter, jeder Tag des Lebens der früh Verklärten war ja auch durch alle die unzähligen, unbemerkten Opfer bezeichnet, die das Loos so vieler Frauen sind, welche die nur nach dem Schein urtheilende Welt glücklich preist. Gabriele hatte von ihr gelernt, sie für die Bestimmung ihres ganzen Geschlechts zu halten, aber auch das Unvermeidliche mit guter Art zu ertragen.

Nur am Abend des letzten Tages im väterlichen Hause ward die Last des Schmerzes und[48] der Sorge der jungen Brust zu mächtig und zwang ihr laute Klagen ab. Zum letztenmal saß sie mit ihrer lieben Frau Dalling in dem vertrauten Zimmer, wo sie gewohnt hatte, seit sie geboren war; sie hatte an diesem Tage alle ihre lieben Plätze in Garten und Wald noch einmal einsam besucht, hatte im Zimmer, welches sonst ihre Mutter bewohnte, und am stillen Grabe, in welchem diese jetzt ruhte, zu ihr wie zu einer Heiligen gebetet; auch ihr Vater hatte ihr schon Lebewohl gesagt, und seine ihr ganz ungewohnte Freundlichkeit beim Abschied war ihr tief ins Herz gedrungen. Allen Bedienten im Schloß, unter deren Augen sie aufgewachsen war, hatte sie freundlich die Hand gereicht, sie zum letztenmal durch kleine Gaben erfreut und betrübt, und ihrer Sorgfalt die einzigen Spielgefährten ihrer Kindheit aufs dringendste empfohlen. Dieses waren schöne Blumen, ihre lieben Zöglinge, und viele freundliche zahme Thiere, welche sich jeden Morgen in buntem Gewühl um sie drängten. Jetzt ward ihr zu Muthe, als wäre sie von ihrem ganzen Jugendleben geschieden, und mit einem Strom heißer, langverhaltner[49] Thränen warf sie sich in die treuen Arme der Pflegerin ihrer Kindheit, von der sie auch in wenigen Tagen sich trennen sollte.

Frau Dalling stellte vergebens dem weinenden Mädchen vor, daß Tausende an seiner Stelle sich überglücklich fühlen würden, wenn sie das öde Schloß mit dem glänzenden Hause der Gräfin Rosenberg vertauschen sollten. Gabriele aber hatte keinen Sinn für die Freuden, die dort sie erwarten mochten. Wie die Tante und Aurelien, so dachte sie sich die Welt, in welcher sie künftig leben sollte. Aus deren Benehmen gegen sie schloß sie auf den Empfang, welcher sie in der Gesellschaft erwartete. Uebersehen oder verspottet zu werden, ist eine gar zu traurige Alternative für ein junges, an Liebe gewöhntes Wesen, und etwas anders glaubte sie nicht hoffen zu dürfen. Auch der Trost, daß der Frühling sie wieder in ihre Heimath zurückführen würde, machte keinen Eindruck auf das tiefbetrübte Kind. Die Bäume begannen eben erst, sich herbstlich zu färben, acht Monate mußten wenigstens vergehen, ehe sie wieder im Blüthenschmuck prangten. Im reifern[50] Alter reihen sich die Tage sehr schnell zu Wochen und Monden, sie werden zu Jahren, ehe wir uns dessen versehen, aber im sechzehnten Jahre dünken uns acht Monate eine so unabsehbare Zukunft, daß Gabriele sie kaum zu erleben glaubte.

Mit wahrer Freude sah Baron Aarheim am folgenden Morgen den Wagen in aller Frühe nach der Schloßbrücke fahren, in welchem die trauernde Gabriele neben ihrer Dalling saß. Er athmete dabei hoch auf, als sey er einer schweren Sorge entledigt, und verschloß sich sorgsamer und eifriger als je bei seinem Forschen nach den dunkeln Geheimnissen der Natur, fest bestimmt, durch keine andern Geschäfte sich davon abhalten zu lassen. Frau Dalling hatte im Lauf von mehr als sechzehn Jahren sich zu treu bewiesen, als daß er ihr nicht bei ihrer baldigen Rückkehr die Besorgung seiner häuslichen Angelegenheiten ohne Bedenken hätte überlassen sollen; übrigens bekümmerte ihn die Verwaltung seines Gutes jetzt sehr wenig, da er in kurzem der Besitzer unermeßlichen Reichthums zu werden gedachte.

Zum erstenmal überschritt jetzt Gabriele die[51] enge Gränze des kleinen Gebiets ihres Vaters, denn Auguste hatte auch hierin seinen deutlich ausgesprochnen Willen geehrt, und war mit ihrer Tochter gern in den Schranken geblieben, welche er ihr zu setzen für gut hielt. Als Gabriele die letzten bekannten Bäume und Hütten hinter sich gelassen hatte, kam ihr alles unheimlich und unabsehbar groß vor, was sie erblickte. Das Rasseln der Räder ihres Wagens durch die engen, schmutzigen Straßen des ersten kleinen Städtchens erschreckte und beängstigte sie; die Leute, denen sie darin begegnete, erregten ihr Grauen, denn sie grüßte sie freundlich, wie sie es gewohnt war, und sie starrten sie verwundert an, ohne ihren Gruß zu erwiedern. Endlich mochte sie gar nichts mehr sehen, schloß die Jalusieen des Wagens, wickelte sich in ihren Schleier und saß lange in schweigendem Sinnen verloren, bis Frau Dalling dem Wunsch nicht mehr widerstehen konnte, durch liebkosende Fragen ihre junge Reisegefährtin aus ihren Träumereien zu erwecken.

Sey ruhig, gute Dalling, entgegnete ihr Gabriele, ich dachte jetzt an meine Mutter, und überlegte[52] was ich thun muß, um zu seyn, wie sie es wünschen würde. Der Zeitpunkt ist sehr früh gekommen, den sie mir so oft mit schmerzlichem Vorgefühl andeutete; ich trete jetzt in die fremde Welt, und ohne sie. Aber sie soll mir nicht gestorben seyn, ich will wie unter ihren Augen mein Leben fortsetzen, denn hier in meiner Brust fühle ich zu deutlich alles, was sie mir rathen würde, und die fremden Leute sollen mich nicht darin stören. Finde ich ein Wesen, das ich lieben könnte, so will ich lieben, auch wenn man mich nicht bemerkt, und ich werde glücklich seyn, denn wer liebt, ist glücklich; alles andre was kommen kann, werde ich gefaßt zu ertragen streben, wie meine Mutter auch that; darum, liebe Dalling, gräme dich nicht um mich, auch wenn du mich in wenigen Tagen verlassen mußt; freilich thut mir noch das Herz sehr weh, aber alles soll dennoch gut werden.

Von diesem Moment an ward Gabriele augenscheinlich heiterer, Frau Dalling sah mit einiger Freude, wie das junge Kind gegen seine vorige Trostlosigkeit ankämpfte, selbst gegen das[53] Bangen vor dem ersten Eintritt in das gefürchtete Haus der Tante und in neue unbekannte Verhältnisse. Sie ist ganz wie die Mutter, dachte die gute Frau, aber doch auch ein wenig wie der Vater.


Am Abend des zweiten Tages der Reise langten unsre Wandrer ziemlich früh in dem ihnen vom Baron bestimmten Nachtquartiere an; es war das letzte unterwegs, denn sie gedachten, am folgenden Tage noch bei guter Zeit den Ort ihrer Bestimmung zu erreichen. Der Wagen hielt vor der Thüre eines großen ansehnlichen Gasthofes, mitten auf dem gewühlvollen Marktplatz der ersten bedeutenden Stadt, welche Gabriele sah. Viele Fremde füllten die Fenster des Hauses und betrachteten mit und ohne Brille neugierig die Aussteigenden. Diesen kam der auf ihre Ankunft vorbereitete sehr elegante Gastwirth höflich entgegen. Alles war Gabrielen neu und beängstigte sie nicht wenig, sie eilte durch die Schaar der zu ihrem Empfang geschäftig hin und her laufenden Aufwärter, und war herzlich froh,[54] so schnell als möglich in das für sie bereitete Zimmer flüchten zu können. Dort fühlte sie sich vor allen den vielen Augen gerettet und blickte mit Wohlgefallen aus dem Fenster auf das ihr ganz neue Schauspiel der Kutschen und geputzten Leute, die dem nahen Theater zuwogten.

Lautes Lachen dicht unter ihrem Fenster machte sie aufmerksam; sie sah eine Menge Zuschauer um einen sehr schönen Reisewagen vor der Thüre des Gasthofes versammelt, aus welchem eben zu Gabrielens Verwunderung ein altes Mütterchen in der ärmlichsten Bauerntracht, gebückt und mühsam heraus kletterte. Ein junger Mann von vornehmem Ansehen unterstützte sie mit seinem Bedienten und geleitete sie mit großer Sorgfalt in das Haus, ohne sich durch die lauten Anmerkungen der Umstehenden im mindesten dabei stören zu lassen.

Da hat uns der Herr Graf einen angenehmen Gast mitgebracht, Herr Lorenz! hörte Gabriele den Kellner zu dem eben wieder hinaustretenden Kammerdiener des Fremden sagen, die Alte sieht ja aus, als wäre ihr die Ofengabel[55] unterwegs scheu geworden und habe sie abgeworfen. Viel anders wird es auch wohl nicht seyn, erwiederte Herr Lorenz sehr verdrüßlich, wir fanden sie im Chaussee-Graben, und denken sie nur, fuhr er fort, ich mußte wegen des häßlichen Ungethüms aus dem Wagen und auf den Kutschbock neben den Jäger mich setzen. Unerhört! rief der Kellner, mit allen Zeichen des höchsten Erstaunens. Ach was unerhört! antwortete Herr Lorenz noch verdrüßlicher, mein Herr macht mir alle Tage ähnliche Streiche, und am Ende fällt der Schimpf immer auf mich, wenn wir so wie heute vor den Leuten zum Spektakel werden, denn ihm ist das einerley. Hören Sie, lieber Herr Lorenz, sprach beschwichtigend der eben hinaustretende Wirth, das verstehen Sie nur nicht recht, der Herr Graf machen den Spleen mit, das ist jetzt unter den jungen Herrn eine ganz neue Mode aus England.

Gabriele mochte nichts weiter hören, sie wandte sich vom Fenster, konnte aber das kleine Abentheuer den ganzen übrigen Abend nicht vergessen. Der Wunsch, von der wunderlichen Reisegesellschaft[56] mehr zu erfahren, überwand zuletzt die Furcht, in dem fremden Hause allein im Zimmer zu bleiben, und Frau Dalling mußte sich entschließen, ihrem Bitten nachzugeben und auf Erkundigung hinunter zu gehen. Der Name des Fremden war der Wirthin unbekannt, obgleich er schon einigemal ihr Haus besucht hatte. Uebrigens hörte Frau Dalling erzählen, daß der Fremde wirklich die arme Frau unterwegs halb ohnmächtig im Chausseegraben liegend gefunden und sie zu sich in den Wagen genommen habe, weil sie nicht weiter gehen konnte, und sich auf dem hohen Kutschersitz nicht festzuhalten vermochte. Die gute Alte war vor wenigen Wochen durch den Tod ihrer Tochter ihrer einzigen Stütze beraubt, und wollte jetzt nach Böhmen zu ihrem dort ansäßigen Sohne. Mühselig hatte sie sich viele lange Tage auf dem Wege dahin fortgeschleppt, bis sie vor Ermattung nicht weiter konnte, und ohne den Beistand des Fremden wäre ihr wahrscheinlich in der kalten Herbstnacht der Tod geworden. Jetzt war ihr geholfen, der Fremde hatte nicht nur für ihre augenblickliche Erquickung gesorgt, sondern[57] sie auch so reichlich beschenkt, daß sie den Rest des Weges fahren konnte, ohne deshalb mit ganz leeren Händen bei ihrem Sohne anzulangen.

Die halbe Nacht hindurch mußte Gabriele an den Unbekannten und seine menschenfreundliche Handlung denken, sie träumte sogar von nichts Anderem. Nicht die That selbst war es, was sie in Bewunderung versetzte, diese kam ihr gar nicht außerordentlich vor, denn oft hatte sie ihre Mutter Aehnliches üben gesehen, wohl aber, daß ein Mann solchen zarten Mitleids, solcher thätigen Theilnahme an fremden Leiden fähig sey. Dieses feinere Gefühl hatte sie bis jetzt einzig für das Eigenthum der Frauen gehalten; sie kannte keinen Mann außer ihrem Vater, dessen in Erbitterung erstarrtes Gemüth bei jedem ähnlichen Anlasse nur zu deutlich sich aussprach. Mehr oder weniger ihm ähnlich dachte sie sich fast alle Männer im wirklichen Leben, und Auguste hatte absichtlich diese Meinung unangefochten gelassen.

Kein Wunder war es demnach, daß der Unbekannte Gabrielen wie eine seltene Erscheinung aus einer andern Welt vorschwebte. Gern hätte[58] sie wenigstens die Züge seines Gesichts deutlich gesehen; obgleich sie aber am andern Morgen weit früher als Frau Dalling erwachte und vom Geräusch Abreisender sich an das Fenster locken ließ, so sah sie doch nur seine Gestalt, als er in den Wagen stieg, und hörte seine Stimme, indem er der alten Frau noch einige freundliche Abschiedsworte zurief. Etwas ungeduldiger als gewöhnlich fing Gabriele nun an, ihre eigene Abreise zu betreiben, im Wagen beschäftigte sie nur der Unbekannte, sie bildete sich tausend Möglichkeiten, ihn im Hause der Tante anzutreffen, sie dachte sich allerlei Verhältnisse, in welche sie mit ihm gerathen könnte, und sprach so lange mit ihrer Reisegefährtin von nichts Anderem, bis sie selbst über ihre kindische Einbildung lächelnd ausrief: Was denke ich weiter an ihn, er ist jetzt fern von hier und ich sehe ihn in meinem Leben nicht wieder. Aber in ihrem Herzen behauptete eine dem Wunsch sehr gleichende Ahnung das Gegentheil, und diese traf früher ein, als sie hoffen konnte, denn der Fremde war Ottokar.
[59]

Ein ungeheures Lärmen im Hause erweckte Gabrielen am ersten Morgen in ihrem neuen Aufenthalt. Thüren wurden auf- und zugeschlagen, Treppen und Vorsäle dröhnten von den Tritten der hin und her laufenden Bedienten und Handwerker, es war ein Hämmern, ein Fluchen, ein Rufen und Schelten, als sey eine feindliche Armee eingerückt und das Haus dem Abendfeste zu Ehren in völligem Aufruhr.

Gabriele schmiegte sich vor dem ungewohnten Getöse wie ein schüchternes Vögelchen in eine Ecke, bis die Stunde schlug, in der sie der Tante ihren Morgenbesuch abstatten mußte. Mit Erstaunen begegnete sie auf der Treppe dem wohlbekannten Herrn Lorenz, schwer belastet mit einem Korbe voll der auserlesensten Blumen. Seine Erscheinung freute sie, als ein Beweis, daß sie nicht irrte, indem sie in Ottokarn den Unbekannten aus dem Gasthofe wieder zu finden glaubte. Aber als sie weiterhin ihn selbst durch die halb geöffnete Thüre eines Zimmers erblickte, und dadurch die Gewißheit erhielt, mit ihm in Einem Hause zu leben, ihn alle Tage zu sehen und zu[60] hören, da bemächtigte sich ihrer ein freudig-ängstliches Gefühl. Es war ein Glück für sie, daß die Gräfin, zu beschäftigt mit Anordnungen für den Abend, Gabrielens Eintritt kaum bemerkte und noch weniger ihr höchst befangnes Wesen. Kurz, aber freundlich entließ die Tante sie gleich in der ersten Minute, und gab ihr nur noch die Weisung mit auf den Weg, sich zu Aurelien zu begeben, die sie in ihrem Zimmer finden würde, umringt von Freundinnen, welche heut mit einander in Geschenken zu ihrem zwanzigsten Geburtstage wetteiferten.

Den Geburtstag hatte die arme Gabriele ganz vergessen, und ein Geschenk für die gefürchtete Kusine setzte sie in die höchste Verlegenheit. Sie eilte zurück in ihr Zimmer, ergriff ohne große Wahl eine ihrer besten Zeichnungen und betrat damit athemlos die Schwelle des zierlichen Zimmers, in welchem Aurelia in frischer, einfacher Morgentracht, schön wie der junge Tag, vor einem großen Tische stand, auf dem alles ausgebreitet lag was die Mode in unsern Tagen köstliches und elegantes zum Schmuck der Jugend erfand.[61] Eine Schaar junger Mädchen half ihr alle die Geschenke bewundern, mustern und ordnen, mitten unter ihnen stand Ottokar mit sichtbarer Freude an dem jugendlichen Wesen und Treiben. Die seltensten, schönsten Blumen aller Jahreszeiten und Zonen blüheten und dufteten an Wänden und Fenstern. Gabriele erkannte die Blüthen auf den ersten Blick für die nehmlichen, welche Lorenz vorhin an ihr vorüber trug.

Da kommt unser kleiner Eigensinn von gestern Abend, rief Aurelie, als sie Gabrielen erblickte, und trat freundlich der Verlegnen entgegen, die es kaum wagen mochte, ihr bescheidnes Geschenk neben allen jenen Herrlichkeiten zu zeigen. Das ist ja leibhaftig die Gespensterburg deines Vaters, fuhr Aurelia fort, indem sie die Zeichnung besah; so nimmt sie sich vortrefflich aus, aber behüte mich der Himmel davor, sie in der Wirklichkeit wieder zu sehen! Gemalt sind die alten Schlösser ganz allerliebst; auch auf dem Theater oder in Romanen mag ich sie wohl leiden, besonders wenn ganz erschrecklich wundersame Begebenheiten sich darin zutragen, aber sitzt man selbst in solch einem[62] alten Neste und lebt so allein fort, ohne etwas zu erleben, dann thäte man besser, vor Graun und Langeweile zu sterben. Ich wundre mich wirklich, daß ich während der zwei Tage im Schloß Aarheim noch mit dem Leben davon kam. Es ist eine betrübte Existenz; danke Gott, liebes Kind, daß du ihr entronnen und bei uns bist, du wärst dort auch so eine Art von Käuzlein in den krausen alten Thürmen geworden; Anlagen hast du dazu, sprach sie lächelnd, indem sie Gabrielen umarmte und sie dann allen ihren gegenwärtigen Freundinnen der Reihe nach vorstellte.

Die Menge der Namen rauschte an Gabrielens Ohr vorüber, ohne daß sie einen zu fassen vermochte, nur fiel es ihr auf, daß auch die Gräfin Eugenia sich unter den Glück wünschenden Freundinnen befand. Diese hier zu sehen, hätte sie nach der Scene des gestrigen Abends nicht erwartet, noch weniger in so anscheinend vertrautem Verhältniß mit Aurelien. Alle die jungen Damen waren gegen Gabrielen sehr zuvorkommend freundlich; aber diese blieb verlegen, sie haßte sich selbst in diesem Moment wegen ihrer[63] Unbehülflichkeit, die sie doch nicht abzuwerfen vermochte. Ihre Bänglichkeit stieg mit jeder Minute, denn sie sah, daß Ottokar ihre Zeichnung aufmerksam betrachtete; und als er nun vollends die geistreich kühne und dennoch vollendete Ausführung derselben lobte, und sich mit der Frage nach dem Namen des Künstlers an sie wendete, da konnte Gabriele vor gewaltigem Herzklopfen kaum ihre eigne Antwort hören, daß sie selbst unter Anleitung ihrer Mutter sie gezeichnet habe. Er sprach noch einige lobende Worte und verließ bald darauf die Gesellschaft.

Gabriele langte bei ihrer Dalling mit dem Gefühl an, als sey eine höchst wichtige Begebenheit vorgefallen, etwas ganz Unerhörtes geschehen, das sie der Einzigen kund thun müsse, die noch in der Welt Theil an ihrem Schicksal nahm; und dennoch wußte sie nichts zu sagen, was sich nicht in der Erzählung höchst gewöhnlich ausgenommen hätte. Eine nie gefühlte Unruhe trieb sie rastlos umher. Wenn sie ihres ungeschickten Benehmens gegen Aureliens Freundinnen gedachte, wenn sie sich errinnerte, wie jene von ihrem Aeußern und[64] ihrem Betragen irre geführt, sie wie ein Kind behandelt hatten, dem man freundlich thut, damit es nur nicht weine; dann verging sie fast in der fürchterlichen Qual, sich ihrer selbst zu schämen, denn sie konnte es sich nicht verhehlen, daß sie größtentheils durch eigne Schuld in diesem Lichte erschienen war. Ottokars Lob ihrer Zeichnung vermochte nicht, sie zu trösten, sie glaubte eine Spur ungläubigen Lächelns an ihm bemerkt zu haben, da sie sich selbst nannte, als er nach dem Namen des Künstlers gefragt hatte, und dieß kränkte sie noch tiefer als alles übrige. Frau Dalling selbst war in diesem Moment über die auf den folgenden Morgen bestimmte Trennung von dem Liebling ihres Herzens zu betrübt, als daß sie fähig gewesen wäre, Gabrielen Trost und Muth einzusprechen, sie verstand sogar den Kummer und das beklommne, unruhige Wesen derselben nicht, sondern schrieb alles dem Gefühl zu, von dem sie selbst niedergebeugt ward. Und so wußte die gute Frau nichts beßres zu thun, als Gabrielen recht mütterlich in ihre Arme zu schließen und herzlich mit ihr zu weinen, da diese,[65] von innerm Weh überwunden, zuletzt in heiße, bittre Thränen ausbrach.

Gabriele errang auch dießmal ihre gewohnte Fassung zuerst wieder. »Ich will nicht mehr weinen,« sprach sie, trocknete ihre Augen und richtete sich hoch auf. »Laß mich jetzt von dir Abschied nehmen, liebe Dalling,« setzte sie hinzu, »jetzt in dieser ruhigen Stunde, nicht heute Abend, wenn ich erschöpft aus der Gesellschaft komme, nicht morgen früh im Geräusch des Einpackens und der Abreise. Du gehst mit Tagesanbruch von mir, geleite dich Gott, du meine einzige Freundin in dieser Welt, grüße meine Berge, meine Bäume, meine Blumen; ich war unter ihnen sehr glücklich, aber auch hier werde ich nicht unglücklich seyn, der Gedanke an meine Mutter wird mich vor Unrecht behüten, und alles andre ist zu ertragen. Noch bin ich hier fremd, noch ist mir alles ungewohnt, und der Abstand zwischen jetzt und ehemals ist sehr groß; aber ich werde mich eingewöhnen und lernen, was mir noch fehlt, um in diesen neuen Verhältnissen mich zurecht zu finden. Mein Vater schickte mich her,[66] um mich für die Welt zu bilden; sage ihm, daß ich ihm gehorsam seyn und alles thun werde, seinen Wunsch zu erfüllen so viel ich es vermag. Und nun nimm meinen Dank für deine unaussprechliche Liebe und Treue. Sehnen werde ich mich immer nach dir, aber glaube nur, ich weiß es, ich finde auch hier ein Wesen, das ich lieben kann, und bin dann glücklich; laß dieß nochmals dir zum Troste gesagt seyn, wenn du im Schloß Aarheim sorgend meiner gedenkst.«


Bei aller ihrer mühsam errungnen Fassung sah Gabriele dennoch mit Zittern der Stunde entgegen, in welcher sie sich am Abend zur Gesellschaft begeben mußte; sie fürchtete neue Verlegenheiten, neue Demüthigungen, ohnerachtet sie sich fest vorgenommen hatte, ihre scheue Blödigkeit so viel möglich zu besiegen. Kein Zureden Aureliens und ihrer Kammerjungfern, sogar nicht das Zürnen der Tante hatten sie bewegen können, in ihrer, die tiefste Trauer bezeichnenden Kleidung etwas abzuändern. Selbst dem Bitten ihrer lieben Frau Dalling hatte sie widerstanden, die[67] durch die Wichtigkeit, welche man der Sache gab, in ihrer eignen Ansicht wankend geworden war. »So geh denn, eigensinniges Kind!« entschied endlich die Tante, des Streitens müde, »geh wie du willst und verdanke dir es selbst, wenn du ausgelacht wirst.«

Die vielen Lichter, die emsig hin und her laufenden Diener, die glänzende Versammlung in der langen Reihe prächtig dekorirter Zimmer erregten in Gabrielen jene Art Bangigkeit, welche wohl einen Jeden beim ersten Eintritt in die Welt ergreift, der auch nicht so klösterlich aufwuchs wie sie. Giebt es doch viele in der Gesellschaft, denen dieß Gefühl zeitlebens bleibt, selbst aus den höhern Ständen, die für abstoßend stolz gelten, während sie nur verlegen sind. Wenige von den Gegenwärtigen bemerkten Gabrielens Eintritt in den Saal, aber diese Wenigen staunten beim Anblick des bleichen, der Kindheit kaum entwachsenen Mädchens im langen schwarzwollnen Trauerkleide, dem tief hinunter wallenden Kreppschleier, mit der breiten, die Stirne bedeckenden Schneppe, unter der sich nur einige[68] ihrer wie Gold glänzenden reichen Locken hervordrängten. Der Tante Prophezeihung ward nicht erfüllt, niemanden fiel es ein, zu lachen, aber jedermann wich ihr mit einer Art Aengstlichkeit aus, denn diese dunkle Erscheinung mitten im festlichen Glanze hatte wirklich etwas Geisterartiges. Vergebens blickte Gabriele um sich her und suchte in dem Gewühl, ein bekanntes Gesicht heraus zu finden, sie erblickte keines; selbst die Gräfin und Aurelia waren nicht gegenwärtig, der Anzug für die Tableaus hielt sie entfernt. Eine schöne Frau mittleren Alters vertrat die Stelle der Frau vom Hause beim Empfang der Gesellschaft. Gabriele fühlte sich mächtig von ihr angezogen, sie glaubte, in ihr eine entfernte Aehnlichkeit mit ihrer Mutter zu finden und konnte kaum den Blick von ihr wenden, aber sie kannte sie nicht und wagte es daher auch nicht, sich ihr zu nähern.

So stand Gabriele lange ganz allein, sah, wie überall Gruppen von Bekannten sich bildeten, wie einzelne Paare einander aufsuchten und sich im eifrigen Gespräch von den übrigen absonderten.[69] Niemand suchte sie, niemand hatte ihr etwas freundliches zu sagen, sie war und blieb einsam mitten in der großen Versammlung und ward darüber recht innerlich betrübt. Der Gedanke, wie sie eigentlich eben so verlassen in der ganzen Welt dastehe als hier in der Gesellschaft, fiel mit lastender Schwere auf ihr nach Liebe sich sehnendes Gemüth. Schon war sie im Begriff, sich von alle den Glücklichern zurückzuziehn und in ihr einsames Zimmer zu schleichen, als sie ihre Hand ergriffen fühlte. Es war der freundliche ältliche Mann, dessen unerwartete Anrede sie am vergangnen Abende so erschreckt hatte, und der ihr jetzt den Arm bot, um sie im Gefolge der übrigen Gesellschaft in das zu den Tableaus bestimmte Zimmer zu führen.

Eine von Haydns herrlichsten Symphonieen verkündete dort das nahe Aufrauschen des die Darstellung noch verhüllenden Vorhangs. Nie zuvor hatte Gabriele den Einklang vieler Instrumente zugleich gehört, er ergriff sie mit seinem allgewaltigen Zauber, vor welchem alles Beengende von ihr abzufallen schien. Die Töne trugen[70] sie weit weg auf unsichtbaren Flügeln in ihr magisches Reich, sie sprachen mit ihr von ihrer Vergangenheit, von allem, was ehemals sie beglückt hatte, und hauchten ihr neue Freude am Leben und frischen Jugendmuth ein. Die Dämmrung in dem nur durch die Lichter der Nebenzimmer schwacherleuchteten Saal erlaubte es ihr, ungehindert sich ihrem Gefühl zu überlassen; ihr Führer war neben ihrem Sitz stehen geblieben; mit dankbarem Vertrauen blickte sie zu ihm auf und entdeckte im nehmlichen Moment dicht neben ihm Ottokars hohe Gestalt, der sie begrüßend sich gegen sie verbeugte.

Ein Gruß im gewöhnlichen Gange des Lebens ist gar wenig, aber unendlich viel für den, der vereinzelt in einer großen Gesellschaft, mit dem Gefühl der Verlassenheit dasteht; dies Zeichen des Bemerktwerdens, gerade von ihm, gab Gabrielen ein so tröstendes Selbstbewußtseyn, daß sie dadurch beruhigt, in den Stand gesetzt ward, sich des eben beginnenden Schauspiels wirklich theilnehmend zu erfreuen.

Tante Kleopatra nahm sich auf ihrem königlichen[71] Thron zum Bewundern gut aus. Mit aller ersinnlichen Grazie hielt sie die reiche Perle über den Becher, und hatte keine Ahnung von den Anmerkungen, die links und rechts unter den Zuschauern hingeflüstert wurden. Dreimal senkte sich der Vorhang, dreimal mußte er auf lautes Bitten der Anwesenden sich wieder heben, die alle behaupteten, des herrlichen Anblicks gar nicht müde werden zu können.

Am entzücktesten stellte sich die Gräfin Eugenia, ihr Beifall war der rauschendste und kannte weder Maaß noch Ziel, während sie zu gleicher Zeit tausend witzigboshafte Einfälle über die herbstliche Kleopatra und ihren das Schmuckkästchen tragenden Edelknaben den jungen Herren zuflüsterte, die dicht zusammengedrängt hinter ihrem Stuhle standen, ihr aufs kräftigste applaudiren halfen, und dabei jedes ihrer Worte mit allen Zeichen des Beifalls von ihren Lippen gierig auffingen. Sie saß so nahe bei der von ihr ganz übersehenen Gabriele, daß diese keine Sylbe von dem, was sie sprach, verlieren konnte; auch manches andre spottende Wort einiger der übrigen Anwesenden[72] traf deren Ohr und kontrastirte so sehr mit der, von allen laut ausgesprochnen Bewunderung, daß Gabriele ein innres Grausen über die Falschheit der Menschen empfand, unter denen sie leben sollte. Ihr war zu Muthe, als sey sie unter gespenstische Larven gefallen, die im nächsten Moment sich umwandeln und in eigenthümlicher, fürchterlicher Gestalt dastehen müßten. Wie nach Rettung sah sie ängstlich um sich her.

»Seyn sie ruhig, liebes Fräulein!« flüsterte eine leise Stimme ihr zu,« auch ich sehe und höre, was Sie empört, aber es ist nicht so böse, als Sie in ihrer Unschuld es glauben.« Verwundert blickte Gabriele auf und sah ihren Führer, der noch immer neben ihr stand. Seine Gegenwart erschien ihr in diesem Moment wie ein Trost vom Himmel. »Die Welt,« fuhr der freundliche Mann mit mildem Lächeln fort, indem er zu ihr sich hinabbeugte, »die Welt ist leider lange nicht so gut, als Sie in ihrer Unerfahrenheit es vielleicht noch vor acht Tagen glaubten, aber auch wahrlich lange nicht so arg, als sie jetzt Ihnen vorkommen muß. Diese kleinen Bosheiten, vor denen Sie sich in[73] diesem Augenblick mit Recht entsetzen, werden Ihnen in kurzem ziemlich harmlos scheinen, wenn Sie diese Menschen und ihr wahres Meinen erst näher kennen, denn in der That diese Einfälle haben keinen Zweck und erreichen auch keinen, wie den, für den Moment als witzig bewundert zu werden. Sie werden sich daran gewöhnen und sie endlich ganz gleichgültig betrachten.« »Nie! nie!« rief Gabriele so laut, daß sie selbst darüber erschrak, besonders da sie gewahr ward, daß der noch immer in ihrer Nähe sich befindende Ottokar dadurch aufmerksam auf ihr Gespräch gemacht ward. »Gewiß!« erwiederte ihr Führer leise und beschwichtigend, indem er zugleich auf den sich wieder hebenden Vorhang hinwies.

Mehrere Tableaus folgten dem der Kleopatra, alle wurden laut gepriesen und leise bekrittelt, bis ganz zuletzt Aurelia in wahrhaft himmlischer Glorie als Raphaels Jardiniere erschien. Die Kinder standen so anmuthig da, sie selbst war in dieser Stellung mit gesenktem Auge so hinreißend schön, daß sogar der Neid verstummen mußte. Ein einziger Athemzug der Bewunderung säuselte[74] durch die Stille des glänzenden Kreises und löste sich erst spät in lauten Beifall auf. Gabrielens für Freude glänzendes Auge traf auf Ottokarn, Dieser starrte vorgebeugt, wie in Bewunderung verloren, noch immer den Vorhang an, welcher schon lange die holde Erscheinung verhüllt hatte. Als sich Ottokar endlich wandte, traf sein Blick auf Gabrielen, er lächelte ihr in theilnehmendem Entzücken wie einer Bekannten zu, und dieser kleine Zufall durchströmte sie mit Empfindungen, die sie zu verstehen weit entfernt war.

Die Gesellschaft vertheilte sich wieder in den Nebenzimmern, um dort die Damen des Hauses nebst den übrigen bei den Tableaus beschäftigt gewesenen Personen zu erwarten und nochmals mit Bewunderung und Dank zu überschütten. Gabriele blieb mit ihrem Begleiter beinah allein in dem dämmernden Saal, und er benutzte diese Pause, um sich ihr als einen Maler zu erkennen zu geben, dessen bedeutender Name im neuern Gebiet der Kunst ihr schon rühmlichst bekannt war. Signor Ernesto hatte man ihn der Landessitte gemäß in Italien genannt, wo jeder Zuname[75] dem Taufnamen weichen muß, und diese Benennung blieb ihm auch in der Gesellschaft, seitdem er vor kurzem nach einem, viele Jahre langen Aufenthalt in Rom, wieder in sein deutsches Vaterland zurückkehrte.

»Ich war gestern bei Ihrer Ankunft zugegen, mein theures Fräulein,« sprach Ernesto weiter zu Gabrielen, »ich erkannte in Ihnen beim ersten Blick das Ebenbild Ihrer Mutter; so wie Sie jetzt vor mir stehen, so sah ich sie einst in Rom, jugendlich blühend, mit glänzendem Auge vor den hohen Wundern der unsterblichen Kunst. Mir ward das seltene Glück, ihr Begleiter auf ihren Wanderungen durch die Königin der Städte, ihr erster Lehrer in der bildenden Kunst zu seyn; ich werde auch Ihr Lehrer, Gabriele, ich habe mich schon gestern bei der Gräfin dazu erboten, sobald ich den Zweck Ihres hiesigen Aufenthaltes vernahm. Schlagen Sie es mir nicht ab, Sie brauchen einen väterlichen Freund zu Schutz und Rath, der will ich Ihnen werden, und ich kann es nur, wenn der Unterricht im Zeichnen mir Gelegenheit verschafft, Sie täglich ohne äußre[76] Störung zu sehen. Mir ist bei Ihrem Anblick,« fuhr er fort, weil Gabriele schweigend ihm zuhörte, »mir ist, als hätte ich in Ihnen eine geliebte Tochter gefunden, als wäre der schöne Frühling meines Lebens zurückgekehrt, als stünde Auguste und mit ihr Roms alte Herrlichkeit wieder vor meinem frischen jugendlichen Sinn. Und darum will ich auch väterlich um Sie sorgen, Sie leiten auf dem unbekannten, gefährlichen Pfade in der Ihnen so fremden Welt, wenn Sie mich nicht zurückweisen.«

Ernesto hätte noch lange fortsprechen können, ohne daß er von ihr unterbrochen worden wäre, sie vermochte sogar kaum, ihm zu antworten, aber ihr beredtes Auge sagte ihm alles, was in ihrem tiefbewegten Gemüthe vorging. Nicht mehr allein und verlassen, hatte sie jetzt einen Freund ihrer Mutter zur Seite, der auch ihr wie ein Bekannter aus früheren Tagen erschien. Mit Entzücken fühlte sie dieß, und alles, was sie umgab, zeigte sich ihr in einem neuen, schönern Licht, die Tante, Aurelia, die ganze Gesellschaft, zu der[77] sie jetzt, von Ernesto begleitet, wie ein fröhliches Kind an der Hand seines Vaters zurückkehrte.

Die Gräfin und Aurelia standen mitten in einem dichten Kreise von Bewunderern, die sie mit den ausschweifendsten Lobsprüchen überströmten. Nur mühsam gelang es Gabrielen, bis zu ihnen sich durchzuwinden, und ihr Staunen beim Anblick der rosig blühenden, Freude strahlenden Tante war fast noch größer als gestern. Die Gräfin benutzte die Gelegenheit, ihre Nichte vielen der eben anwesenden Damen vorzustellen, eine Ceremonie, welche noch vor einer Stunde Gabrielen sehr verlegen gemacht hätte, über die sie aber jetzt, durch Ernestos Gegenwart ermuthigt, mit großer Fassung und leidlichem Anstande hinauskam. Die Reihe traf endlich auch die Dame, welche vorhin, während der Abwesenheit der Gräfin, die Stelle derselben beim Empfange der Gesellschaft vertreten hatte, und deren Aehnlichkeit mit ihrer Mutter Gabrielen jetzt, da sie sie in der Nähe sah, mit einer unendlichen Wehmuth erfüllte. Die Gräfin Rosenberg nannte sie Frau von Willnangen, eine nahe Verwandte ihres verstorbenen[78] Gemahls. Gabriele erstarrte beinah, als sie diesen Namen hier hörte, den ihre Mutter ihr nur in Stunden des engsten Vertrauens als den Namen ihres verlornen Jugendfreundes genannt hatte. Aengstlich suchte sie wieder, in Ernestos Nähe zu gelangen, um von ihm zu erfragen, in welchem Verhältniß diese Frau mit Ferdinand von Willnangen gestanden haben mochte, den er gewiß auch gekannt hatte, aber ein Chor von Damen hielt ihn umlagert und machte es ihr unmöglich.

Ein Konzert begann jetzt, die letzte Stunde vor der Abendtafel auszufüllen, nach welcher ein Ball die Freuden des Tages beschließen sollte. Die rauschende Symphonie hatte vorhin Gabrielen auf mächtigen Wogen in eine andere Welt versetzt; jetzt versenkte ein Quartett, von Meistern meisterhaft durchgeführt, sie ganz in sich selbst, die Töne verstummten endlich, aber sie hallten noch in ihrem Innern wieder, und sie saß da, ihnen lauschend, als sie plötzlich von neuem sich erhoben und eine einzige Stimme, voller, reiner als alle, sie übertönte. Gabriele blickte auf und[79] sah Ottokar neben Aurelien am Pianoforte stehen. Beide sangen mit einander ein italienisches Duett, voll Sehnsucht und Liebe. Gabriele kannte es, sie hatte es einigemal mit ihrer Mutter gesungen, in ihrem Innern sang sie auch jetzt es mit, und ihr ganzes Wesen verschwebte im süßesten Verein mit Ottokars Tönen. Die Verzierungen und Manieren, welche nach der neueren Weise Aurelie der einfachen Melodie anhängte, schienen Gabrielen ein fast frevelhaft störendes Beginnen, obgleich sie ihre Kunst, so wie ihre sehr schöne Stimme, bewundern mußte. Ihr Leben hätte sie in der Minute freudig hingegeben, um an Aureliens Stelle so neben Ottokar zu stehen, und doch fühlte sie in der nächsten, wie unmöglich es ihr seyn würde, nur einen Ton hervorzubringen.

»Leidvoll und freudvoll« eilte Gabriele gleich nach dem Konzert hinauf in ihr stilles Zimmer, zu welchem später, wie aus weiter Ferne, die frohe Tanzmusik herüber tönte. Ihr Herz war übervoll von allen Ereignissen dieses bangen und freudigen Abends, zu voll zur Mittheilung; nur Ernestos Erscheinung blieb ihr ganz klar, und[80] diese war ein großer Trost für die um das Kind ihrer innigsten Liebe mütterlich besorgte Frau Dalling.


Mit schwerem, sorgenvollem Herzen war am folgenden Morgen Frau Dalling beim Anbruch des Tages von ihrer Gabriele geschieden, und diese suchte nun mit der neuen, ihr von der Tante zugegebenen Kammerjungfer sich einigermaaßen zu befreunden. Es war ihr unmöglich, gegen die hübsche, zierlicher als sie selbst geputzte Annette den Ton der Gebieterin anzunehmen, und Annette konnte sich auch nicht sogleich in die freundliche Art ihrer neuen Herrschaft finden, die gar nichts zu ersinnen wußte, was sie ihr hätte befehlen können. So waren beide ein Paar Stunden in ziemlicher Verlegenheit einander gegenüber geblieben, als Ernestos früher Besuch, der erste, den Gabriele je erhielt, der Noth endlich ein Ende machte.

»Ich erscheine in dieser unschicklich frühen und deshalb visitenfreien Stunde, um Sie zu zwei Freundinnen zu geleiten, die mit offnen Armen[81] und Herzen Sie erwarten,« sprach Ernesto; »Frau von Willnangen sendet mich.« »Frau von Willnangen?« unterbrach ihn Gabriele, aufs neue von dem Namen heftig aufgeregt; »höre ich recht? wirklich Willnangen? um Gotteswillen! wer ist diese Frau, die meiner Mutter so ähnlich sieht? Ist sie mit Ferdinand von Willnangen verwandt? Gewiß, Sie kannten auch diesen Ferdinand.« »Wohl kannte ich auch ihn,« erwiederte Ernesto, von trüben Erinnerungen sichtbar bewegt. »Frau von Willnangen,« fuhr er fort, »ist die Mutter seiner Tochter, eines lieben Mädchens, das wohl verdient, ihre schwesterliche Freundin zu werden.« »O Auguste! meine liebe, liebe Mutter!« rief tief erschüttert, in fast betender Stellung, Gabriele, »auch dorthin verfolgt dich unerbittlich dein Geschick! Der selige Geist deines Freundes hat dich auf deinem stillen Lebenswege nicht schützend umschwebt, wie du fromm es wähntest, er geleitete dich nicht aus der bittern Stunde deines Scheidens zur frohen Ewigkeit, die keine Trennung kennt; Ferdinand lebt, er war dir nah, und vergaß deiner, die du wie ein Heiligthum sein Andenken in treuer[82] Brust bewahrtest! So lieben Männer,« fuhr sie mit zürnendem Ernst fort; »treue Liebe wohnt nur im Herzen der Frauen und bleibt dort ihr eigner, einziger Lohn. So lehrte mich meine Mutter mit Recht; wer darf noch hoffen, sie außer sich zu finden, wenn diese Frau vergessen werden konnte!«

Mit theilnehmendem Staunen blickte Ernesto auf das schwärmende, sich seinem Gefühl ganz überlassende Mädchen. »Ich mag Ihren schönen Glauben von unsern Erwartungen jenseits nicht stören, wenn er auch nicht ganz der meinige ist,« sprach er endlich mit sehr bewegter Stimme, indem er ihre gefalteten Hände sanft ergriff. »Erlauben es die Gesetze jenes Landes, von dessen dunkeln Gränzen noch nie ein Wandrer zurückkehrte, der uns Kunde brachte, so empfing Ferdinands seliger Geist Augusten beim Scheiden aus dieser Welt, so umschwebte er sie schützend schon lange vorher auf ihrem Lebenspfad, denn seit mehreren Jahren verließ er dieses Leben, in welchem sein Geschick ihn rastlos umhertrieb und nur späte Ruhe ihm vergönnte. Ich führe Sie[83] jetzt zu seiner Witwe, die gestern hocherfreut in Ihnen die Tochter der Frau erblickte, deren Andenken, ohne daß sie jemals sie sah, ihr dennoch heilig ist, weil es der Mann, den sie liebte, stets im Herzen trug. Sie glaubt es nicht besser ehren zu können, als indem sie Gabrielen mütterliche Liebe entgegen trägt; doch wähnt sie deshalb nicht, ihr jemals Augustens Verlust ersetzen zu können. Das reine, stille Gemüth dieser seltnen Frau war stets zu demüthig, dies sogar bei Ferdinanden zu hoffen, und ohne alles neidische Streben begnügte sie sich immer damit, sein Leben durch Liebe zu erheitern, mit ihm zu trauern, wenn Wehmuth über verlornes Jugendglück in ihm erwachte und ihm die Gegenwart trübte. Kommen Sie, Gabriele,« fuhr Ernesto eifriger fort, »folgen Sie mir in das Haus der Frau von Willnangen, Sie werden einen dem Andenken Ihrer Mutter geweihten Tempel betreten. Die Blumen, die sie vor allen liebte, werden dort noch immer sorgsam gepflegt, ihr Bild ist noch immer der geehrteste Schmuck des Hauses, ich malte es heimlich in Rom für mich und konnte[84] Ferdinands ungestümen Bitten eine Kopie davon nicht versagen; Ferdinands Tochter erhielt bei ihrer Geburt den ihm so theuren Namen Auguste. Glauben Sie mir, Sie werden dort heimisch seyn wie unter verwandten Freunden; vielleicht auch dort überzeugt werden, daß treue Liebe in der stärkern Brust des Mannes oft nur um so sichrer wohnt, als in dem weicheren Herzen der Frauen,« setzte er lächelnd hinzu.

Was Ernesto von Ferdinands späterem Geschick Gabrielen noch ferner mittheilte, läßt sich in wenig Worte fassen. Auf eine ihm unerklärbare Weise von der Geliebten getrennt, währte es beinahe ein Jahr, ehe er den ganzen Umfang seines Unglücks erkannte, und tröstende Hoffnungen begleiteten ihn lange von Land zu Land. Augustens Vater leitete fortwährend mit unsichtbarer Hand sein Geschick; er hatte den Zweck erreicht, ihn auf immer von seiner Tochter zu trennen, und war übrigens nicht weniger als sonst für das zeitliche Glück seines ehemaligen Pfleglings besorgt. Er glaubte sogar, ihm gewissermaaßen[85] Ersatz schuldig zu seyn, und ebnete deshalb, so viel er es konnte, Ferdinands Weg auf der einmal angetretnen Laufbahn seines Strebens, ohne daß dieser es ahnete. Bis Konstantinopel hatte er ihn zu bringen gewußt, als der Tod ihn in Schweden übereilte. An der südlichsten Gränze von Europa erfuhr Ferdinand sehr spät aus den Zeitungen die Nachricht von dem Hinscheiden seines ehemaligen Beschützers, und die weite Entfernung, in der er sich von jenem nördlichen Lande befand, vernichtete den Erfolg jedes schriftlichen Versuches, Augusten, die dort verschwunden war, wieder aufzufinden. Er eilte selbst nach Schweden, sobald seine Verhältnisse es ihm möglich machten, aber vergebens suchte er aufs ängstlichste eine Spur von ihr. In der Residenz war Augustens vorübereilende Erscheinung längst vergessen, in dem kleinen Städtchen, in welchem ihr Vater starb, hatte niemand sie gekannt; nur wenige erinnerten sich ihrer Existenz, keiner wußte nur von ferne anzudeuten, wohin sie sich gewendet haben könne, und in der tiefen Einsamkeit, in welcher sie auf dem Landgute ihrer[86] Tante damals lebte, war und blieb sie ihm verloren.

Ferdinand führte von nun an ein trübes, unstätes Leben, ewig suchend nach dem Glück seiner Jugend und nimmer es findend, bis das Fruchtlose seines Strebens ihm endlich die Ahnung von Augustens Tod zur Gewißheit machte. Jetzt beschwichtigten allmählich wehmüthige Sehnsucht und fromme Hoffnung den wüthenden Schmerz in seinem Innern und wandelten ihn in stille Trauer. Seine äußere Lage befriedigte übrigens alles, was er sonst vom Leben noch wünschen mochte, denn er war durch Thätigkeit und Treue im Dienst seines Fürsten zu einer bedeutenden Stelle in seinem Vaterlande gelangt. Still und trübe lebte er seine Tage hin, bis er einst von ungefähr ein Fräulein Rosenberg erblickte, dessen auffallende Aehnlichkeit mit der Verlornen alle alte Wunden in seinem Innern wieder erneute.

Zuerst fühlte er sich von dieser Aehnlichkeit bald unwiderstehlich angezogen, bald schmerzlich zurückgestoßen. Sie war Auguste und war es[87] doch nicht, aber bei näherer Bekanntschaft fand er in ihr ein mildtröstendes Wesen, das einzige, dem er je die traurige Geschichte seiner Jugend vertrauen mochte. Des Fräuleins innige Theilnahme an seinem Schmerz, ihre demüthige Verehrung Augustens fesselten ihn immer mehr an ihre Nähe, sie gab ihm den einzigen Trost, der ihm noch werden konnte, und bald kam es dahin, daß kein Tag verging, ohne daß er sie zu sehen suchte.

In zarter Frauen-Brust wandelt sich die Theilnahme an den Leiden eines Freundes nur zu leicht in ein glühenderes Gefühl, und Ferdinand konnte sich endlich nicht mehr die Art des Eindrucks verhehlen, den er und seine Schmerzen auf das Herz seiner jungen Freundin gemacht hatten. Er fühlte zugleich, daß sein der Liebe erstorbnes Gemüth dennoch des Trostes inniger, vertrauensvoller Freundschaft nicht mehr entbehren konnte, nachdem es dessen gewohnt geworden war, und so bat er das Fräulein: sein durch tiefen Gram und ewige Sehnsucht getrübtes Daseyn mit ihm zu theilen, ohne sie über die Art[88] seiner Empfindungen für sie zu täuschen, indem er ihr seine Hand bot.

Der schöne Verein alles opfernder Liebe und treuer, inniger Freundschaft, währte kaum ein Jahr; Ferdinand starb, und Familienverhältnisse bestimmten seine Witwe, den Ort ihres bisherigen Aufenthalts mit der Stadt zu vertauschen, in welcher fast alle ihre Verwandten wohnten, und wo Gabriele sie fand. Frau von Willnangen lebte dort mit ihrer Tochter nicht mitten im Strudel der großen Welt, aber doch auch nicht ganz von ihr abgesondert, sie war nicht reich, aber ihre äußre Lage erlaubte ihr, sich keinen wirklichen Lebensgenuß zu versagen, und ihre anspruchlose Bildung, die milde Würde in ihrem ganzen Wesen zogen bald einen kleinen Kreis auserwählter Freunde um sie her, in dessen Mitte sie sich zu wohl befand, um sich nach rauschendern Freuden zu sehnen. Nur selten erschien sie in größern Gesellschaften und stets ungern.

Die Gräfin Rosenberg ehrte in ihr die nahe Verwandte ihres verstorbenen Gemahls, lieben konnte sie sie nicht, dazu war ihr ganzes Wesen[89] zu sehr von dem der Frau von Willnangen verschieden, und eigentlich sahen beide Damen einander nur selten. Aber da die allgemeine Achtung Frau von Willnangen vor allen Andern auszeichnete, so fühlte die Gräfin sich dadurch bewogen, bei jeder öffentlichen Gelegenheit mit der nahen Verbindung zu prunken, in welcher sie sich gegenseitig befanden. Deshalb hatte sie sie auch gebeten, bei dem Feste die Honneurs des Hauses zu machen, so lange sie selbst abwesend seyn mußte, und da es Aureliens Geburtstage zu Ehren angestellt war, so mochte ihr Frau von Willnangen diese Bitte nicht abschlagen.

Gabriele betrat mit hochbewegter Brust an Ernestos Hand das Haus, in welchem alles, besonders die Besitzerin desselben, sie auf das lebhafteste an ihre Mutter erinnerte. Der freundliche Empfang, der ihr ward, that ihrem, in den letzten Tagen so vielfältig verletzten Gemüth unendlich wohl, und jede Spur der scheuen Blödigkeit, die im Hause der Tante sie ängstlich beklemmt hatte, verschwand vor ihm. Die prunklose, aber bequem-zierliche Einrichtung der Zimmer[90] versetzte sie ganz in die frohe Zeit ihrer ersten Jugend zurück; alles deutete darin auf heitern Lebensgenuß, auf Fleiß und Kunstliebe der Bewohner, alles war so, wie sie es bei ihrer Mutter zu sehen gewohnt gewesen war. Ihr ward in diesen Umgebungen, als ob sie nach einer langen Abwesenheit wieder zu Hause angekommen wäre, und mit wahrer kindlichen Freude hörte sie die Einladung, recht oft, wenn es möglich wäre täglich, zu kommen, und jede freie Stunde bei der Frau von Willnangen und ihrer Tochter in ruhiger Gemüthlichkeit zuzubringen.

Der erste Anblick der achtzehnjährigen Auguste eignete sich durchaus nicht dazu, die Herzen mit Sturm zu erobern. Ihr Aeußeres zeichnete sich nur durch eine hohe, regelmäßig schlanke Gestalt aus, und ihr Gesicht war nichts weniger als schön, so lange sie schwieg; aber der Geist, der es belebte, sobald sie sprach, der Ausdruck, den die klaren, großen Augen dann gewannen, gaben ihr einen ganz eignen Reiz, sie fesselten die Herzen wie die Blicke, man sah Augusten eben so gern sprechen, als man sie hörte, und wurde endlich beinah[91] verleitet, sie schön zu finden. Bei dem neuen Gefühl, sich von einem jungen, ihr ähnlichen Wesen liebevoll umfangen zu sehen, ging Gabrielen in nie zuvor empfundner Freude das Herz auf; ein Vorgefühl jugendlich vertraulicher Freundschaft bemächtigte sich ihrer, und glücklicher, als sie es je seit dem Tode ihrer Mutter gewesen war, verließ sie das Haus der Frau von Willnangen mit dem festen Entschluß, sobald als möglich dahin zurückzukehren.


Gabrielens Tante war eine der Frauen, wie man in großen Städten so viele findet, die mit wahrem Heldenmuth allen ihren Neigungen geradezu entgegen handeln, sobald der eben herrschende Ton es gebeut. Funfzig Jahre früher geboren, hätte sie, schwimmend in Moschus- und Ambra-Duft, mit aller damals üblichen Ziererei einer französischen petite maitresse über Vapeurs geklagt, in Gesellschaft Gold gezupft, oder Trisett gespielt, und ihr Haus wäre eine Menagerie von Schooßhündchen und Papageyen gewesen. Die Zeiten, in denen so etwas galt, sind aber vorüber[92] gezogen, und Kunst und Wissenschaft jetzt bei uns an der Tagesordnung. So sah sich die Gräfin gezwungen, sich zur eifrigen Beschützerin derselben aufzuwerfen, wenn sie sich in dem Kreise, den sie die Welt nannte, geltend machen wollte, und die Langeweile nicht zu achten, welche sie dabei empfand.

Im Grunde waren ihr die Figuren in den Modejournälen weit lieber, als alle Raphaele und Kunstgespräche, von denen sie nichts verstand; die Donaunixe oder Rochus Pumpernickel ergötzten sie weit mehr auf der Bühne als Göthe oder Schiller, bei denen sie immerfort heimlich durch die Nase gähnen mußte; und obgleich in ihrem Kabinette alle unsre vorzüglichsten Dichter in goldigem Einbande hinter Spiegelglas strahlten, so griff sie doch ganz in der Stille nur nach Cramer, Spieß und deren Nachfolgern, wenn Migräne oder eine seltne einsame Stunde ihr ein Buch in die Hand spielten. Dennoch wußte sie durch stete Anstrengung, geleitet von einem angebornen Taktgefühl, diesen ihr eignen Geschmack so künstlich zu verbergen, daß niemand merken[93] konnte, wie sehr alles, wonach sie im Aeußern strebte, ihr im Innern zuwider war. Man konnte lange mit ihr umgehen, und dennoch darauf schwören, sie sey geistreich und unterrichtet. Sie wußte sehr gut, wenn es im Theater Zeit war den Kopf verächtlich wegzuwenden, oder auch in Extase zu gerathen, und in ihrem. Gespräch vermißte man keinen technischen Kunstausdruck, kein einziges der vielen neuen Worte, mit welchen unsre Poeten und Kunstjünger die deutsche Sprache neuerdings bereicherten; sie hatte sich alle durch den Umgang zu eigen gemacht. Es geschah wohl dann und wann, daß sie sich in der Anwendung derselben ein wenig vergriff, aber doch immer selten genug, um nicht auffallend zu werden. In zweifelhaften Fällen half sie sich mit einem Ach! oder Oh! die jedermann auslegen konnte, wie er wollte, und übrigens hütete sie sich gar sehr, über irgend ein neues Kunsterzeugniß ihre Meinung voreilig an den Tag zu legen, sondern wartete bescheiden, bis jemand aus der Gesellschaft, auf dessen Ansicht sie sich verlassen konnte, ihr zu einem sichern Urtheil verhalf.[94]

Mit aller dieser Anstrengung war es ihr wirklich gelungen, ihren Zweck zu erreichen. Das Haus der Gräfin Rosenberg galt allgemein für das angenehmste in der Stadt, dem alles zuströmte, was für geistreich und gebildet geachtet seyn wollte, oder auch es wirklich war. Es wimmelte bei ihr von fremden Künstlern, Gelehrten und schönen Geistern, und eine Addresse an die Gräfin schien den mehresten dieser Ankömmlinge nicht minder nothwendig als ein Reisepaß. Wer keine mitbrachte, den wußte sie auf andre Weise sich zuführen zu lassen, denn sie wäre untröstlich gewesen, wenn ein berühmter Mann das Weichbild der Stadt betreten hätte, ohne über ihre Schwelle zu gehen. Freilich schlich sich auch mancher bloß titulär-schöne Geist unter der Menge mit ein, denn an Auswahl war hier nicht zu denken; aber alle vereint brachten doch den Reiz einer mannigfaltigern Unterhaltung, eines geistigern Lebens in die Gesellschaft, als man in andern großen Zirkeln zu finden gewohnt ist, und selbst sehr ausgezeichnete Männer besuchten gern den Vereinigungs-Punkt, der ihnen hier geboten ward. Ueberdem[95] verstand die Gräfin die Kunst, eine sehr angenehme Wirthin zu seyn. Mit anscheinender Sorglosigkeit überließ sie es jedem, nach Gefallen seine Unterhaltung zu wählen, und trachtete nur ganz unmerklich dahin, daß es nie an Stoff dazu mangle. Den feinen Takt echter Geselligkeit hatte lange Gewohnheit ihr zur zweiten Natur gemacht, und jedermann fühlte sich in ihrem Hause frei und behaglich.

Ernesto war der tägliche Gast desselben. Früher zog ihn heiterer Hang zu Geselligkeit dahin, später die Sorge um Gabrielen. Den Gedanken, auch auf Aurelien vortheilhaft zu wirken, den ihre Schönheit zuerst in ihm erregte, gab er auf, sobald er mit gewohntem Scharfblick sie und ihre Mutter durchschaute. Sein durchaus rechtliches Benehmen, sein heller Geist, seine Kenntnisse, vor allem die ihm eigne heitre Unterhaltungsgabe und sein fröhlicher, wenn auch zuweilen etwas kaustischer Witz erwarben ihm allgemeine Achtung und Liebe. Fast immer war er der von Allen gesuchte Mittelpunkt der Gesellschaft, um so mehr, da er bei seiner Genügsamkeit und strengen Mäßigkeit[96] sich von jedermann unabhängig erhielt, und sich nie dahin bringen ließ, seiner Würde in etwas zu vergeben.

Die Gräfin fühlte den ganzen Werth seiner Gegenwart in ihrem Kreise, und strebte auf alle Weise, sich solche zu erhalten, obgleich ihr dabei zuweilen etwas unheimlich zu Muthe wurde. Ernesto war beinah der einzige Mensch, der ihr imponirte, sie fühlte sich gezwungen, ihn zu ehren und sich, sobald er es ernstlich wollte, seinem Willen in manchen Dingen zu fügen. Deshalb wagte sie es auch nicht, ihm zu widersprechen, als er sich ziemlich eigenmächtig gewissermaaßen zu Gabrielens Vormund aufwarf. Die Gräfin mußte es ihm sogar Dank wissen, daß er es unternahm, den mannigfaltigen Unterricht zu leiten, welchen Gabriele zufolge des Willens ihres Vaters in der Stadt erhalten sollte, denn er entledigte sie dadurch einer großen Last, die sie übereilt sich aufgeladen hatte, ohne die dabei vorwaltenden Schwierigkeiten und Mühn gehörig zu bedenken. Sie bat ihn, nur vor allem die ersten Wochen eifrigst zu benutzen, in denen Gabrielens tiefe[97] Trauer, welche diese nicht vor der bestimmten Zeit ablegen wollte, deren eigentliche Einführung in die Welt noch verzögerte, und überließ alles übrige recht gern seinem bessern Wissen und Wollen.


Erwünschteres konnte für Gabrielen nichts geschehen, als daß sie Ernestos Führung übergeben ward, und von ihm geleitet begann ihr Leben bei der Tante sehr bald, sich beruhigend und erfreulich für sie zu ordnen. Bei der Gräfin und Aurelien brach der Tag wenigstens drei Stunden später an als bei ihr; Toilette und Visiten raubten diesen Damen alle übrige Zeit vor der Mittagstafel, es konnte ihnen daher nicht einfallen, Gabrielens Lehrstunden und Uebungen zu unterbrechen, und diese behielt also die vollkommenste Muße für sie und für Ernesto, der jeden Morgen mehrere Stunden mit Zeichnen und im Gespräch bei ihr verweilte.

Er sowohl, als die Lehrer, welche er für sie gewählt hatte, staunten nicht wenig bei der Entdeckung, welche Fortschritte Gabriele schon früher[98] bei ihrer Mutter in alle dem gemacht hatte, was sie ihr von den ersten Anfangsgründen an lehren zu müssen geglaubt hatten, und mehrere von ihnen befanden sich wirklich mit dieser Schülerin in einiger Verlegenheit. Im gewöhnlichen Sinn des Wortes konnte Gabrielens Erziehung wirklich für mehr als vollendet gelten, aber die Gelegenheit zu fernern Fortschritten und Uebung im schon Erlernten war ihr zu willkommen, um sie nicht aufs beste zu benutzen. Uebrigens gewöhnte sie sich durch den Umgang mit ihren Lehrern immer mehr an den mit der Welt, und diese hingegen nahmen wieder recht gern den mühelos erworbenen Ruhm an, in unbegreiflich kurzer Zeit ihre Schülerin so weit gebracht zu haben.

Mit allen lebte Gabriele in der vollkommensten gegenseitigen Zufriedenheit, außer mit ihrem Singmeister, einem sehr vorzüglichen Künstler, der aber von der neuen italienischen Methode bezaubert war. Er bestand darauf, ihre ungewöhnlich reine biegsame Stimme an alle die immer wiederkehrenden Verzierungen und Manieren zu gewöhnen, mit welchen jetzt manche unsrer berühmtesten[99] Sänger und Sängerinnen auf Kosten der Melodie und des Ausdrucks ihren Gesang oft so überladen, daß der ursprüngliche Gedanke des Komponisten eigentlich ganz dabei zu Grunde geht und nur noch das Tempo und die Worte eine große Arie von der andern unterscheiden. Gabriele hingegen war von ihrer Mutter nach der ältern reinern Methode unterrichtet, sie suchte nur, den echten Sinn des Gesanges einfach, wahr und gefühlvoll so wiederzugeben, als der Meister, der ihn niederschrieb, ihn sich dachte, und wollte sich auf keine Weise zu jenen künstlichen Schnörkeleien bequemen. Dies gab Anlaß zu unzähligen ziemlich lebhaften Zwistigkeiten zwischen ihr und ihrem Lehrer, bei welchen aber Gabriele nie von ihrer Ueberzeugung abweichen wollte. Glauben Sie, sprach sie zu ihm, daß Gluck oder Mozart diese krausen Läufer, diese Vorschläge und Triller nicht hätten vorschreiben können und es auch nicht gethan haben würden, wenn sie sie für zweckmäßig hielten? Niemanden fällt es je beim Vorlesen ein, sich an Göthen oder Schillern durch den eigenmächtigen Zusatz nur eines einzigen Wortes[100] zu versündigen. Sollten die Meister der Tonkunst, die so klar ohne Worte zu uns zu sprechen wissen, daß wir sie deutlich verstehen, uns weniger heilig seyn? Vergebens bekämpfte der Musikmeister diese Meinung seiner Schülerin mit allen nur ersinnlichen Gegengründen, keiner derselben schien ihr bedeutend genug, um ihre eigne Ueberzeugung umzustoßen.

Ernesto war zufällig einmal Zeuge eines solchen Zwistes, und da der erzürnte Sänger ihn endlich zum Schiedsrichter aufrief, so erklärte dieser sich mit wenigen Einschränkungen für Gabrielen. Dies beendete wenigstens den Streit, aber der Lehrer seufzte doch jedesmal über den Eigensinn seiner sonst so gelehrigen Schülerin, wenn er gezwungen sich ihrem Willen fügen mußte.

Eigensinnig! So hatten auch die Tante und Aurelie sie mehreremale genannt, und dennoch war sie es nicht. Gabriele scheute nur das Unrecht, und war in ihrem Gemüthe bei aller ihrer Furchtsamkeit fest genug, um sich durch keine Ueberredung von dem abwenden zu lassen, was sie für das Rechte anerkannte, sobald sie aber ihren Irrthum[101] einsah, war auch niemand bereitwilliger, ihn abzulegen, und Ernestos welterfahrnem, klarem Sinne gelang es immer, sie zum Beßern zu leiten.

Eines Morgens traf sie dieser in sehr lebhaftem Gespräch mit ihrer Kammerjungfer. Er fürchtete, in einer wichtigen Toilettenangelegenheit zu stören, und wollte eben bescheiden sich zurückziehn, als er zu seiner großen Verwunderung entdeckte, daß die Rede von nichts geringerem sey, als von Alexanders des Großen Zug nach Indien.

»Um Gotteswillen, was hat die kleine, hübsche Annette mit dem großen krummhälsigen Alexander zu thun?« fragte Ernesto, so wie er mit Gabrielen allein war. Lächelnd erzählte ihm diese, wie sie das Mädchen bei allen Stunden ihres eignen Unterrichts habe im Zimmer mit seiner Handarbeit bleiben heißen, und wie es anfangs aus Langerweile, endlich mit wirklicher Theilnahme, eifrig zugehört und vieles gelernt und behalten habe. In freien Stunden machte es sich Gabriele jetzt zum angenehmen Geschäft, die oberflächlichen Bruchstücke, welche Annette, oft nur halb[102] gehört, auffaßte, in ihrem Köpfchen zu ordnen, und sie gründlicher zu unterrichten. Jugendliche Freude am Lehren des eben Erlernten mochten an diesem Unternehmen wohl vielen Theil haben, mehr aber noch der Wunsch, dem artigen Mädchen nützlich zu seyn, das mit großer Liebe an seiner jungen Gebieterin hing, und sich dabei als eine äußerst gelehrige Schülerin bewies.

»Sie glauben da etwas recht Vortreffliches zu stiften, liebe Gabriele,« sprach Ernesto zu seiner jungen Freundin, »ich aber fürchte, Sie bereiten dem armen Mädchen eine traurige Zukunft. Lassen Sie sich freundlich von mir warnen und an Annettens einstige Bestimmung errinnern. Wahrscheinlich wird sie die Frau eines Handwerkers, wenn es hoch kommt eines Krämers oder eines untergeordneten Beamten; höheres darf sie nicht erwarten, und heirathen wird sie doch wollen, denn das will jedes Mädchen. Und nun denken Sie sich Annetten mit der geistigen Bildung, die Sie ihr zu geben im Begriff stehen, ein Paar Kinder um sie her, eine große Wäsche im Hause, und auf dem Heerde das Mittagsmahl für ihren[103] Mann und vielleicht für noch ein Dutzend Gehülfen bei seinem Gewerbe!«

»Und warum sollte ich sie mir so nicht denken können?« unterbrach ihn ziemlich lebhaft Gabriele; »warum sollte diese geistige Bildung sie in der Uebung ihrer Pflicht hindern? Sagt man mir doch, es stünden oft die geistreichsten Männer in Aemtern, welche ihrem Genius gerade entgegen streben, ohne daß weder ihre Pflicht noch ihr Talent darunter leiden.«

»Sie vergessen, oder vielmehr Sie wissen noch nicht, liebe Gabriele, wie viel günstiger das Loos der Männer als das der Frauen fiel,« erwiederte Ernesto; »wie viel Freiheit Jenen außer dem Hause bleibt, und wie schneckenartig diese das ihrige immer mit sich herumtragen müssen, wenn Reichthum sie nicht von den drückendsten Banden befreit. Sie kennen den Mittelstand nicht,« fuhr er fort; »Ihr vornehmen Leute kennt ihn überhaupt alle nicht; bittre Armuth, das höchste Elend, so wie alle Extreme kann Eure Fantasie Euch allenfalls malen, Mitleid führt Euch auch wohl ein paarmal in Eurem Leben in Hütten, aus denen[104] Ihr mit einer Hand voll Eures überflüssigen Goldes alle Noth verbannt, aber das beschränkte Wesen von Menschen, welche einen sogenannten kleinen Haushalt führen müssen, bleibt Euch ewig verborgen. Ich aber kenne es, denn Künstler und Handwerker sind einander im Leben näher verwandt, als unser Hochmuth es eingestehen will. Schütteln Sie nicht so vornehm das Köpfchen, liebe Gabriele, es bleibt dennoch wahr, beide haben gleiche Hülfsmittel und oft gleiche Noth. Von dieser bezwungen, sinkt der Künstler in unsern Tagen nicht selten zum Handwerker herab, dafür aber erstanden auch in frühern Zeiten viele große Meister aus der engen Werkstatt des Handwerkers.«

»Aber gerade den Mittelstand dachte ich mir immer als den glücklichsten,« wandte Gabriele, das Gespräch wieder zurücklenkend, ein. »Mann und Frau, jeder auf seine Weise, bringen den Tag im emsigen Bemühen für das Wohl der Ihrigen zu. Die Ruhestunden führen sie Abends wieder zusammen, sie erzählen einander die Geschichte ihres wohlgelungenen Tagewerks, und[105] vergessen alle Mühe des Lebens beim gemeinschaftlichen Lesen eines Buchs, das ihren Geist aus dem Werkeltags-Staub wieder erhebt. Bei Musik, im geistreich erheiternden Gespräch, beim Zauber der Poesie, schwinden ihnen die Feierstunden, und jedes geht am folgenden Morgen frisch und fröhlich an die Arbeit und freut sich den ganzen Tag über auf den Abend.«

»Sie malen da ein Bild, das Ihrer Fantasie alle Ehre macht,« sprach lächelnd Ernesto; »leider aber ist es im wirklichen Leben ganz anders. Wenn Sie die höhere Klasse des Mittelstandes meinen, zu welcher der reiche, angesehne, große Kaufmann, der wohlhabende, auf den ersten Stellen stehende Beamte gehören, so haben sie Recht, dort ist es zuweilen so, und könnte es immer seyn. Aber zu den niedrigern Klassen, in welchen Annette einst leben wird, paßt dieses nicht. Können Sie sich wirklich einen Schneider oder Tischler denken, der das Leben führte, welches sie eben geschildert haben? und setzen sie selbst den Fall, daß Annette einen untergeordneten Beamten oder einen Landprediger heirathete. Was diese Männer auf Universitäten[106] an geistiger Bildung vielleicht gewannen, geht gewöhnlich in überhäufter Arbeit und Nahrungssorgen wieder zu Grunde, was sie von geistiger Unterhaltung brauchen, gewähren ihnen die politischen Welthändel, und Abends verlangt der abgemattete Mann nur nach einer guten Suppe, während die Frau ihrerseits auch froh ist, wenn sie die Kinder erst zur Ruhe weiß.«

»Meine arme Annette!« rief Gabriele dazwischen. »Und nun die Frau Basen, die Frau Gevattern,« fuhr Ernesto fort, »von diesen Leuten hat ein hochgebornes Fräulein, wie Sie sind, keinen Begriff. Familienbande sind im eigentlichen Bürgerstande viel fester und dabei weiter umfassend als in dem Ihrigen. Was mit einander in irgend einem Grad von Verwandtschaft steht, muß an Ehrentagen und bei Kaffeevisiten zusammen kommen, da gilt keine Ausnahme. Und nun denken Sie sich die hochgebildete Annette in einer solchen Gesellschaft. Die gelehrte Frau Meisterin, welche französisch und italienisch kann, von den Griechen und Römern zu reden weiß, und dabei vielleicht einmal den Festkuchen verbrennen ließ,[107] wie würde es ihr ergehen! wie müßte ihr selbst in diesen Umgebungen zu Muthe werden! und welche Qual wäre es für sie, den ewig unbefriedigten Hang zum Höhern, zum geistig Schönen mit sich herum zu tragen, während sie den ganzen Tag arbeiten müßte, um ihr Hauswesen zu beschicken, und bei noch unerwachsenen Kindern selbst Nachts auf keine sicher ruhige Stunde rechnen könnte. Ihr Mann mag sie noch so herzlich lieben, er mag noch so gut und brav in seiner Art seyn, er wird doch in geistiger Hinsicht immer tief unter ihr stehen, und oft gar nicht wissen, was sie meint, wenn sie von etwas anderm, als dem ganz Alltäglichen mit ihm zu sprechen versucht.«

»So sehe ich denn keine Rettung für meine arme Annette, als daß sie immer bei mir bleibt,« rief schmerzlich bewegt Gabriele. »Nichts hat je mein innigstes Mitleid mehr erregt,« fuhr sie fort, »als wenn ich las, wie Jean Paul das vernähte, verwaschne, verkochte Leben der armen Weiber schildert, die nur einmal im sonnenhellen kurzen Tage der Liebe ihr Haupt erhoben, und dann mit beraubtem Herzen auf ewig in die Tiefe[108] versinken. Ich hoffte, es könne in der Wirklichkeit anders seyn, Sie, Ernesto, lehren mich das Gegentheil, ich traue Ihrem erfahrnen, weltklugen Sinn, aber ich möchte darüber weinen, daß der größte Theil meines Geschlechts so elend seyn muß.«

»Sie gehen in Ihrem Eifer wieder zu weit, gute Gabriele,« sprach Ernesto, »gerade wie an jenem ersten Abend bei den Tableaus. Erinnern Sie sich noch, wie Sie um einiger unschuldig-boshafter Anmerkungen willen die ganze Gesellschaft für lauter maskirte Tigerkatzen ansahen? und doch haben Sie jetzt schon gefunden, daß ich Recht hatte, indem ich Sie versicherte, daß jene Leute wirklich so übel nicht sind, und daß sie, ihrer Lust am Medisiren unbeschadet, für Unglückliche nicht nur einen Dukaten in der Hand, sondern sogar eine Thräne im Auge in Bereitschaft halten, wenn man ihnen den Jammer nur recht deutlich zu machen versteht. So wie damals die Verderbniß der Welt, so denken Sie sich jetzt das Unglück, sich nicht auf Ihre Weise des Lebens freuen zu können, wieder viel zu groß. Und nehmen Sie[109] denn die Mutterfreuden, welche eine Handwerkers-Frau eben so gut empfindet als eine Gräfin, für gar nichts? für nichts das Gelingen in ihrem Hauswesen? die treuherzige, ehrliche Liebe eines guten, wenn gleich nicht geistig gebildeten Mannes? Selbst bei Ihrem Jean Paul können Sie des Trostes genug finden; gegen die eine Stelle, welche Sie anführten, will ich Ihnen zwanzig andere zeigen, wo er die Freuden dieser Frauen an schönen neuen Hauben und Kleidern, an festlichen Gastereien, an einem wohleingerichteten Hausstande eben so wahr schildert, als ihr mühseliges Alltagsleben. Rauben Sie Ihrer Annette nur nicht die Fähigkeit, an dem Glück sich genügen zu lassen, das ihrem Stande gebührt. Entbehrt sie die Freuden höherer Bildung, so entgeht sie auch vielen aus ihr entspringenden Schmerzen, und es ist noch immer nicht entschieden, wohin die Wage sich neigt.«

»Soll ich sie denn so ganz ohne allen Unterricht lassen?« fragte Gabriele. »Lehren Sie sie richtig deutsch schreiben und sprechen,« war Ernestos Antwort, »aber um des Himmelswillen[110] keine fremden Sprachen, die sie nur dazu bringen könnten, sich über ihres gleichen zu erheben. Annette wird in Deutschland leben und sterben, und sollte ein seltenes Geschick sie ins Ausland versetzen, so lehrt Noth nicht nur beten sondern auch englisch und französisch. Lassen Sie ihr artiges Stimmchen mit den Waldvögeln um die Wette singen, aber wie diese, ohne Noten und ohne Guitarre, Mann und Kinder werden sich an ihren Liedern doch ergötzen. Von Alexander dem Großen und seines gleichen braucht sie vollends keine Sylbe zu wissen, um eine thätige, freundliche Hausfrau zu werden, deshalb kann sie aber doch Sonntags manches gute Buch beim Strickstrumpf lesen, das ihren literarischen Horizont nicht übersteigt, und wenn es seyn muß bey Lafontaines rührenden Geschichten ihr bitter-süßes Thränchen weinen, obgleich ich ihr gerade diese am wenigsten anpreisen möchte.«

»Aber Annette hat doch so viel Anlagen,« wandte halb besiegt Gabriele ein.

»Sie ist auch hübsch und wohlgewachsen,« erwiederte schnell Ernesto. »Wollen Sie sie deshalb[111] in die kostbarsten, feinsten Stoffe kleiden, die eine schöne Gestalt am vortheilhaftesten bezeichnen? Liebe Gabriele!« fuhr er fort, »alle Welt schreit jetzt über den alles entnervenden äußern Luxus, in unsrer der höchsten Kraft bedürftigen Zeit, ich aber halte den geistigen Luxus für weit gefährlicher; mir graut weit mehr, wenn ich die Töchter unsrer wohlhabenden Handwerker in französische Schulen, als wenn ich ihre Mütter in gestickten Kleidern gehen sehe. Schöne Kleider lassen sich allenfalls erwerben und bezahlen, wie aber setzt man ein durch halbes Wissen verdrehtes Köpfchen wieder zurechte?«

»Und doch redeten Sie noch gestern Abend bei der Tante allem Luxus gar sehr das Wort,« wandte lächelnd Gabriele ein.

»Das that ich und werde es immer thun,« antwortete Ernesto, »aber nur bei denen, welche Zeit und Geld genug dazu haben. Alles, was wir zu besitzen streben, ohne es zu brauchen, ist Luxus, aber in unsern Tagen ist vieles Bedürfniß geworden, was noch vor dreißig Jahren Luxus war. Auch sprach ich jetzt gar nicht vom äußeren[112] Luxus, denn jedes Kind weiß, daß wir ohne ihn wieder zum eichelnessenden Naturzustande unsrer Vorfahren herabsänken. Ich spreche vom innerlichen, geistigen, den sollen und müssen die Reichen freilich treiben. Was würde sonst aus Autoren, Verlegern und aus Künstlern, wenn niemand ein Buch oder ein Kunstwerk kaufte, als wer Freude und Genuß davon hat? Sehen Sie nur ihre Tante an, die treibt den rechten geistigen Luxus, und ich kann sie darum nicht genug loben und ehren, denn sie hat Geld und Zeit im Ueberfluß. Für sich bedarf sie weder Bücher noch Kunstwerke, weder Gelehrte noch Künstler zum Umgange, im Gegentheil sie sind ihr alle recht lästig, dennoch kauft sie die erstern, bereitet den zweiten ein angenehmes Daseyn, und ahnet nicht einmal, wie viel Gutes sie damit stiftet. Aber eine Frau des arbeitenden Mittelstandes darf ihr das nicht nachthun. Wenn eine solche Bildchen malt, Guitarre spielt und Lektüre treibt, so verschwendet sie wenigstens die Zeit, welche ihrem Haushalt gehört, und oft köstlicher als Gold ist; obendrein bereitet sie sich eine traurige Existenz,[113] weil sie gegen ihren, ihr bestimmten Kreis anstrebt, von welchem sie sich doch nicht losreißen kann. Darum, liebe Gabriele, bitte ich Sie nochmals, versuchen Sie es nicht, aus einer niedlichen Wiesenblume eine Prachtpflanze zu ziehen, die in dem rauhen Klima zu Grunde gehen müßte, in welchem sie in ihrem natürlichen Zustande recht ergötzlich blüht! Lehren Sie Annetten weder französisch noch italienisch, und sagen Sie ihr kein Wort mehr von Alexander dem Großen.«

Gabriele versprach endlich, ihrem erfahrnen Freunde zu folgen, obgleich mit innerm Widerstreben, denn er hatte nur ihren Verstand aber nicht ihr Gemüth besiegt; obendrein erschwerten ihr sowohl Annettens Eitelkeit, als ihre wirkliche Lust am Lernen diesen Entschluß, aber sie blieb ihm treu, nicht nur weil sie es versprochen hatte, sondern auch weil sie einsah, daß es wirklich so besser sey.


Ottokar blieb noch immer Gabrielens Hausgenosse. Als den Sohn eines entferntlebenden, aber mit ihrem Gemahl innigst verbunden gewesenen[114] Freundes, hatte die Gräfin Rosenberg ihn dringend eingeladen, in ihrem sehr geräumigen Hause bei ihr zu wohnen, so lange er in der Stadt verweilen mußte, in welcher er seine nahe Anstellung zu einem Gesandtschaftsposten erwartete. Aus den wenigen zu seinem dortigen Aufenthalt bestimmt gewesenen Wochen wurden Monate, ohne daß weder er noch seine gastlichen Freundinnen es zu bemerken schienen. Ottokar befand sich zu wohl in ihrer Nähe, um über dieses Zögern der Entscheidung seines Schicksals in Ungeduld zu gerathen. Die Gräfin sowohl als Aurelia hatten ebenfalls ihre eignen triftigen Gründe, ihn gerne bei sich zu sehen, und so lebten alle drei in großer Zufriedenheit neben einander hin, ohne die Tage zu zählen.

In der ersten Zeit sah Gabriele Ottokarn weit seltner, als sie es im Stillen gehofft und gefürchtet hatte, denn der geselligen Abende im Hause ihrer Tante gab es jetzt sehr wenige.

In großen Städten tritt zwar nie eine gänzliche Ebbe der Vergnügungen ein, aber oft eine alles mit sich fortreißende Fluth, während welcher[115] Feste an Feste sich reihen, und die Zahl der Tage für alle kaum hinreichen will. Solch eine Fluth fiel gerade in die Zeit, wo Gabriele noch nicht öffentlich erschien. Bälle, große Soupers, auffallende theatralische Neuigkeiten zogen die Gräfin und ihre Tochter an jedem Abende aus dem Hause, ohne ihnen Zeit für ihre eignen Zirkel zu lassen, und auch Ottokar ward von dem Strome mit fortgerissen. Gabrielen entging dadurch jede Gelegenheit, ihn anders als an der Mittagstafel zu sehen, und auch an dieser vermißte sie ihn oft. Sowohl seine persönliche Liebenswürdigkeit, als seine äußern Verhältnisse zogen ihm vielfältige Einladungen in andern Häusern zu, und die Gräfin hielt ihn nie davon zurück, solche anzunehmen. Sie blieb auch in Hinsicht seiner ihrem Systeme treu: keinen ihrer Gäste in seiner Freiheit zu beschränken, denn Erfahrung hatte sie gelehrt, daß dieß der sicherste Weg sey, sie immer fester an sich zu binden.

Mit gewaltigem Herzklopfen hörte Gabriele jedesmal die Stunde schlagen, welche sie in den Speisesaal rief; ihre sonst ziemlich überwundne[116] ängstliche Blödigkeit kehrte dann mit verdoppelter Gewalt zurück, und nur heimlich wagte es ihr Blick, unter den Anwesenden nach Ottokar zu suchen. Stumm und traurig nahm sie ihren Platz ein, wenn er abwesend war; die Unterhaltung rauschte unbeachtet an ihr vorüber, und nur Aureliens lustiger Uebermuth versuchte es zuweilen, sie hinein zu verflechten. Die Uebrigen, mit Stadtgesprächen beschäftigt, schienen fast gar nicht sie zu bemerken. Ohnehin war die Gesellschaft nie zahlreich, die Gräfin liebte keine Diners, sie schimmerte lieber bei Kerzenschein, und auch Ernesto war ein seltner Gast an ihrem Tische.

Ganz anders aber gestaltete sich die Unterhaltung, wenn sie durch Ottokars Gegenwart belebt ward. Mit Entzücken sah dann Gabriele, wie alles in seiner Nähe sich veredelte, wenn sie auch dabei bald hochroth erglühte, bald blüthenweiß erblaßte, und ihr Herz sich zitternd in ihrer Brust bewegte. Es konnte ihr nicht entgehen, daß Alle strebten, sich vor ihm vom Gemeinen entfernt zu halten, und ihn offenbar als den Ersten unter[117] sich anerkannten, obgleich er mit der anspruchlosesten Bescheidenheit sich über keinen zu erheben suchte. Sein Platz an der runden Tafel zwischen der Gräfin und Aurelien war dem von Gabrielen gerade gegenüber. Ihr entging fast kein einziges seiner Worte, und wenn er im Gespräch sich gegen seine Nachbarinnen wendete, so konnte sie dem freundlichen Strahlen seiner Augen, dem anmuthigen Spiel seiner Gesichtszüge zusehen, ohne daß jemand es bemerkte. Oft wünschte sie recht sehnlich, daß er auch an sie mit freundlichen Worten sich wenden möge, und wenn er es that, so raubte süßes Erschrecken ihr den Athem zur Antwort. Ottokar konnte nicht umhin, ihre ewige Verlegenheit zu bemerken, er sah, daß sie auch mit den übrigen Anwesenden nur dann sprach, wenn sie gefragt ward, und immer in möglichst wenigen Worten. Er schrieb ihr Benehmen einzig der unüberwindlichen Furchtsamkeit zu, die er an einem so jungen, in der tiefsten Einsamkeit erzogenen Mädchen sehr natürlich fand, und begnügte sich endlich, aus Mitleid mit ihrer Angst, sie nur mit einem freundlichen Lächeln zu begrüßen,[118] ohne sie ferner durch Anreden in Verlegenheit zu setzen.

Gabriele bemerkte dieß, ohne zu wissen, ob sie sich darüber freue oder betrübe. Immer mehr verstummte sie in seinem Beiseyn und strebte nur, nichts von dem zu verlieren, was er zu den Uebrigen sprach. Ihr war dabei, als ob er dennoch nur sie damit meine, als wenn nur sie den Sinn seiner Rede vollkommen verstünde, weil nur sie so an jedem seiner Worte hing, denn die andern konnten doch manches zuweilen achtlos überhören. Jeder seiner Gedanken war wie aus ihrer tiefsten Seele herausgesprochen, bei jedem vorkommenden Gegenstande fühlte sie im voraus, wie er sich darüber äußern würde, und doch war und blieb sie die Einzige, zu der er niemals mit Worten sich wendete.

Träfe er mich nur einmal im Zimmer allein! dann müßte er doch zu mir reden, ich hätte gewiß dann auch den Muth, ihm zu antworten, und alles wäre anders! So dachte sie oft, während alles blieb wie es war.

Auch wußte sie nicht, was denn eigentlich anders[119] werden solle. Ihre Wünsche, ihre Hoffnungen schwammen formlos vor ihrem sonst so klaren Sinn, aber tief in ihrem Gemüth herrschte eine unaussprechliche Sehnsucht nach jenem seligen Moment, ohne daß ihr nur von ferne der Gedanke kam, ihn auf irgend eine Weise herbeiführen zu wollen.

Keiner von denen, welche sie kannte, schien ihr würdig, an Ottokars Seite zu stehen, selbst Ernesto nicht, in deßen hellem, scharfem Blick sie die milde Güte oft vermißte, durch welche Ottokar ihr vor Allen liebenswerth erschien, und so stieg dieser nach jedem Wiedersehen immer höher in ihrer Verehrung, und ihr Anerkennen seines seltnen Werthes ward immer demüthiger.

In ihrem einsamen Zimmer rief sie sich jedes seiner Worte, jede seiner Bewegungen zurück, aber sie vermochte es nie, vor andern seinen Namen zu nennen, selbst nicht vor der sich immer fester an sie schließenden Auguste von Willnangen. Es betrübte sie, sie schalt sich undankbar, wenn es ihr unmöglich war, das herzliche Vertrauen im gleichen Maaß zu erwiedern, mit welchem[120] diese, mädchenhaft traulich, sie auf den tiefsten Grund ihres Herzens blicken ließ. Aber sie war an das Leben mit einem Wesen gewöhnt, das ohne Worte sie verstand, und dessen jetzt ruhendes Herz sonst mit dem ihrigen in stetem Einklange schlug, wie zwei gleichgestimmte Saiten, die nur eines Hauches bedürfen, um zugleich im nämlichen Tone zu erbeben. Es blieb ihr unbegreiflich, daß nicht Ernesto, Frau von Willnangen, deren Tochter, daß nicht alle nur von Ottokar sprachen, daß sie ihn nicht alle als den Einzigen, Seltnen laut anerkannten, wie er ihr schon beim ersten Anblick auf der Reise erschienen war. Aber da jedermann schwieg, so verstummte auch sie.

Nur in der stillen Nacht ergoß sich ihr volles Herz in dem Tagebuche, welches sie schon früh zu führen gewöhnt worden war, und in welchem sie von jeher alles Merkwürdige aus ihrem äußern und innern Leben oft nur in kurzen Sätzen niederschrieb. Oft glaubte sie bei dieser einsamen Beschäftigung, die beseligende Nähe des Geistes ihrer Mutter zu fühlen, der ihrer Ueberzeugung[121] nach, als schützender Engel sie umschwebte. Dann redete sie die Mutter als noch lebend an, ihr und den Blättern ihres Tagebuchs vertraute sie allein das glühende Gefühl, welches sie jetzt allmächtig beherrschte, dem sie immer wehrloser sich hingab, weil sie es nicht erkannte. Ottokar ward gar bald durch das Schreiben von ihm zum Geschöpf ihrer jugendlichen Fantasie, zu einem himmlischen Gebilde; er stand in einer Glorie vor ihrem Sinne, zu welcher sie ihm selbst die Strahlen lieh, ohne sich dessen bewußt zu werden.

Alles, was wir in der Einsamkeit dem Papier vertrauen, übt dadurch tausendfache Gewalt an uns, Liebe, Freude, vor allem der Schmerz. Wir selbst schärfen bei dieser stillen Beschäftigung jeden Stachel des Lebens, wir drücken ihn immer tiefer in das wunde Herz, während wir uns alles verhehlen, was ihn sänftigen könnte. Und so kommen wir bald dahin, in fruchtlosem Mitleid mit uns selbst zu vergehen, und kein Strahl aus der helleren Wirklichkeit erleuchtet mehr die sternlose Nacht, die wir selbst immer dichter und dichter um uns und unser Geschick ziehen.[122]

So war es auch mit Gabrielen; aber keiner von den Wenigen, die an ihr Theil nahmen, konnte vor dieser Gefahr sie warnen, denn allen blieb sogar das Daseyn ihres Tagebuchs ein Geheimniß und mußte seiner Natur nach es bleiben.


Alle Abende, an denen Feste und Lustbarkeiten ihre Hausgenossen entfernt hielten, brachte Gabriele bei der Frau von Willnangen zu. Das Gefühl, mit welchem die edle Frau zuerst der Tochter Augustens entgegen kam, hatte sich bald in wahrhaft mütterliche Liebe zu dem verwaisten Mädchen umgewandelt, und oft betrachtete sie es mit ängstlicher Sorge. Ihrem tief eindringenden Blick entging es nicht, daß Gabriele von einer einzigen, vielleicht ihr ganzes künftiges Daseyn bestimmenden Empfindung beherrscht ward, aber vergebens strebte sie, den Gegenstand ihrer jugendlichen Neigung zu entdecken, denn bis jetzt hatte sie in Ottokars Gegenwart sie fast nie gesehen, auch kannte Frau von Willnangen Letztern ohnehin nur oberflächlich, da er so ganz zu den nächsten Umgebungen der Gräfin Rosenberg gehörte.[123] Ahnendes Vorgefühl ließ sie wenig Erfreuliches für Gabrielens Zukunft hoffen, desto fester aber begründete sich der Vorsatz in ihrem Gemüth, dieses so vereinzelt und hülflos dastehende anmuthige Wesen in keinem des Trostes bedürfenden Moment zu verlassen, und bei Gabrielen, wie ehemals bei Ferdinand, an die Stelle der früh verklärten Auguste zu treten, so viel die Möglichkeit dieß erlaubte.

Im nähern Umgang mit ihrer welterfahrnen Freundin ward Gabrielens Blick in das Leben allmählich immer mehr erweitert. Blieb sie allein mit ihr und Augusten, so verlebte sie Abende, während welchen sie sich in ihre frühere Zeit auf Schloß Aarheim wieder versetzt glaubte. Musik, gemeinschaftliches Lesen, vertraulich heitres Gespräch und Uebung mancher weiblichen Kunst liehen den Stunden dann Flügel. Oft aber erweiterte sich auch der kleine Kreis durch das Hinzukommen mehrerer Freunde der Frau von Willnangen, und freie, frohe Mittheilung belebte dann die kleine Gesellschaft. Gabriele fühlte sich in ihr weit heimischer als im Hause ihrer Tante,[124] aber sie vermochte es doch noch nicht, ihr zurückhaltendes Wesen im Beiseyn Mehrerer ganz abzulegen, und blieb darum gewöhnlich nur eine stumme, wenn gleich fröhlich theilnehmende Zuhörerin.

So verging der Anfang des Winters; immer näher kam das neue Jahr, welches bestimmt war, Gabrielen diesen stilleren Freuden zu entreißen, um sie in größere Zirkel einzuführen. Sie sah ihm deshalb mit bangem Widerstreben entgegen.

Eines Abends ward die Gesellschaft weit größer und glänzender als gewöhnlich, viele, die sonst mitten im Geräusch lebten und selten Frau von Willnangen besuchten, traten nach und nach in ihr Zimmer, denn ein ungewöhnlich spät anfangender Ball ließ ihnen zufällig den Abend frei, und sie benutzten diese Gelegenheit, sich vorher hier zu versammeln, wo sie die Frau vom Hause immer zu finden gewiß waren. Unter mehreren Personen, welche Gabriele schon im Hause ihrer Tante gesehen hatte, erkannte diese vorzüglich die Gräfin Eugenia und den jungen Mann, welcher den Antonius vorgestellt hatte; ganz zuletzt kam auch Ernesto hinzu und mit ihm Ottokar.[125]

Frau von Willnangen wurde Gabrielens Erschrecken bei Ottokars Eintritt, ihr hohes Erröthen und eben so plötzliches Erbleichen gewahr, und das bis dahin vergebens gesuchte Geheimniß des jungen Herzens lag nun entschleiert vor ihrem Blick. Ihre Ansicht von Gabrielens Zukunft klärte sich auf, denn ohne Ottokarn genau zu kennen, wußte sie doch genug von ihm, um ihn günstig zu beurtheilen. Zum erstenmal fiel es ihr ein, daß er und Gabriele in einem Hause lebten; daß die ihr eigne Liebenswürdigkeit bei diesem steten Zusammenseyn sich ihm offenbaren müsse; und daß auch er von ihr sich bald mächtig angezogen fühlen würde, schien ihr gewiß. Sie beschloß daher, von nun an Ottokarn genauer zu beobachten, und keine Gelegenheit dazu entschlüpfen zu lassen. Der Gedanke, Gabrielen recht bald unter dem Schutz, am liebenden Herzen eines edlen Mannes zu sehen, war ihr zu tröstend, zu erfreulich, als daß sie sich nicht hätte geneigt fühlen sollen, auf das Thätigste dazu mitzuwirken, sobald die Gelegenheit sich darbot. Fürs erste aber wollte sie sich auf bloßes Bemerken beschränken.[126]

Das Gespräch wandte sich diesen Abend sehr bald wieder auf die Tableaus bei der Gräfin Rosenberg. Als die ersten und bis jetzt einzigen, welche man hier gesehen hatte, waren diese Darstellungen noch unvergeßlich, und in den Gesellschaften ward viel herüber und hinüber, preisend und tadelnd, darüber gesprochen. Gräfin Eugenia fand es seit jenem Feste für gut, überall so wie hier, als die erklärteste Widersacherin dieses neuen geselligen Vergnügens aufzutreten. »Ich war herzlich froh,« sprach sie, »als ich einen schicklichen Vorwand ersonnen hatte, mich von der Theilnahme davon loszumachen. Nie hätte ich es ausgehalten; mich bewegungslos von mehr als hundert Augen anstarren zu lassen, dazu gehört ein Grad von Muth, welchen ich mich wenigstens nicht rühmen darf zu besitzen.«

»Und doch waren Sie so gütig, uns auf unserm Privattheater recht oft durch ihre Erscheinung zu entzücken,« wandte mit einer höflichen Verbeugung der Antonius jenes Abends ein. »Das ist ja ganz etwas anderes,« erwiederte Eugenia, »dort auf den Bretern bin ich nicht mehr ich, die Dichtung,[127] die Kunst reißen mich hin, ich sehe die Zuschauer und ihre Blicke nicht mehr. Ueberdem gehört ein gewisses Talent dazu, um auf der Bühne aufzutreten; aber schön geputzt einige Minuten bewegungslos dastehen, kann jedes Gänschen vom Lande, wenn es nur hübsch ist.«

»Vor allen Dingen ist der hohe Grad von Eitelkeit und Leichtsinn wohl zu erwägen, welcher dazu gehört, sich in fantastischer, oft unanständiger, ja sogar heidnischer Kleidung zur allgemeinen Bewunderung hinzustellen,« sprach langsam bedächtig ein Fräulein Silberhain. Diese junge Dame stand schon seit einiger Zeit auf der zweiten Gränze ihres Lebensfrühlings. Früher war sie eine Naturphilosophin, jetzt wandte sie sich zur Frömmigkeit, weil diese moderner ist, aber sie hatte Schelling und Thomas a Kempis in ihrem Köpfchen noch nicht recht zu einigen gewußt, und warf daher Redensarten aus beiden im Gespräch verwirrt und wunderlich durcheinander. Uebrigens hing ein fein gearbeites Kruzifix an einer goldenen Kette von ihrem Halse herab, ein zweites krümmte sich sehr widerwärtig zu einem Ringe an[128] ihrer Hand, und ihre gemessenen Worte drängten sich mühsam durch die kaum geöffneten, fast regungslosen Lippen.

»Ich begreife nicht wie man um so nichtigen Zweck seine Identität zu opfern vermag,« fuhr Fräulein Silberhain in ihrer Rede fort, »wie kann ein in seinen tiefsten Tiefen vom Höchsten erfülltes Gemüth so ganz dieses vergessen und dem prunkenden Schimmer irrdischer Vergänglichkeit huldigen! Die Stille des Gemüths, das beseligende Gefühl dessen, was unser Eins und Alles seyn soll, müssen ja in der aus Tand und flüchtigen Glanz entstehenden Verblendung auf lange von uns weichen, und der verirrte Sinn braucht vielleicht viele Monate, ehe er wieder zur anschauenden Klarheit gelangt.«

»Hätte ich nur einen recht schönen türkischen Shawl gehabt, ich wäre für mein Leben gern dabei gewesen, wenn ich auch nur ein ganz unbedeutendes Nebenpersönchen hätte vorstellen sollen; und was wetten wir? mein frommes, gelehrtes Schwesterchen würde sich unter dieser Bedingung[129] auch wohl dazu haben bewegen lassen,« rief überlaut das sehr junge Fräulein Fanny Silberhain, indem es sich lachend hinter Gabrielen vor den zürnenden Blicken der viel ältern Schwester verbarg.

»Allerdings,« sprach ein ansehnlicher, schwarz gekleideter Mann, »allerdings wüßte ich wenigstens keine beßre Gelegenheit, um sowohl jene kostbaren Hüllen als überhaupt alle Pracht der Gewänder und auch körperliche Vorzüge ins schönste Licht zu stellen, als solche Tableaus. Bei Maskeraden verlieren die ausgesuchtesten Masken sich im Gewühl, und obendrein verhüllen die häßlichen Larven das Gesicht, hier aber wird uns der ungestörteste Genuß der Anschauung des Schönen, verbunden mit der aesthetischen Freude an dem Kunstwerk, welches, gleichsam ins Leben gerufen, vor uns tritt.«

»Echte Freude an der Kunst ist allemal religiös, hier aber, Herr Professor! sehe ich nur die traurige Erscheinung ungebändigten Weltsinns und unverhüllter Eitelkeit,« sprach, sanftmüthig[130] zürnend, das Fräulein mit dem Kruzifix.

»Erlauben Sie indessen, meine Gnädige!« erwiederte der Professor, »daß ich Sie daran erinnere, wie untrennbar die Neigung zur Eitelkeit von jeder höhern Natur ist, die man die organische zu nennen pflegt; bemerkt man sie doch sogar an einigen der edleren Thiergattungen. Sie ganz ausrotten zu wollen, wäre eben so vergeblich als schädlich, so wie alles, was gegen die Natur anstrebt. Es ist vielleicht unschicklich, hier den nackten Wilden als Beweis, wie tief der Hang zum Putz in unserem Wesen liegt, anzuführen, der sich tattowirt und mit grellen Farben bemalt um sich zu verschönern, aber blicken Sie nur um sich her, Sie finden bei Reichen und Armen dasselbe, nur anders gestaltet. Daß man sich, schön geschmückt, auch Andern gerne zeigt, ist ebenfalls natürlich und war es vom Anbeginn der Welt. Damals, als Weichlichkeit und Prachtliebe das alte Rom seinem Untergange näher führten, war es unter den vornehmen Römerinnen gebräuchlich, sich,[131] wenn sie einander besuchten, nicht nur auf das herrlichste zu schmücken, sondern sich auch durch ihre Sklavinnen mehrere reiche Gewänder und Schmuck nachtragen zu lassen, die sie im Hause der den Besuch empfangenden Dame alsdann sich anlegen ließen, wie Sie alle, meine Gnädigen, aus der weltberühmten Anekdote der Mutter der Grachen längst wissen werden. Man behauptet, daß diese Sitte auch unter den, allen männlichen Augen verborgen lebenden, vornehmen Frauen des Orients noch heut zu Tage im Schwange sey. Aber wie ärmlich, wie unbequem, wie ungraziös selbst erscheint diese Art von Schaustellung gegen eine Reihe von Tableaus, welche die glücklichste Wahl unter den Kostüms aller Völker, aller Jahrhunderte frei lassen. Die Pracht der Steine und der Gewänder erscheint in ihnen nur als das begleitende Attribut der Schönheit, des geistreichen Ausdrucks und der anmuthigsten Stellungen, und wir können es in der That der Gräfin Rosenberg nicht genug verdanken, daß sie mit diesem erhöhten Genuß uns bekannt machte.«[132]

»In welchen wunderlichen Zeiten leben wir! ein Professor muß gegen Damen die Eitelkeit in Schutz nehmen!« rief ein alter Herr.

»Mich dünkt, wir leben in einer in dieser Hinsicht recht verständigen Zeit, in welcher man endlich einmal aufhört, die Frauen allein eines Fehlers zu beschuldigen, den ich am liebsten eine Tugend nennen möchte,« erwiederte schnell Ottokar. »Wir Männer mögen uns noch so weise anstellen,« fuhr er lächelnd fort, »wir sind eben so wenig frei von ihm als die Frauen, und ich danke Gott dafür. Der Hang zum Gefallen erscheint mir als die Würze des geselligen Lebens, als die Wurzel aller seiner Freuden und Tugenden, die ohne ihn zu Grunde gehen müßten. Man thäte ja am besten, in Höhlen und Wälder zu ziehen, wenn niemand mehr das Bestreben zeigen wollte, liebenswürdig zu erscheinen, und sogar durch den bloßen Anblick zu gefallen.«

»Sollte denn aus diesen Tableaus, über welche wir so viel streiten, nicht auch für die Kunst manches Gute entstehen können?« fragte Auguste von Willnangen.[133]

»Dochwohl nur, indem sie mehr Theilnahme an ihr und ihren Erzeugnissen aufregen,« erwiederte Ottokar, »sonst glaube ich nicht, daß sie in dieser Hinsicht von großem Nutzen sind. Sie bleiben doch nur die Kopie einer Kopie der Natur, und zwar eine unvollkommne, denn vieles muß aus jedem Gemälde hier wegbleiben, das doch durchaus dazu gehört, die Hintergründe, die Architekturen, die Landschaften, das Gewölk.«

»Eine angenehme, gesellige Unterhaltung zur Abwechselung mit den ewigen Charaden und Sprichwörtern scheinen sie mir doch wenigstens zu bieten,« sprach Frau von Willnangen, »auch hoffe ich, sollen sie dazu beitragen, die unseligen Jeux d'esprit aus der Gesellschaft zu verbannen, in welchen der arme Geist so gemartert wird, um zu erscheinen, daß er sich endlich ganz in Langeweile auflöst. Nur thut es mir leid, daß die Vorbereitungen zu Tableaus für die kurze Dauer ihrer Erscheinung zu viel Zeit und Mühe kosten.«[134]

»Alles läßt sich vereinfachen,« erwiederte Ernesto, »und ich getraue mir mit sehr wenigen Vorrichtungen, ganz aus dem Stegreif, dennoch manches Ergötzliche in dieser Art Ihnen vorzuführen. Wir brauchen zum Beispiel nur diese Flügelthür auszuheben, einen Vorhang vorzuhängen, eine große spanische Wand dahinter zu stellen, und wir haben das Lokal dazu. Einige große Lampen, oder ein Paar Dutzend zu einer Fackel vereinigte Wachslichter, und die Beleuchtung ist fertig. Schminke und etliche falsche Bärte für die Herren sind bald herbeigeschafft, und wenn die Damen ihre schönen Schawls zur Garderobe herleihen wollen, so läßt sich mit diesen wenigen Requisiten schon manch guter und glänzender Effekt hervorbringen. Auch für die Kunst selbst könnte auf diese Weise Bedeutendes geschehen, wenn die Gesellschaft einem Künstler erlaubte, mit ihrer Hülfe nicht bloß schon vorhandene Gemälde nachzubilden, sondern seine eignen Gedanken, die oft noch beinah formlos ihm vorschweben, auszuführen. Manches erfreuliche Kunstwerk könnte diesem Spiele seine[135] Entstehung verdanken, wenn ein talentvoller Künstler auf diese Weise gleichsam ein Vorbild von dem sähe, was er auszuführen Willens ist; der Zufall würde manches ordnen, manches in ihm erwecken, an das er außerdem nie gedacht hätte, und der aus solchen Proben für die Kunst entstehende Gewinn könnte leicht unschätzbar werden.«

Kaum hatte Ernesto geendet, als schon Auguste von Willnangen und Fanny Silberhain fröhlich aufsprangen und ihn mit Bitten bestürmten, gleich auf der Stelle eine solche Darstellung anzuordnen. Ottokar, Antonius und der größte Theil der Gesellschaft, selbst Frau von Willnangen nicht ausgenommen, vereinigten ihre Bitten mit jenen, und Ernesto mußte dem allgemeinen Wunsche nachgeben; nur that er es mit der Bedingung, daß es ihm erlaubt sey, seine Figuranten selbst zu wählen. Fanny sammelte sogleich aufs eifrigste alle Shawls ein und wählte dabei in Gedanken den glänzendsten unter ihnen für sich aus; Auguste besorgte aufs[136] schnellste alles übrige und trug noch eine Menge zweckdienliche Sachen herbei, die von frühern Maskenanzügen und kleinen theatralischen Vorstellungen her, sich noch in der Garderobe vorfanden. In weniger als einer halben Stunde war alles zum Anfangen der Vorstellungen in Bereitschaft. Mehrere Tableaus folgten nun einander, ernste und heitere, im mannigfaltigen Wechsel, denn Ernesto war unerschöpflich im Erfinden, und Ottokar sowohl als der Professor standen ihm bei der Anordnung treulich bei. Die ganze Gesellschaft gerieth in eine so fröhliche Stimmung, daß Alle die Wagen überhörten welche allmählich, herbeirasselten, um sie zu einem glänzenderen Feste abzuholen. Nur Fräulein Silberhain saß ernst in sich gekehrt, und wies im voraus alle Einladungen zur thätigen Theilnahme unerbittlich ab, ehe noch eine an sie gelangte. Gräfin Eugenia hingegen hatte eine Weile zugesehen; da es aber Ernesto nicht einfallen wollte, ihr eine Rolle anzubieten, winkte sie Antonius herbei, der eben müßig dastand. Leise flüsterte sie ihm den Auftrag zu, Ernesto auf nicht auffallende[137] Weise an sie zu erinnern, und ihm zu verstehen zu geben, daß sie in einem so kleinen, aus lauter Freunden bestehenden Zirkel ihren Widerwillen wohl überwinden werde, und nöthigen Falles sich entschließen könne, etwa als Grazie oder Muse aufzutreten. Antonius erklärte ihr sein Entzücken über diesen Auftrag, versicherte, nicht mit Worten ausdrücken zu können, wie geehrt er sich durch dieses holde Vertrauen in seine Geschicklichkeit fühle, und flog in das Nebenzimmer, um ihren Befehl zu vollbringen. Leider aber gelang es ihm durchaus nicht, Ernesto nur auf eine Minute allein habhaft zu werden, es kam ihm sogar vor, als ob dieser ihm geflissentlich ausweiche. Vielleicht hatte Ernesto wirklich von dem ausgesprochenen Wunsch der Gräfin etwas gemerkt, und vermied mit Vorbedacht die Gelegenheit, ihn an sich kommen zu lassen, vielleicht lag aber auch die Schuld an der gar zu höflichen Unbeholfenheit des Abgesandten; genug, Eugenia blieb den ganzen Abend unangefochten als Zuschauerin, und war die erste, welche die laute Bemerkung machte, daß die zum Anfange[138] des Balls bestimmte Stunde schon längst geschlagen habe.

Gedankenvoll saß Frau von Willnangen dicht neben Gabrielen in der fernsten Ecke des Zimmers. Sie sah, wie jene jedem Tone Ottokars lauschte, wie ihr Auge entzückt auf ihm ruhte so oft er in den Tableaus erschien, und das unruhige, fast hörbare Klopfen des jungen Herzens erregte so tiefes Mitgefühl, so bange Sorge in ihrem Gemüth, daß sie fast eben so sehr als Gabriele selbst erschrak, als Ernesto plötzlich vor beiden stand, und sie zur thätigen Theilnahme an dem Tableau aufforderte, welches für heute die Reihe derselben beschließen sollte. Doch bald faßte sie sich wieder und stand mit gewohnter Freundlichkeit auf, um ihm mit ihrer jungen Freundin in das Nebenzimmer zu folgen. Gabrielens Hand zuckte in der ihrigen, ihr Blick bat, sie frei zu lassen, doch er ward nicht erhört, und Ernesto erinnerte sie mit komischer Feierlichkeit an das ihm zugestandne Recht, seine Figuranten nach Belieben wählen zu dürfen.[139]

Das Tableau stellte die Nacht vor, die ihren dunkelblauen Sternenschleier über ihre Kinder, den Schlaf und den Tod, ausgebreitet hält. Der Frau von Willnangen hohe Gestalt, der ruhige, milde Ausdruck ihres noch immer schönen Gesichts eignete sich ganz zum Bilde einer stillen, heitern Sommernacht. Zu ihren Füßen schlummerten zwei liebliche, blonde Genien, der eine war mit Mohnblumen geschmückt, der andre, mit der ausgelöschten Fackel, trug einen Kranz von Zypressen. Bunte, fantastische Traumgestalten drängten sich hinter ihr, unter ihnen stand Gabriele, als ein trüber, Unheil verkündender Traum, in ihren langen, schwarzen Schleier gehüllt, unter welchem die goldglänzenden Locken tief herabrollten. Beim Lampenlicht, mitten unter rosenwangigen, schimmernden Gestalten schien sie, ohne alle Schminke noch blässer als sonst. Sie glich Pygmalions Meisterwerk bei der ersten Regung des erwachenden Lebens. So glühend strahlte ihr dunkles Auge aus dem Marmorgesicht, denn ihr Blick traf auf Ottokarn, der in einiger Entfernung in ihrem Anschaun verloren stand.[140]

Alle Anwesende erklärten einstimmig dieses Tableau für die Krone von allen, welche dieser genußreiche Abend an ihnen vorüber geführt hatte.

»Ich stimme gern mit Ihnen ein,« sprach Ernesto, »denn die Erfindung dieser Gruppe ist nicht mein, ich habe nur die Träume hinzugefügt. Ich bildete sie nach einer Zeichnung meines leider viel zu früh unter der Pyramide des Cestus zur Ruhe gegangenen Freundes, Carstens,« fuhr er mit bewegter Stimme fort. »Lange fesselte ihn ein trübes Mißgeschick, das wie ein böser Zauber auf seinem Leben ruhte und ihn verhinderte, aus dem Reich der Formen in das der Farben zu dringen. Und da es endlich überwunden war, da sein hoher Genuß die Flügel freier zu regen begann, da entschwand er uns ganz. Die Kunst wird ewig um ihren Liebling trauern, um so mehr, da jetzt ein dem seinen ganz entgegengesetztes verderbliches Streben unter ihren Jüngern täglich herrschender wird.«

Die Gesellschaft mußte nun ernstlich zum Aufbruch eilen, denn das Stampfen der Pferde[141] unter den Fenstern mahnte sie immer lauter. In dem dadurch entstehenden Gewimmel fand sich Gabriele plötzlich neben Ottokar. Er beugte sich freundlich zu ihr herab und ergriff ihre zitternde Hand. »Ich fürchte keine bösen Träume mehr,« flüsterte er ihr zu, »seit ich die Vorbedeutung des Unglücks so anmuthig erscheinen sah.« Der fortwogende Strom der Gesellschaft riß ihn im nämlichen Moment fort, ohne daß Gabriele zur Antwort Zeit gewann.


Aus Gabrielens Tagebuche.

Ich fürchte keinen bösen Traum mehr, seit mir die Vorbedeutung des Unglücks so anmuthig erschien! Sprach er nicht so? Warum mußte ich auch dieses Mal, nur stumm mich verneigend, vor ihm stehen und vermochte nicht, ihm zu antworten? Ach, weil ich bin, was ich zu seyn schien, weil mein ganzes Daseyn ein schwerer, banger Traum ist! Immer ringe ich nach dem Erwachen; bin ich einst erwacht, dann,[142] Ottokar, dann werde ich zu dir sprechen, dich fragen, dir antworten können, und, gewiß! du wirst mich verstehen.


Wie oft versuchte ich es schon, sein Bild auf dem Papier fest zu halten! aber ich ermüde im fruchtlosen Streben. Ja, wenn ich mit den Zügen seines Gesichts auch die unbeschreibliche Harmonie in seinem ganzen Wesen wiederzugeben vermöchte! Er ist immer er selbst! ganz und ungetheilt er selbst, in jeder seiner Bewegungen, in jedem seiner Worte, im Scherz wie im Ernst! Nur er, einzig er kann so dastehen, so sprechen, so aussehen, und doch ist es nicht seine Gestalt allein, die ihn vor allen auszeichnet, es ist der Einklang, die Uebereinstimmung in seiner ganzen Erscheinung. Wo lebt der Künstler, der diese darzustellen vermöge? Ohne sie bleiben meine Bilder leblos und starr, bei aller übrigen Aehnlichkeit gleichen sie Wachsbildern, die das Leben ungeschickt nachäffen wollen, und ich muß sie vernichten, denn sie erregen mir Grauen.
[143]

Nichts wollen, nichts wissen, nichts wünschen als Lieben, sich selbst vergessen im Glück des geliebten Wesens, ohne Erwiederung zu hoffen oder zu wünschen, stellt uns den Engeln gleich, ist Vorgefühl himmlischen Glücks! So lehrtest du mich, meine Mutter! Warum bin ich denn nicht glücklich? Warum treibt unerklärliche Unruhe mich rastlos umher? Warum beklemmt meine Brust ein Wünschen, ein etwas Erwarten von der nächsten Minute, für das ich sogar nicht einen Namen habe? Könnte ich nur einmal recht Großes, recht Schweres für ihn vollbringen, ohne daß er ahnete, von wo es aus ginge. Könnte ich, ungesehen von ihm, ein trübes Geschick, ein großes Unheil von seinem geliebten Haupte auf das meinige lenken und dann, in mich geschmiegt und still aus meinem Dunkel hinauf zu ihm blicken und mich in seinem freudigen Lächeln sonnen. Dann, dünkt mich, wäre ich ruhig und glücklich für mein ganzes übriges Leben.


Nie werde ich mich darüber trösten, daß meine Mutter starb, ohne ihn gesehen zu haben. Ach[144] hättest du Verklärte ihn gekannt, wie lieb wäre er dir geworden! Wie glücklich ich im Anschaun von euch geliebten Beiden!


Arme Pflanzen, die sie verstieß, weil ihr verblüht seyd, wie will ich euch pflegen und lieben! Ich fand sie heute alle im Vorsaal, die schönen Blumen, welche Ottokar Aurelien an ihrem Geburtstage schenkte; verdorrt, losgerissen von ihren Stäben, mit Staub bedeckt, erkannte ich sie kaum. »Sie taugen nur noch zum Wegwerfen,« sprach Aurelia, »sie sind verblüht.« »Ja,« setzte sie mit komischem Pathos hinzu, »sieh hier, gutes Kind, das Bild der Vergänglichkeit aller Dinge, und nimm dir ein Beispiel daran. Alles Fleisch vergeht wie Heu, singt die christliche Gemeine, darum verträume deine Blüthenzeit nicht, sie kehrt dir so wenig wieder als diesen armen Sträuchen, die Anton alsobald wegschaffen soll.« »Liebe Aurelia,« erwiederte ich, »mit uns ist es wie es ist, aber diese Blumen können wirklich wieder blühen, nimm sie nur wieder in dein Zimmer, trage sie an die[145] Sonne, begieße sie.« – »Allerliebste Gabriele, thu du das selbst, ich schenke sie dir«, unterbrach mich Aurelia, und machte mir nach ihrer lustigen Art einen tiefen Knicks. Ich erschrak; »aber du hast sie von Ottokar,« stammelte ich, und fühlte dabei, wie ich roth ward; weiß ich doch nicht ob vor Freuden über die Blumen oder vor Verdruß, daß ich Aurelien an ihren Geber erinnern mußte. »Mag er mir frische Blumen schicken, wenn er will, daß sein Andenken bei mir grüne und blühe,« antwortete sie lächelnd; »seit ich nicht mehr vierzehn Jahre alt bin, bewahre ich nichts länger auf, als es des Bewahrens werth ist. Damals freilich, da hatte ich auch ein Heumagazin von gedörrten Rosen, Vergißmeinnicht und sonst noch allerlei Grünlichkeiten, so gut wie eine von euch zarten Seelen, wie ich aber einmal gewahr ward, daß ich alle das Zeug sogar nicht zum Kräuterkissen bei Zahnweh brauchen konnte, warf ich es zum Fenster hinaus.«


Ottokar weiß, daß ich seine Blumen besitze, er hat Aurelien meine Zeichnung dafür geraubt[146] und auf sein Zimmer getragen, gewiß nur im Scherz, gewiß er giebt sie ihr wieder. Warum hat mich denn Annettens Erzählung dieses unbedeutenden Umstandes so erschreckt? Warum strebe ich jetzt so ängstlich, mir diese Zeichnung Zug für Zug recht deutlich zu denken? Er wird sie ja doch nicht behalten.


Wenn er unglücklich würde! Nein diese Möglichkeit kann ich mir nicht denken. Nicht einmal die, daß ich oder andre es in seiner Nähe seyn könnten. Ihm gegenüber, seinem freundlich hellen Blick gegenüber, muß ja das Unglück eine so stille rührende Gestalt annehmen, daß es zur schmerzlich süßen Freude sich darüber umwandelt.


Sonst nannte Frau von Willnangen nie Ottokars Namen, jetzt höre ich ihn täglich aus dem Munde der geliebten Frau und lausche mit Freuden seinem Lobe. Während Gewohnheit und Arbeit mich zu Hause in meinem Zimmer festhalten, bringt er die Morgen bei ihr und Augusten zu.[147] Meine Freundinnen streben auf vielfache Weise, mich zu einem Besuche zur nämlichen Zeit zu veranlassen, ohne jedoch mich geradezu einzuladen, und oft regt sich auch in mir der Wunsch, ihren Winken folgen zu dürfen, aber ein innres Widerstreben hält dennoch mich zurück.


Abends singt mir Auguste die Lieder, welche er ihr brachte, ihre Mutter giebt mir fast wörtlich den Inhalt ihrer Gespräche mit ihm. Ich bewundre die Freiheit des Geistes, welche es ihr möglich macht, sich mit ihm so in Rede und Gegenrede zu verständigen, denn in seiner Nähe wird mein ganzes Wesen nur ein Spiegel des seinen.


Ich wollte, ich könnte dichten, oder komponiren; oft ist es mir, als müsse ich beides können, aber vergebens suche ich Worte oder Töne für das, was ich so gerne singen oder sagen möchte. Auch in meinen Büchern, in meinen Dichtern, finde ich nicht, was ich suche, nirgends, was auf ihn paßte. Alle Gestalten, welche sie mir vorführen,[148] sind nicht wie er, mild und hoch, kräftig und bescheiden.


Er hat meine Zeichnung behalten, sie hängt über seinem Schreibtisch, freilich als ein Geschenk Aureliens. Ernesto sah sie bei ihm. Ich bin darüber froh wie ein Kind, ich möchte sagen, ich fühle mich geehrt, so wie sonst, wenn die geliebte Mutter irgend eine Arbeit von mir sich zum Gebrauch aneignete. Wenn er die Zeichnung ansieht, muß er nicht zuweilen meiner gedenken?


Heute Abend war ich zeitiger als gewöhnlich zu Frau von Willnangen gegangen, ich fand die liebe Frau allein mit Augusten, trübe und traurig schien ein schmerzliches Andenken schwerer als sonst auf ihrem Gemüthe zu lasten. Sie bat uns, etwas zu singen, und wir wählten das himmlische Duett aus Pärs Sargino, das mir von jeher wie die Sprache klingt, in welcher Engel einander sagen, wie sie sich lieben. Dolce dell' anima, fing ich an; speme e diletto di [149] questo cor, und meine Seele schwebte auf den süßen Tönen himmelan. Da erscholl es dicht hinter mir, dolce dell' anima, es war nicht Augustens Stimme, es war seine, seine! unbemerkt von mir war er ins Zimmer und an Augustens Stelle getreten. Ich wagte nicht, mich umzusehen, aber ich hatte den unbegreiflichen Muth, fortzusingen, la pura fiamma che m'arde in petto! Ich fühlte mir das Herz in der Brust, jeden Puls meines Lebens erzittern, aber meine Stimme bebte nicht, ich wußte kaum, daß ich sang, die Töne strömten unwillkürlich aus meiner tiefsten Brust, aus dem Herzen meines Herzens, und ich hörte mich selbst wie die Stimme eines Dritten. Athemlos, bewustlos sogar, stand ich da, als das Duett geendet war, und konnte nichts als mich tiefer und immer tiefer vor Ottokar neigen, während er zu mir sprach. Auguste sagt, er habe viel zum Lobe meiner Stimme, meines einfachen Vortrags gesagt; ich weiß es nicht, ich habe sogar nicht gesehen, wie er sich bald darauf entfernte. Als er fort war, schloß mich Frau von Willnangen mit verdoppelter[150] Zärtlichkeit in ihre Arme, Augustens schönes Auge blitzte freudig, beide waren den ganzen Abend unerschöpflich in seinem Lobe, in Erzählungen kleiner Züge von ihm. Zu jeder andern Zeit hätte diese Unterhaltung mich sehr glücklich gemacht, jetzt konnte ich kaum darauf achten. Ja Musik ist die Sprache seliger Geister, das weiß ich jetzt mit Ueberzeugung, in Tönen konnte ich ihm singen, wofür ich nimmer Worte fände, und der Nachhall dieser Stunde wird mein ganzes kommendes Leben durchtönen.


Einmal, nur einmal möchte ich doch Aurelia seyn, neben ihm sitzen, ihn ansehen, und mit ihm sprechen können wie sie.


Es war mein Stolz und meine Freude, mit Ottokar, wenn gleich ihm unbewußt, ein Geheimniß zu theilen, etwas, allen andern Verborgnes von ihm zu wissen, daher vertraute ich keiner lebenden Seele die Geschichte unsers ersten Zusammentreffens. So lange ich allein darum wußte, wähnte ich, sie sey ein unsichtbares[151] Band, das mich allein vor allen andern mit ihm vereinte. Nun ist es zerrissen. Woran ich Wochen und Monde hindurch in der Stille mich freute, ist die Neuigkeit des Tages geworden und geht entstellt von Mund zu Mund. Die ganze ungewöhnlich zahlreiche Gesellschaft, Aurelien an der Spitze, strömte mir heut entgegen, so wie ich den Speisesaal betrat, nur Ottokar blieb in der Ferne. Mein Blick sucht immer ihn zuerst, ich bemerkte einen leisen Zug des Unmuths auf seinem Gesicht, ein vielleicht nur meinem Auge sichtbares schnell wieder verfliegendes, zorniges Erröthen. Erstarrt blieb ich in der Thüre stehen, Aurelia und alle Uebrige mochten lange mit Fragen und Redensarten in mich hineingestürmt haben, ehe ich nur begriff, wovon eigentlich die Rede sey. Ich sah nur Ottokar in dieser mir unerklärlichen Bewegung. Ernesto, der, sonst um diese Stunde ein seltner Gast, bei uns ist, kam mir zu Hülfe. Seit meinem ersten Eintritt in dieses Haus ist er mir immer nah, so bald ich seiner bedarf. Wie er es anfing, weiß ich nicht, ich war zu aufgeregt, um[152] es zu bemerken, aber der ganze gesellige Knäuel drehte sich bald von uns ab, um Aurelien her, und ich stand mit Ernesto allein im Fenster. Hier erfuhr ich von ihm, daß Ottokars Kammerdiener Aureliens Kammerjungfer erzählt habe, wie sein Herr eine arme alte Frau unterweges in den Wagen genommen habe, auch daß ich damals mit ihnen in einem Gasthofe wohnend, die Geschichte mit großer Theilnahme gehört und durch Frau Dalling mich näher darnach erkundigt habe, denn obgleich Lorenz mich nicht zu Gesichte bekam, so hatte er diese doch dort gesehen und hier wiedererkannt. Die Jungfer hatte nichts angelegentlicheres zu thun, als ihrer Gebieterin bei der nächsten Gelegenheit diese Anekdote wieder zuzutragen. »Sie können denken,« fuhr Ernesto fort, »wie willkommen ein solcher Stoff Aurelien seyn muß, um ihren nie zu ermüdenden Muthwillen daran auszulassen. Gönnen Sie ihr die Freude, folgen Sie Ottokars Beispiel und lachen Sie mit, anstatt sich darüber zu ärgern. Die Tante trat zu uns, anscheinend recht fröhlich, aber in ihren Augen[153] zuckte doch eine gewisse Unruhe, sie vermochte nicht ganz die Furcht zu verbergen, daß Aurelia den Scherz zu weit treiben könne; der lustige Tumult in dieser und Ottokars Nähe ward immer größer und lauter, die Tante immer ängstlicher und freundlicher, und mir ward das Herz schwer und schwerer mit jeder Minute. Mehrere Spottbilder, mit erklärenden Knittelversen, alle von Aurelien selbst, nur zu geistreich erfunden und ausgeführt, hatten bisher die Gesellschaft ergötzt, endlich gelangten sie auch zu uns. Ottokar war darauf als Don Quixotte dargestellt, wie er seine durch Zauberkünste in die Gestalt einer alten häßlichen Frau verkappte Dulcinea von Toloso in eine Schenke bringt, die er für ein Kastell ansieht. Auf einem andern Blatt erscheint er als ein Schäfer, der eine zur Bettlerin verwandelte Fee vom Tode befreit, und gleich darneben, wie er zum Danke dafür in einen wunderschönen Prinzen mit Krone und Scepter verwandelt wird. Dann sahen wir ihn auch in Hofgalla, die Bettlerin am Arm, und mich im Hintergrunde, ganz in Extase vor[154] Rührung und Bewunderung, neben mir eine ganze Reihe naßgeweinter Schnupftücher auf einer Leine zum Trocknen aufgehängt. Ottokar selbst näherte sich uns und betrachtete diese Ergießungen einer nichts schonenden, übermüthigen Laune mit beifälligem Lächeln. »Wir sind diesesmal Leidensgefährten, liebes Fräulein,« sprach er, indem er sich freundlich zu mir neigte, während ich, erröthend vor Zorn und Verlegenheit, nicht wußte, wohin ich die Blicke wenden sollte. »Sie sehen so ernsthaft aus, thun Sie das nicht, nehmen Sie einen geselligen Scherz nicht höher auf, als er aufgenommen seyn will,« setzte er leiser, fast bittend, hinzu. Alles schwamm vor meinen Augen bei dem unerwarteten Glück, einen von ihm ausgesprochnen Wunsch erfüllen zu können. Ich hätte Aurelien, auf die ich eben erst zürnte, jetzt mit Freuden an mein Herz gedrückt, weil sie die Veranlassung dazu lieh, und ich hoffe, daß jede Spur des Unmuths in diesem Moment eben so von meiner Stirne schwand wie aus meinem Herzen. Um meiner Zufriedenheit die Krone aufzusetzen, sammelte Ernesto die[155] Zeichnungen alle sorgfältig zusammen und legte sie in seine Schreibetafel, mit der Erklärung, daß er sie als das gelungenste Werk seiner Schülerin aufbewahren wolle, und weder die Bitten der Gesellschaft noch Aureliens Zürnen konnten ihn bewegen, sie wieder herauszugeben.

Der einmal angestimmte Ton wollte bei Tische noch nicht gleich verhallen, aber Ernesto und Ottokar bemeisterten sich des Gesprächs, die Tante unterstützte sie auf das kräftigste, und so nahm es bald eine für mich erfreulichere Wendung, die ich mit angestrengter Aufmerksamkeit verfolgte. Ottokars Blick gleitete wärend dem Gespräch oft von dem neben mir sitzenden Ernesto auf mich herab, ich sah es nicht, denn meine Augen senken sich immer vor den seinen, aber ich fühlte seinen Blick wie einen Sonnenstrahl in meinem Innern.

Jetzt bin ich allein, und das durch Ottokars Nähe unterdrückte bittre Gefühl regt sich von neuem in meiner Brust. Ach ich fürchte die Spottsucht, die flache Charakterlosigkeit der[156] Gesellschaft um mich her wird auch mich noch ergreifen. Am besten wär es wohl für mich, ich ginge. Aber wohin? Arme Gabriele, wohin? Wo er nicht ist? Freilich werden Tage kommen, an denen ich ihn nicht sehe, vielleicht ein Tag, der von ihm auf dieses ganze Leben mich scheidet, aber soll ich denn schon jetzt dem Licht der Sonne mich entziehn, weil vielleicht bald die Nacht herein brechen wird?


Mit dem neuen Jahre war endlich der Zeitpunkt erschienen, der eine gänzliche Umänderung in Gabrielens, ihr allmählich lieb gewordnen Lebensweise hervorbrachte. Von nun an ward sie die beständige Begleiterin ihrer Tante durch die ganze lange bunte Reihe von Lustbarkeiten, welche das Karneval in der großen, lebenslustigen Stadt herbeiführte. Bälle, Soirees, Schauspiele aller Art raubten ihr jeden Abend, und die Zurüstungen zu diesen verkümmerten ihr manche Morgenstunde, die sie sonst andern Beschäftigungen zu widmen gewohnt war.[157]

Mit aller Kraft ihres Geistes suchte sie jetzt die ängstliche Blödigkeit zu überwinden, welche ihre ersten Schritte in der Gesellschaft so unsicher gemacht hatte. Es gelang ihr nach und nach. Das Blendende der Erscheinungen, das betäubende Geräusch verloren allmählich die Gewalt, ihr zu imponiren, ihre Existenz in der Welt ward mit jedem Tage angenehmer und obgleich sie sich oft nach den stillen, genußreichen Abenden sehnte, welche sie sonst bei Frau von Willnangen zu verleben gewohnt war, so gab es doch auch oft Stunden, in denen sie sich recht jugendlich heiter an dem bunten Leben ergötzte.

Dennoch war ihre Erscheinung in demselben nichts weniger als brilliant. Als eine nahe Verwandte der von allen gefeierten Gräfin Rosenberg, in deren Begleitung sie überall erschien, verfehlte man zwar nicht, ihr die Aufmerksamkeit zu erzeigen, zu welcher dieses Verhältniß sie berechtigte; aber eigentlich betrachtete man sie doch noch immer als ein halbes Kind, und sie hätte gewiß an manchem Abend die Reihe[158] der ungestört gähnenden Opfer der Sozietät vermehrt, welche man in allen Salons-Ecken sitzen sieht, wäre nicht Ernesto ihr treuer Beschützer geblieben, und hätte nicht Frau von Willnangen diesen Winter der gewohnten Ruhe weit öftrer als sonst entsagt, um ihren Liebling in so ungewohnten Verhältnissen nicht ganz verlassen zu wissen.

Ottokar sah Gabrielen jetzt täglich, ohne daß beide einander deswegen viel näher gekommen wären. Er zeichnete sie nicht minder als Aurelien aus, durch tausend kleine Aufmerksamkeiten, die er, als der Gast der Gräfin, ihnen vor andern schuldig zu seyn glaubte, übrigens aber blieb ihr gegenseitiges Verhältniß fremd und abgemessen wie zuvor.

Nur selten, besonders aber am Neujahrsabende, bei ihrem Eintritt in die große Welt, hatte er ihr einige Theilnahme gezeigt. Die Gräfin feierte den Schluß des festlichen Tages mit einem Ball, den sie den jüngern Bekannten Aureliens gab. Einsam und vergessen saß Gabriele lange in einer Ecke des Tanzsaales. Sie[159] gedachte der Neujahrsabende, welche sie als fröhliches Kind an der Hand der Mutter in den hohen, düstern Sälen von Schloß Aarheim verlebt hatte. Die Tanzmusik tönte nur wie aus weiter Ferne in ihre Träume, als Ottokar plötzlich vor ihr stand und ihr seine Hand bot, um auch sie den fröhlichen Reihen zuzuführen. Es war der erste festliche Tanz ihres Lebens, ihr schwindelte, noch ehe sie den Tanzplatz betrat. Ottokar merkte ihr Schwanken, schrieb es ihrer gewohnten Furchtsamkeit zu, und umfaßte sie nur um so fester, um sie vor jedem möglichen Zufall zu sichern. Gabriele fühlte den Druck seines Arms, das Säuseln feines Athems in ihren Locken, sie sah sein freundliches Auge ganz nahe auf sie herabblitzen und schwebte, an ihn gelehnt, wie auf geflügelten Sohlen durch den weiten Saal, so leicht, so anmuthig, daß selbst die Tante ihr freundlich Beifall zunickte. Mit ihm so durch das Leben! Der Gedanke flog zum ersten Mal wie ein Pfeil, in stechendem Schmerz, durch ihr Innres; ein unendlich betrübendes Gefühl bewegte sie fast bis zum Weinen, und noch[160] nie hatte sie sich so vereinzelt, so ganz verlassen gefühlt, als da Ottokar nach beendigtem Walzer sie zu einem Sitz führte und sie dann mit einer stummen Verbeugung verließ, um sich eine andre Tänzerin zu wählen.


Eines Abends, in einer großen Gesellschaft, wandte sich das Gespräch auf den echt spanischen Fandango. Aurelie war eben in sehr glänzender Laune, und so bedurfte es nicht großer Ueberredungskraft, um sie zu bewegen, ihn zu tanzen, obgleich die musikalische Begleitung, außer dem Tambourin und den Kastagnetten, nur noch aus einem Pianoforte bestehen konnte, und an einen Mittänzer gar nicht zu denken war.

»Du kennst die Figuren des Fandango, ich weiß es vom Tanzmeister,« sprach Aurelia zu Gabrielen, indem sie die sich vergeblich Sträubende in die Mitte des Saales mit sich fortzog; »übrigens,« setzte sie noch, wie ihr zum Troste hinzu, indem sie ihr die Kastagnetten aufzwang, »übrigens hat es wenig zu bedeuten, wer neben mirherhüpft.«[161]

Die mehresten der Anwesenden, sogar die Gräfin, blickten mit mitleidiger Besorgniß auf die arme Gabriele, die beinahe zitternd, mit niedergeschlagnen Augen dastand, während ein dichter Kreis von Zuschauern sich um sie und ihre Kusine bildete. Endlich sah sie auf, ihr erster Blick fiel auf Ottokar, der neben Ernesto stand, und sie mit ängstlicher Theilnahme betrachtete. Unfern von beiden winkte ihr Frau von Willnangen Muth zu, und nie war diese Gabrielen der verlornen Mutter so täuschend ähnlich erschienen. Der Anblick der befreundeten Gestalten, die ersten Takte der ihr bekannten Musik, aus welcher ihr Erinnerungen an ihre glückliche Kindheit wiederhallten, begeisterten sie; die Gewalt, mit der sie ihre Aengstlichkeit niederzukämpfen suchte, verknüpft mit dem lebhaften Wunsche, die durch ihr Gelingen zu erfreuen, welche ihr wohlwollten, versetzten sie in eine Art von Extase. Wider alles Erwarten gelang es ihr, mit unnachahmlicher Grazie auch den künstlichsten Wendungen Aureliens zu folgen, die jetzt in vollem Ernst mit der eben Verachteten zu wetteifern begann.[162]

Wie ein weißer Schmetterling die prachtvoll erblühte Centifolie umflattert, so schwebte die kleine Silfidengestalt um die hohe schöne Aurelia her. Der Anblick war wirklich entzückend, lauter, rauschender Beifall übertönte fast das Pianoforte; nach beendetem Tanze drängte sich alles, um beide mit Lob- und Danksprüchen zu überschütten, vorzüglich aber Gabrielen; denn ein unerwartet neu entdecktes Talent gilt immer mehr als ein längst bekanntes. Frau von Willnangen, Ernesto, Ottokar sogar, erhoben Gabrielen bis in die Wolken, andre folgten diesen anerkannten Koriphäen des guten Geschmacks, sogar die Gräfin erklärte sich für stolz auf ihre liebe Nichte und umarmte sie mit großer Zärtlichkeit. So ward das Unerhörte herbei geführt, daß Aurelia wirklich zu ihrem eignen höchsten Erstaunen ein paar Minuten lang um der kleinen Kusine willen vergessen und verlassen dastand, und diese Erfahrung war ihr nicht weniger neu, als Gabrielen, die der allgemeinen, laut ausgesprochnen Bewunderung.
[163]

Mit dem Scharfblick besorgter Mutterliebe bewachte Frau von Willnangen Ottokars Benehmen gegen Gabrielen bei jeder sich bietenden Gelegenheit. Nichts war ihrem genauen Aufmerken entgangen, weder jenes festere Umfangen ihres Lieblings beim ersten Tanze in der Neujahrsnacht, noch sein Besorgtseyn um Gabrielen, als Aurelia sie zum Fandango hinzog. Freudig hatte sie gesehen, mit welchem Entzücken er hierauf jeden ihrer Schritte mit den Augen verfolgte, zuletzt in laute Bewunderung ausbrach und sich allen Andern vordrängte, um der Erste zu seyn, der ihr für das Allen gewährte Vergnügen seinen Dank aussprach.

Auch in Ottokars übrigem Betragen gegen Gabrielen glaubte sie, wenn gleich nicht leidenschaftliche Liebe, doch ein stilles Hinneigen zu ihr zu erblicken, denn Wunsch und Hoffnung sind zu nahe verwandt, als daß sie im Laufe des Lebens nicht oft sollten eins für das andere gehalten werden. Frau von Willnangen gewöhnte sich nach und nach, alle die kleinen Aufmerksamkeiten mit in ihre Waage zu legen, durch welche Ottokar die[164] Hausgenossin, die nahe Verwandte seiner Gastfreundin, vor andern auszeichnete. Sie sah, mit welcher zarten Schonung und zugleich mit welcher Gewandtheit er so manche kleine, Gabrielen drohende Verlegenheit von dieser abzuwenden wußte; sie legte alles zum Vortheil ihrer Wünsche aus, und wahrhaft mütterliche Liebe verleitete sie endlich zu Mißgriffen, welche bei der welterfahrnen, klugen Frau sich nur durch dieses vorherrschende Gefühl entschuldigen lassen.

Zu diesen Mißgriffen gehörte, daß sie nicht nur es nie vermied, mit Gabrielen über alle jene ihr bedeutend dünkenden Zufälligkeiten in Ottokars Benehmen gegen sie zu sprechen, sondern sie sogar aufmerksam darauf machte, und sie ihr aus einem Gesichtspunkt zeigte, der für Gabrielens Ruhe durchaus gefährlich werden mußte. Augustens ewig heitre Fantasie, ihre warme Anhänglichkeit an Gabrielen verleiteten auch diese, das Gemälde einer Zukunft vollends auszumalen, welche keine von ihnen mit deutlichen Worten zu nennen wagte, die aber Mutter und Tochter für jedes andere Gemüth, als Gabrielens, dennoch nur zu[165] deutlich bezeichnet haben würden. Diese, zu wenig vertraut mit allem, was auf das wirkliche Leben Bezug hat, verlor sich nur mit süßer Schwärmerei in die von ihren Freundinnen ihr geöffnete helldunkle Aussicht. In ruhigen, einsamen Stunden strebte sie freilich, zu ihrer ehemaligen Resignazion wieder zu gelangen, und war es sich sogar nicht bewußt, wie weit sie von ihr gewichen sey. Ottokarn zu werden, was er ihr war, diese Möglichkeit hatte sie noch nie mit klaren Worten sich gedacht, aber noch weniger die, daß eine Andre so über alles von ihm geliebt werden könne. So verwirrten sich ihre Wünsche, ihre Hoffnungen immer mehr, sie vermied sogar, zur Klarheit über sie zu gelangen, und ihr Tagebuch enthielt von nun an nur die Ergießungen eines leidenschaftlich aufgeregten Gemüths, das sich scheut, ein Dunkel zu durchdringen, in welches es sich vor sich selbst verhüllt.


Der Winter zog allmählig fort, die Tage wurden länger, und im wärmeren Sonnenstrahl[166] erglänzten schon die schwellenden Knospen der Bäume. An Gabrielens Rückkehr nach Schloß Aarheim ward indessen nicht gedacht, obgleich der anfänglich dazu bestimmte Zeitpunkt nicht mehr fern war. Der Baron, welcher mit jedem Tage seinem großen Ziele sich zu nähern glaubte, und deshalb ungestört zu bleiben wünschte, hatte schon früher die Gräfin schriftlich um die Erlaubniß gebeten, den Aufenthalt seiner Tochter bei ihr auf unbestimmte Zeit verlängern zu dürfen, und Gabriele war zu sehr von der Gegenwart befangen, als daß sie den Wechsel der Zeiten hätte bemerken können. Tage und Monden gingen an ihr vorüber, ohne daß sie an die Möglichkeit einer Abänderung in ihren Verhältnissen gedachte.

Indessen konnte eine um diese Zeit entstehende geheimnißvolle Bewegung im Hause ihrer Tante ihr doch nicht verborgen bleiben, welche auch außer ihr jedermann bemerkte und niemand verstand; sogar Ernesto nicht, denn die Gräfin pflegte nach Art aller Frauen, die in der großen Welt eine Rolle zu spielen gewohnt sind, ihr eignes Geheimniß sicher zu bewahren, sobald sie es wollte. Sie[167] selbst blieb still und freundlich, wie jemand, der dem Gelingen großer Pläne mit Zuversicht entgegen sieht. Dabei konnte sie indessen es doch nicht lassen, sich zuweilen mit halbverhüllten Winken an Gabrielen zu wenden, von denen es schien, als wollten sie dieser eine große Freude, ja sogar ein hohes Glück verkünden.

Aurelia erschien in dieser Zeit strahlender und übermüthiger als je zuvor, Ottokar war mehr in sich gekehrt, und man bemerkte eine ihm sonst nicht gewöhnliche Ungleichheit der Gemüthsstimmung in seinem Betragen. Unter der Dienerschaft herrschte ein immerwährendes leises Treiben, die Gräfin selbst leitete es, es sah aus wie Zubereitungen zu einem prächtigen Feste, oder zu einer großen Reise, oder zu beiden; niemand von den dabei Beschäftigten wußte es zu erklären, und alle zerbrachen sich darüber die Köpfe.

Gabriele bemerkte wohl, daß alle diese Erscheinungen auch auf sie Bezug haben müßten, sie sann über ihre Bedeutung nach, bis sie von der allgemeinen, dumpfen Unruhe quälend ergriffen wurde, und war nach jedem, so in vergeblichem[168] Aufmerken verlebten Tage herzlich froh, wenn der Abend hereinbrach und der gewohnte Kreis sich in den Zimmern der Gräfin versammelte, welcher jetzt, nach den vorübergezognen Zerstreuungen des Karnevals, wieder in seine alten Rechte getreten war.

Eines Tages schien die allgemeine Spannung der Hauptpersonen des Hauses auf das höchste gestiegen, noch nie waren die Gräfin so geheimnißvoll, Ottokar so ernst in sich gekehrt, Aurelia so übertrieben lustig gewesen. Allen, welche diesen Tag an der Mittagstafel der Gräfin Theil nahmen, fiel dieses unheimliche Wesen bis zum Aengstlichwerden auf. Nichts konnte ihnen daher Erwünschteres kommen, als der für den Abend verheißne Besuch eines berühmten Deklamators, denn er versprach nicht nur Schutz gegen die bei dieser Stimmung der Gesellschaft zu befürchtenden Langenweile, sondern auch gegen etwannige Ausbrüche einer innern Aufgeregtheit der Gemüther, von der sich jedes ergriffen fühlte. Unter allen aber freute sich Gabriele darüber; noch nie war ihr Gelegenheit geworden, einen Künstler dieser[169] Art zu hören, sie hatte überhaupt keinen Begriff, wie man das, was sie als Deklamation kannte, zum Hauptzweck seines Lebens machen könne, und erwartete daher etwas ganz außerordentliches von einem sich einzig diesem Zwecke weihenden Künstler. Alles, was sie jemals von Improvisatoren, von Troubadours, von Barden, die als überall willkommne Gäste mit ihren Liedern durch die Länder zogen, ja sogar vom Wanderleben Homers gehört und gelesen hatte, kam ihr wieder ins Gedächtniß. Sie erwartete nicht viel Geringeres als alles dieß zusammen, und war daher nicht wenig verwundert, als der Erwartete in Gestalt eines hagern, kleinen, schwarzgekleideten, sehr jungen Männchens hereintrat und der Gräfin vorgestellt ward. Seine Ungeduld, sich hören zu lassen, schien nicht minder groß, als die der Anwesenden, ihn zu hören. Er ergriff die erste Gelegenheit, sich anscheinend nachlässig in einen Lehnstuhl zu werfen, und begann mit nicht auffallend angenehmem Sprachton seine Rezitationen.

Es war wunderlich anzusehen, wie er sich[170] ängstlich abmühete, zu deklamiren, ohne dabei zu agiren. Mit der untern Hälfte des Körpers gelang es ihm, er saß mit kreuzweis über einander geschlagnen Beinen wie angebunden auf seinem Sessel, aber die Züge seines Gesichts, Arme und Hände waren gleichsam wider seinen Willen in ewiger theatralischer Bewegung. Er hatte kein Buch nehmen wollen, weil er behauptete, sich vollkommen auf sein Gedächtniß verlassen zu können, dieß aber vermehrte die Verlegenheit, in welche ihn die Haltung seiner Hände augenscheinlich versetzte. Freilich hätte er auch eine ganze Bibliothek herbeischaffen müssen, so viele ganz heterogene Dichtungen der heterogensten Dichter ließ er im schnellsten Wechsel auf einander folgen. Endlich kam auch Macbeths bekannter Monolog an die Reihe. Schauerliches Schweigen herrschte im Saal, alles horchte seinen dumpfen, geisterartigen Tönen. »Ist das ein Dolch?« rief er mit Macbeths stierem Blick und einem plötzlichen Griff auf den vor ihm stehenden Tisch. »Es ist nur die Lichtschere,« flüsterte Aurelia, laut genug, um von den nahe Stehenden, wahrscheinlich auch vom[171] Deklamator selbst gehört zu werden, denn sobald dieser den Monolog beendet hatte, erinnerte er sich eines Versprechens, noch diesen Abend in einer andern Gesellschaft zu erscheinen, und eilte davon.

»Shakespear! ach Shakespear!« rief die Gräfin, indem sie sich entzückt auf dem Sopha zurück lehnte, und so es vermied, ihr Urtheil über den Deklamator zu frühe zu äußern. Beim Shakespeare war sie ihrer Sache gewiß, nicht so bei jenem, obgleich dem in allen Zeitungen Gepriesenen in jeder Pause seines Vortrags von einem großen Theil der Anwesenden lauter Beifall gezollt worden war. »Wie groß erscheint Shakespear, wo man auch immer ihn antrifft!« fuhr die Gräfin fort; »wie sogar nicht zu ertödten! Welch eine Höhe! und welche Tiefe! Wie treten seine Gebilde hinaus in die Wirklichkeit!« »Ich bin nur froh, daß der Deklamator endlich zum Saal hinaus getreten ist,« sprach Ernesto ganz gelassen. Erstaunt sah die Gräfin ihn an, und war doppelt froh, sich an Shakespeare gehalten zu haben,[172] da nun auch der Professor anfing, Klopstocks Ode, Theone, zu rezitiren.


Still auf dem Blatt ruhet das Lied, noch erschrocken

Von dem Getös' des Rhapsoden, der es herlas,

Unbekannt mit der sanfteren Stimme

Laut, und dem volleren Ton.


»Die armen Lieder!« sprach lächelnd Auguste, »sie haben nicht einmal ein Blatt, auf dem sie ruhen könnten, er sagte sie auswendig her, und mir ist daher noch immer, als fühle ich die heimathlosen Geister mich ängstlich umschwirren.« Antonius wollte wenigstens das große Gedächtniß des Deklamators bewundert wissen, konnte aber nicht damit zu Stande kommen, denn Ernesto verdammte gerade dieß aus dem Kopfe-Hersagen, als einen der ärgsten Mißgriffe, welche sich der Deklamator hatte zu Schulden kommen lassen, und der Professor trat ihm treulich bei. »Wodurch wird das Lied zum Liede?« sprach dieser; »durch den Rhythmus, den Versbau, die Wahl des Ausdrucks, nicht durch die poetische Idee allein. Mit der strengsten Auswahl wägt der Poet jedes Wort, jede Silbe, überall sucht er den Geist und die[173] Harmonie aufs genauste zu vereinen, und Gott weiß, wie schwer ihm dieses in unsrer an guten Reimen so armen Sprache oft wird. Verzweifeln müßte er, wenn er es anhörte, wie solch ein Deklamator alle seine Mühe vernichtet und die auswendig gelernten Lieder mißhandelt! »Das ists ja eben,« setzte Ernesto hinzu, »die Herren haben es nur auswendig und nicht inwendig, sonst müßten sie fühlen, was sie zerstören, wenn sie hier ein fremdes Wort einschalten, weil das rechte ihrem untreuen Gedächtniß entschlüpfte, dort einen falschen Akzent anbringen, oder ein kurzes Wort dehnen, weil sie vom vorhergehenden eine Silbe verschluckten, und nun mit dem Versmaaß nicht auskommen. Auch das beste Gedächtniß sichert vor dergleichen nicht. Auf dem Theater verdecken Spiel und theatralische Täuschungsmittel diese Mängel so ziemlich, auch Sängern und Sängerinnen will ich es allenfalls nachsehen, wenn sie unsre Dichter verstümmeln, man versteht sie ohnehin nur selten, und wird es also nicht gewahr; aber der Deklamator, der uns den vollkommensten Genuß eines poetischen Werkes verspricht,[174] müßte sich nie in den Fall setzen, so fehlen zu können.«

»Ich wünschte fast, es gäbe gar keine Deklamatoren in der Welt,« sprach Frau von Willnangen; »wenigstens fühle ich immer das innigste Mitleid, wenn ich einen jungen Menschen sehe, der von falschverstandner Kunstliebe sich verleiten ließ, diesen Weg zu wählen, um darauf durch die Welt zu kommen.«

»Denen jungen Herren, die weder Lust zum Graben noch zum Erlernen gründlicher Kenntnisse haben, scheint dieser Weg aber sehr lustig und bequem,« erwiederte der Professor, »sie denken noch obendrein, etwas Ungemeines für die Kunst zu thun, wenn sie von Stadt zu Stadt gehen und pathetisch hersagen, was andre Leute gedichtet haben, und was jeder seit der Erfindung der Buchdruckerkunst in seinem Kabinet lesen und sich dabei das gerade für ihn Passende auswählen kann.«

»Dabei sind sie gewöhnlich in offenbarem Zwiespalt mit sich selbst,« setzte Ernesto hinzu. Deklamiren mit Aktion oder ohne Aktion, das ist[175] die Frage, die sie nie lösen können. Ersteres mitten im Zimmer auf plattem Boden, hat denn doch immer etwas komisches, abgerechnet, daß es auch dem eigentlichen Begriffe des Deklamirens ganz entgegen steht. Und sich beim Deklamiren im übrigen ganz ruhig zu verhalten, ist fast unmöglich, oder wird es erzwungen, so kann niemand sich an dem Anblick freuen. Eigentliches Deklamiren möchte ich ganz auf das Theater oder auf die Bühne der Volksredner verweisen, wenn es deren noch außer den Kanzeln welche gäbe; zur gesellschaftlichen Unterhaltung aber würde ich bloßes Vorlesen mit Ausdruck und Präzision allen Deklamatorien vorziehen.«

Es ward über diesen Gegenstand noch viel hin- und hergestritten, bis Ernesto Gabrielen aufforderte, den Streit zu beenden und der Gesellschaft zu zeigen, was er mit Vorlesen eigentlich meine. Er kannte ihr schönes, sorgfältig von der Mutter gebildetes Talent, und ergriff gern diese, wie jede Gelegenheit, seine junge Freundin nicht sowohl an das Licht zu ziehen, als vielmehr sie von der ängstlichen Befangenheit[176] gänzlich zu befreien, von welcher sie noch zuweilen befallen ward. Auch diesesmal gewährte sie nur mit innerm Zagen seinen Wunsch, überflog schnell mit den Augen ein Blatt, welches Ernesto ihr reichte, während die Lichter gerückt wurden und der Kreis der Anwesenden sich um sie her ordnete. Sie las zuerst etwas zaghaft, dann aber mit immer steigendem Affekt, immer eindringender, immer wahrer in Ton und Ausdruck, ganz sich und alle um sich her vergessend, wie an jenem Abende, als sie in Ottokars Gegenwart sang: la pura fiamma che m' arde in petto. Kein Hauch regte sich, alle waren an ihren Vortrag wie gebannt, denn man hörte, was sie las, war der innigste Ausdruck ihres eigensten Gefühls, und sie bezwang alle Herzen mit der Wahrheit Gewalt. Sie hatte das Gedicht, welches sie vorlas, zuvor nie gesehen, es war das neueste Erzeugniß eines jungen Poeten von Ernesto's Bekanntschaft.

Hier ist es:


O laßt mich ruh'n an dieser lieben Stelle

Nur einen kurzen, stillen Augenblick![177]

Hier zog mein Tag herauf, so licht, so helle;

O laßt mich ruh'n an dieser lieben Stelle!

Vergönnet mir dieß arme, einz'ge Glück!


Ich will nicht um mich schau'n; laßt mich vergessen,

Daß eine Zukunft ist, daß Morgen kommt.

Was über heute liegt, ist unermessen,

Und über Nacht zu denken, ist vermessen,

Mit Sonst zu sprechen, meinem Herzen frommt.


Wenn es der Welt noch einmal tagt, umdichten

Mich Gram und Nacht. Dein Bild kann nur allein

Die Nacht zur Dämm'rung eines Traumes lichten,

Und wie ein Traum mußt du vorüberflüchten,

Geflügelt Glück! dein bin ich, du nicht mein.


Der hat ein süßes, hold Geschick, empfangen,

Wer dich, du zartes Bild! nur einmal sah;

Mich hat dieß Glück für immerdar umfangen,

Bist du auch, Klara! weit von mir gegangen;

Mein Herz bringt ewig deine Fernen nah.


In meiner tiefsten Seele stillen Tiefen

Steh'n deine Worte, rufen nach und nach

– Wie Glockentöne, die am Tage schliefen,

Vom Abend aufgeweckt, zur Vesper riefen –

Das Heiligste in meiner Brust mir wach.


Und diese Augen sollten wiedersehen,

Was nicht zu dir gehört, was du nicht bist?

Es sollten and're Töne mich umwehen?

Und deine liebe Stimme mir vergehen?

Giebt es solch' Aufersteh'n, was Grab nur ist?
[178]

Wer hörte dich und darf noch Unglück denken?

Noch an das Böse glauben und dich seh'n?

Dein liebend Auge könnte Sonnen lenken,

Und meinen Stern, den könntest du versenken

In ew'ger Trennung namenlose Wehn?


Es muß die Zeit hinab zur Zeit wohl gehen,

Doch meine Liebe nicht und nicht mein Schmerz;

Selbst dieser Schmerz darf nicht die Lieb' umstehen

Gewaltsam, rauh; er soll wie Frühlingswehen

Wachrufen, Blumen gleich, ein sehnend Herz.


Und wenn der Winter schlafen legt die Blumen alle,

Und Herz und Sehnsucht starrt in Grabesfrost,

Wenn todtgekühlt die Blumen, Herzen alle,

Dann seh' ich dich allein aus meiner Halle

Noch diamanten-strahlend hoch im Ost.


Bis dahin laßt an dieser lieben Stelle

Mich ruhen meines Lebens Augenblick.

Hier kam mein Tag, hier bleibt die Nacht mir helle;

O laßt mich ruh'n an dieser lieben Stelle!

Euch sey die ganze Welt mit ihrem Glück!!


Während des Lesens waren Gabrielen schon bei der Stelle:


»Es sollten and're Töne mich umwehen?

Und deine liebe Stimme mir vergehen?«
[179]

einzelne Thränen in die Augen getreten; sie ward im Fortfahren immer bewegter und bewegter. Bei den Worten:


»Hier kam mein Tag, hier bleibt die Nacht mir helle.«


versagte ihr die Stimme, und sie strebte vergebens, die beiden letzten Strophen des Liedes zu geben, dieses zu beenden. Erbleichend, verstummend stand sie endlich auf, bedeckte das Gesicht mit ihrem Tuche und eilte zum Zimmer hinaus, jede Begleitung durch eine bittende Bewegung der Hand von sich ablehnend.

Ottokar, der zunächst der Thüre sich befand, war dennoch unbemerkt bis in den Vorsaal ihr gefolgt, dann faßte er ihre Hand und führte sie zu einem Sitz im Fenster, während er die Bedienten fortschickte, um Annetten herbei zu rufen. Gabriele erbebte sichtbarlich, als sie ihn erkannte; ein Strom von Thränen schaffte ihrem gepreßten Herzen Luft, während er, den sorgenden Blick auf sie geheftet, vor ihr stand. »Fräulein,« sprach er, indem er noch immer ihre Hand hielt, »liebes Fräulein, Sie haben uns allen einen so hohen Genuß gewährt, wir alle müssen ihnen so dankbar[180] dafür seyn; was ist es denn, das jetzt Sie so gewaltsam niederdrückt? Zürnen Sie mir nicht,« fuhr er fort, da es ihm schien, als wolle Gabriele sich von ihm loswinden, »zürnen Sie mir nicht, daß ich Ihrem Winke nicht gehorchte und Ihnen hierher folgte; daß ich die Besorgniß, mit der ich Ihren schwankenden Schritt bemerkte, nicht unterdrückte. Als ihr Hausgenosse glaubte ich dieß wagen zu dürfen, und vielleicht, hoffentlich sogar, geben mir die nächsten Tage, vielleicht der morgende schon, das schöne Vorrecht, an allem, was Sie betrifft, recht innigen Antheil zu nehmen.«

Gabriele horchte bebend auf seine Worte, sie war unfähig, ihm zu antworten, und fühlte sich zum erstenmal in ihrem Leben einer Ohnmacht nah. Ottokar konnte nichts, als sie unterstützen, bis die erschrockne Annette kam und sie in ihr Zimmer geleitete.


Die Nacht verging Gabrielen unter lautem Herzklopfen, unter tausend wechselnden Ahnungen,[181] Gedanken, halb verstandnen Wünschen. Jedes Wort, das Ottokar am vergangnen Abend zu ihr gesprochen hatte, tönte unaufhörlich in ihrem Innern wieder, jedes war ihr ein Räthsel, dessen Lösung sie mit Entzücken und Grauen suchte und nicht fand, bis sie ermattet spät gegen den Morgen in unerquickliche Bewußtlosigkeit versank.

Ihr Erwachen zu einer ungewöhnlich späten Stunde glich ganz dem ersten im Hause ihrer Tante. So wie an jenem Morgen, durchtoseten auch heute Bediente und Handwerker das Haus mit Zurüstungen zu einem Feste. Weder Aurelia, noch die Gräfin waren den ganzen Morgen über sichtbar, selbst die Bedienten thaten geheimnißvoll, wenn sie einander auf der Treppe begegneten. Gabriele saß in ängstlicher Spannung; unfähig zu jeder sonst gewohnten Beschäftigung, lauschte sie auf jeden Fußtritt, auf jedes Knarren der Thüren in zitternder Unruhe. Sie ahnete das Herannahen einer für ihr ganzes Leben entscheidenden Stunde, sie ahnete einen Zusammenhang zwischen dieser Stunde und dem, was Ottokar am gestrigen Abende zu ihr gesprochen hatte, ohne[182] doch begreifen zu können, wie dieses möglicher Weise seyn könne. Gegen Mittag ließ die Gräfin ihr sagen, daß sie und Aurelia allein in ihrem Zimmer speisen würden, zugleich schickte sie ihr einen sehr glänzenden Anzug für den Abend. Alles dieses so ganz Ungewohnte vermehrte Gabrielens peinliche Unruhe, sie begann weit früher, als sonst, sich anzukleiden, und zählte hernach jeden Pendelschlag ihrer Uhr.

Endlich strahlten die Kronleuchter, Equipagen rollten herbei, und schon durchrauschten die Tritte vieler herannahenden Gäste Treppe und Vorsaal, ehe Gabriele sich wirklich entschließen konnte, den Versammlungs-Saal zu betreten, und eine immer steigende Angst hemmte jeden ihrer Schritte. Unter lautem Herzklopfen blieb sie unfern der Thüre stehen; wie durch einen dichten Flor zeigte sich ihr die ganze glänzende Versammlung, welche längs den Wänden des Zimmers einen weiten Kreis bildete. Alle nahe und entferntere Verwandte der Gräfin, alle ihre vornehmsten Bekannten waren gegenwärtig, nur Frau von Willnangen fehlte, weil eine plötzliche Unpäßlichkeit Augustens sie zu[183] Hause hielt, und weder Ernesto, noch irgend einer der Künstler und Gelehrten, welche sonst das Haus besuchten, waren zugegen. Am obersten Ende des Kreises stand die Gräfin, reich und festlich gekleidet, neben ihr Aurelia, im weiß und silbernen Kleide, diamantne Sterne im dunkeln, mit Perlen durchflochtnem Haar; ihr großes blaues Auge überschaute die ganze Gesellschaft, so wie etwa eine Königin ihren Hofstaat übersieht, ob niemand fehle, und als sie Gabrielen an der Thüre gewahrte, winkte sie sie zu sich heran. Uebrigens herrschte tiefe Stille in der Versammlung, man konnte das Picken der Uhren hören, so regungslos erwartend stand alles da. Da trat Ottokar in völliger Hofkleidung aus einem Seitenzimmer in der Nähe der Gräfin herein, zum erstenmal sah Gabriele ihn von einem breiten Ordensband umschlungen, und einen blitzenden Stern auf seiner Brust. Mit freundlichem Ernst, etwas bleicher, als sonst, näherte er sich der Gräfin, die seine und Aureliens Hand ergreifend, mit würdevollem Anstande beide einige Schritte vorwärts gegen die Mitte des Kreises führte, und Ottokarn als[184] Aureliens verlobten Bräutigam der Gesellschaft vorstellte.

Die Gräfin schien sich zu dieser Festlichkeit eine kleine Rede ausgesonnen zu haben, die sie, zwischen Ottokar und Aurelien stehend, mit dem Anstande der Fürstin von Messina an die Anwesenden richtete. »Der Wunsch ihrer Väter,« sagte sie unter andern, »der Wunsch ihrer Väter, wenn gleich nicht ihr unabänderlicher Wille, bestimmte dieses Paar schon seit Aureliens Geburt für einander, doch blieb dieses, meinem Willen gemäß, beiden ein Geheimniß, bis ich überzeugt seyn konnte, daß kein innres oder äußres Hinderniß sich ihrer Verbindung entgegenstelle. Die Gnade des Fürsten hat auch das letzte beseitigt, indem sie den Grafen in den Stand setzt, seiner Braut mit seiner Hand auch einen meinen Wünschen angemeßnen Rang in der Gesellschaft zu bieten; Ottokar erhielt heute seine Ernennung zum Gesandten in Rom, und Aurelia folgt ihm entzückt in das schöne Land, zu welchem schon längst sie, wie jeden Gebildeten, die Sehnsucht zog. Auch ich werde sie dorthin begleiten, und da Graf Ottokars[185] Bestimmung die schnellste Ausführung des längst Vorbereiteten fordert, so wird uns leider das schöne Fest des heutigen Tages durch den Schmerz des Abschiednehmens von so werthen Freunden getrübt. Schon morgen verlassen wir die Stadt, in wenig Tagen wird das hochzeitliche Band auf meinem Landgute ganz in der Stille geknüpft, und in weniger als einem Monat eilen wir Italien zu, wohin Pflicht, Liebe und Sehnsucht uns rufen. In Jahr und Tag hoffe ich indessen Sie alle hier wieder zu sehen, ich kehre dann mit der festen Ueberzeugung des Glücks meiner Kinder zurück und hoffe, in Erinnerung und Gegenwart mit meinen Freunden frohe Tage zu verleben. Auch meine Nichte, Gabriele von Aarheim, wird mich begleiten. Ich habe dich von deinem Vater dazu erbeten,« sprach sie, in ihrem natürlichen Ton, sich plötzlich zu Gabrielen wendend, »du sollst auch Italien sehen, freue dich recht, Kleine, und wünsche deiner Kusine und ihrem Bräutigam Glück,« setzte sie hinzu, indem sie ihr näher zu treten winkte.

Gabriele, welche schon früher auf Aureliens[186] ersten Wink sich genähert hatte, drängte sich jetzt mit wunderbarem Ungestüm durch die Versammlung, welche sich in dem Moment auch in Bewegung setzte, um Aurelien ebenfalls ihre Glückwünsche zu bringen. Gabriele wankte, als sie der Tante näher kam; im Begriff zu sinken, umfaßte sie unwillkürlich das Knie der Gräfin, um sich aufrecht zu halten. »Wunderliches Kind, wie stürmisch ist deine Freude! Hier, hier bringe deinen Glückwunsch an,« sprach lächelnd die Gräfin, indem sie sie umarmte und dann zu Aurelien und Ottokar wendete. »Glück! Glück!« rief Gabriele, athemlos und wie verwildert, sie konnte in augenscheinlicher Bewußtlosigkeit kein anderes Wort hervorbringen, als dieses eine, das sie mehreremale schnell wiederholte. Die Gräfin, welche auch in der höchsten Bewegung die feingezogne Linie des hergebracht Schicklichen nie aus den Augen verlor, wurde von dem Aufsehen beunruhigt, welches Gabrielens sonderbares Benehmen unter den Zunächststehenden schon zu erregen begann. Sie schob sie daher mit sanfter Gewalt der Thüre zu, durch welche Ottokar hereingetreten war. »Dorthin,[187] dorthin,« flüsterte sie ihr leise ins Ohr, »erhole dich erst von deiner ausgelaßnen Freude, und dann kehre wieder.«

Gabriele ging, der Weisung der Tante gehorsam; sie ging und ging, einen endlosen Weg, wie es ihr schien, die Kronleuchter drehten sich in einem wunderlichen Tanz um sie her, die Tapeten und Fußteppiche hoben und senkten sich, sie sah alles und erkannte nichts, bis sie am äußersten Ende der erleuchteten Reihe von Zimmern in einem nur von einer Dämmrungslampe erhellten Kabinet auf den Divan sank.


Ueber eine Stunde mochte wohl verflossen seyn, seit Gabriele sich von der Gesellschaft entfernte; im freudigen Tumult hatte weiter niemand an sie gedacht, selbst die Gräfin nicht, welche jetzt, nachdem die Gratulationen vorüber waren, alle Aufmerksamkeit darauf verwandte, die Spieltische zu Jedermanns Zufriedenheit zu ordnen. Aurelia[188] zog sich indessen mit ihren jüngern Freundinnen in ihr Zimmer zurück, Ottokars prächtige Brautgeschenke mit ihnen zu mustern und zu bewundern, und so entstand für diesen eine Pause in der geselligen Unterhaltung, die ihm in seiner jetzigen Stimmung höchst willkommen war. Er fühlte dringend das Bedürfniß einiger einsamen, ruhigen Minuten, um sich selbst wieder zu finden. Jede auffallende Abänderung des Gewohnten, und sey sie noch so erwünscht, führt ihre eignen Schauer mit sich, die uns mit unwillkommner Gewalt ergreifen, oft im Momente, wo wir es sogar als Pflicht fühlen, nur Freude äußern zu dürfen. Sogar das höchste Entzücken unverhofften Wiedersehens geliebter Freunde ist im ersten Augenblick ein Schmerz, wir müssen mit jedem Glück erst Bekanntschaft machen, ehe wir uns dessen recht erfreuen können, und wir erschrecken sogar vor unsern eignen Wünschen, wenn sie plötzlich in Erfüllung treten.

So ging es auch Ottokar. Ihn schauerte, als er sich nun wirklich an dem Wendepunkt seines Lebens sah, den er doch seit Monden zu[189] erreichen strebte. Oft hatte er den bittersten Unmuth empfunden über den langsamen Kabinetsgang, der seine Anstellung verzögerte, und jetzt schien ihm alles überraschend schnell gekommen zu seyn. Er konnte es sich nicht verhehlen, daß das leichte, luftige, freie Schmetterlingsleben durch den heutigen Tag beendet werde. Bande aller Art, ehrenvolle Thätigkeit, ernste Pflichten im häuslichen Leben erwarteten ihn, tausend Rücksichten mußten seinem bisherigen harmlosen Umherschweifen jetzt ein Ende machen, die Blüthenzeit seines Jugendlebens war dahin, und er vermochte es nicht, ohne Schmerz von ihr zu scheiden.

Leise hatte er sich, die hellerleuchteten Säle entlang, neben den eben besetzten Spieltischen durchgeschlichen, ohne daß jemand es bemerkte, außer der Gräfin, die auch heute, wie immer, ihm Freiheit ließ zu gehen und zu kommen. Er öffnete vorsichtig die Thüre des Kabinets, in welches Gabriele sich geflüchtet hatte, und fuhr fast wie vor einer Geistererscheinung zurück, da er sie beim Schein der schwach leuchtenden Alabasterlampe erblickte, wie sie sich bleich und langsam[190] bei seinem Eintritt vom Divan erhob und ihm ein paar Schritte entgegen trat.

»Sie sind es? Sie sind es wirklich, Ottokar?« redete sie ihn an. »Sie sind es wirklich? ich sehe Sie noch einmal und kann von Ihnen Abschied nehmen? ich darf einmal im Leben zu Ihnen noch sprechen, ehe ich auf immer scheide? Nun so ward doch ein heißer Wunsch im Leben mir gewährt!«

Ottokar erschrak vor dem zitternd bewegten Ton ihrer Stimme, vor der heftigen Spannung, in der augenscheinlich ihr ganzes Wesen sich befand. Er näherte sich ihr, indem er beschwichtigend ihre bebende Hand ergriff und sie wieder zum Divan zurückführte. »Sie reden vom Scheiden, vom Abschiednehmen?« sprach er, »liebe theure Gabriele, – mit dieser vertraulichen Benennung darf ich jetzt doch Sie anreden? – liebe, liebe Gabriele, an Scheiden, an Trennen ist nun gar nicht zu denken. Verstehen Sie jetzt meine Worte von gestern Abend?« fuhr er fort, indem er recht vertraulich sich neben sie setzte. »Giebt der heutige Tag mir nicht ein Recht, an allem,[191] was Sie betrifft, innigen, warmen Antheil zu nehmen?«

Gabriele schwieg, ihre Hand zitterte noch immer in der seinen, schwere Tropfen fielen einzeln aus ihren gesenkten Augen.

»Morgen gehen wir zusammen auf das Land,« fuhr Ottokar etwas verlegen fort, da es ihm gar nicht gelingen wollte, sie zur Gegenrede zu bringen. »Morgen auf das Land, und wenig Tage später durch den blühenden Frühling nach Italien. Wie wird diese liebliche weiße Rosenknospe in jenem schönen Garten hold erblühen!« sprach er, indem er sich zurückbeugte und Gabrielen mit Wohlgefallen betrachtete. Welche Freude wird es seyn, dort in der Heimath der Kunst alle die Anlagen, die Talente sich bis zur Vollkommenheit entfalten zu sehen, die Ihre zu große Bescheidenheit uns jetzt kaum errathen läßt. Wird es mir dort vielleicht gelingen, Ihr Zutrauen zu erwerben? ich ahne schon lange, daß Sie nicht glücklich sind, liebe Gabriele,« sprach er, ihre Hand fester fassend, »oft wenn Sie, von mir sich unbemerkt glaubend, am Tisch mir gegenüber saßen,[192] sah ich den Schmerz auf Ihren Lippen beben. Ich weiß es wohl, Ihnen fehlt das höchste Glück der Jugend, eine liebende Mutter, Geschwister. Nehmen Sie mich, liebe Gabriele, nehmen Sie mich zu ihrem Bruder an, jetzt, da ohnehin Verwandtschaftsbande uns vereinen werden; geben Sie mir ein Recht, mit liebender Sorgfalt um Sie geschäftig zu walten. In dem fremden Lande, wohin wir gehen, so schön es ist, werden wir doch unter uns unbekannten Menschen allein zusammen stehen, die vielleicht gar nicht zu uns passen; aber wir werden uns dafür auch desto fester an einander schließen und einander um so näher angehören, je isolirter wir sind. Darum adoptiren Sie mich zum Bruder, ehe die Noth Sie dazu treibt, gewiß, ich will ein recht guter Bruder seyn,« setzte er fast scherzend hinzu.

Er schwieg, ihre Antwort erwartend, während sie sichtbar nach Fassung, nach Athem rang; plötzlich richtete sie sich auf und legte auch ihre zweite Hand auf die seinige. Er blickte verwundert, voll Erwartung sie an.

»Ich danke Ihnen, Ottokar,« sprach sie, »ich[193] danke Ihnen herzlich; Sie wollen ein krankes Kind mit erfreulichen Bildern zur Ruhe einlullen, aber ich bin nicht krank, ich bin auch kein Kind, ich darf es ja nicht seyn, von jetzt an nicht mehr. Ach wäre ich es, und läge tief gebettet bei meiner Mutter!« rief sie schmerzlich, ermannte sich aber gleich wieder. »Sie zeigen mir eine entzückend schöne Aussicht in die Zukunft, Ottokar,« fuhr sie fort. »Noch gestern hätte der Gedanke an die Möglichkeit derselben mir ein Traum vom Himmel gedünkt, aber in dieser Stunde fühle ich, daß ich selbst mir diesen Himmel verschließen muß. Ottokar, ich nehme hier an dieser Stelle, in dieser Stunde Abschied von Ihnen, ich kann nicht mit Ihnen gehen. Fragen Sie mich nicht: warum?« setzte sie mit bittender Stimme hinzu, »fragen Sie mich nicht: warum? Es ist mir selbst nicht deutlich, ich vermag nicht, es in klaren Worten vor mir selbst auszusprechen, aber eine Stimme in meinem Herzen ruft laut, daß wir uns hier trennen müssen, und ich darf ihr nicht widerstreben. Ich danke Gott, daß mir vor dem Scheiden der Augenblick wird, nach dem ich Monden[194] lang mich sehne, und auch Muth und Fassung ihn festzuhalten. So scheide ich doch nicht von Ihnen als eine ganz Unbekannte, so nehme ich doch das Bewußtseyn Ihrer Theilnahme an meinem Daseyn mit mir. Sie werden in dem schönen Lande, wohin Sie ziehen, der armen Gabriele nicht vergessen, die hier immer Ihrer gedenken wird, auch wenn mächtige Gewässer und himmelhohe Alpen zwischen uns liegen.«

In immer steigender Bewegung hörte und sah sie Ottokar, so lange sie sprach, immer fester hielt er ihre Hand, immer näher suchte sein Auge das ihre, während die zarte Gestalt, im Schmerz des Scheidens aufgelöst, das müde Haupt an seine Brust lehnte, und mit der arglosen Sicherheit eines Kindes verstummend, neben ihm saß. Ihm war, als schwände vor seinen Augen ein dichter Nebel, der ihn bis jetzt verhindert hatte, ein Juweel, nach welchem er lange überall vergebens suchte, dicht neben sich glänzen zu sehen. »Wie war es möglich,« rief er endlich, »daß Sie so lange fast unbemerkt neben mir standen? Ja ich ahnete Ihren höhern Werth, wann ich[195] Sie so jung, so allein, so schweigend, mitten im Wirrwar der ungeselligsten Geselligkeit stehen sah; welche unselige Verblendung, welche eitle Verknüpfung unbedeutender Zufälligkeiten hielt mich ab, Sie näher kennen zu lernen! und sollen wir jetzt, da wir uns eben fanden, den herben Schmerz des Scheidens muthwillig auf uns laden, mit dem das Geschick uns dennoch freundlich verschont? Nein, Gabriele, Sie irren, es muß nicht seyn, wir dürfen uns nicht trennen. Ich bin Ihr Bruder, Sie selbst mir die geliebteste Schwester, denn Sie können mich nicht verschmähen, und auch Aurelia wird der Gegenwart einer liebenden Freundin aus der Heimath in dem fremden Lande doppelt bedürfen.

»Aurelia!« rief beinahe schreiend Gabriele, und verhüllte einen Augenblick ihr Gesicht. Dann hob sie gefaßter die schönen, durch Thränen lächelnden Augen zu Ottokar auf.

»Nach dieser Stunde darf nichts halbes in unserm Verhältniß mehr bleiben,« sprach sie, »ganz verhüllt oder ganz erkannt muß ich von Ihnen scheiden. So bringe ich denn mein Herz Ihnen[196] offen dar und fürchte kein Mißverstehen. Seit ich zuerst Sie sah, Ottokar, sind Sie ein Theil meines Daseyns, Ihr Glück ist das meine! Sie legen jetzt Ihr Geschick in Aureliens Hände – du liebst Aurelien – o liebe sie recht innig, recht treu – treue, innige Liebe, alles, sich selbst sogar, opfernde Liebe, bringt uns den Himmel, wenn auch das Herz darüber bricht. – Auch Aurelia liebt Sie,« fuhr Gabriele nach einer kurzen Pause fort. »Sie liebt Sie, aber jeder Einzelne hat wohl seine eigne Liebe, ihre Weise ist nicht die meine, ich würde nie sie verstehen, so wenig wie sie mich jemals verstand. Darum muß ich fort, ich würde in ewiger unendlicher Sorge um dich in deiner Nähe vergehen, ich würde dich mit mir herabziehn zu meinen ängstlichen Zweifeln. Ach schon jetzt suche ich vergebens Worte, um auszusprechen, was doch so klar vor meiner Seele steht, meine Reden verwirren sich unwillkürlich, so würde ich auch in euer Leben nur Verworrenheit bringen. Darum muß ich zurück in meine Einsamkeit, meine Nähe wäre euch nur unheilbringend. Ich bedarf Ihrer Gegenwart nicht[197] zu meinem Glücke, Ottokar, Sie sind doch immer mit mir, und diese an Thränen und Freuden so reiche Stunde bleibt ewig der hellschimmernde Lichtpunkt meines Lebens, er kann nie verlöschen.«

»O Gabriele!« rief Ottokar, mit leuchtenden Augen und tiefbewegter Stimme, »Gabriele! warum schlug diese Stunde uns nicht früher! wie anders könnte alles seyn!« – »Sprich diesen Gedanken nicht aus, hüte dich, ihn nur auszudenken, rein und treu mußt du bleiben, wenn ich nicht im Schmerz um dich vergehen soll,« unterbrach ihn Gabriele, in heftiger Bewegung.

»Ich bleibe rein, ich bleibe treu,« erwiederte Ottokar, »aber noch bin ich nicht gebunden, noch hat die Kirche nicht« – »Ottokar! Ottokar! ich flehe zu dir!« rief Gabriele, in höchster Angst, mit gefaltnen Händen, indem sie vom Divan hinabgleitend fast zu seinen Füßen hinsank.

Ottokar faßte sie schnell in seinen Armen auf; beide saßen einige Minuten sprachlos mit hochpochenden Herzen, Hand in Hand neben einander. »So laß uns wenigstens in dieser entscheidenden[198] Stunde unsers Lebens nichts übereilen.« sprach er endlich mit mühsam errungner Fassung, »höre auch mich an, und dann entscheide du selbst, ich lege willenlos mein Geschick in deine Hände, du kannst kein Unrecht wollen, du reiner Engel des Himmels. Liebe war der süße Traum meiner Jugend, ich trat früh in die Welt, ich suchte sie, ich fand sie nicht, und so gab ich ihn als unerreichbar auf, den schönen Traum, und bereitete mich, mit freiem Herzen bei der Wahl einer Gemahlin dem Wunsch meines Vaters zu folgen. Fern vom Geräusch der Welt, lebt er in tiefer Einsamkeit. Mit der starren Anhänglichkeit des Alters, klammert er sich an die Vergangenheit, die er so gern wieder zurückbrächte, und der Gedanke, mich mit der Tochter seines Jugendfreundes verbunden zu sehen, war immer der einzige Plan für die Zukunft, den er fassen mochte Doch liebt er mich zu sehr, um das Opfer meiner Ruhe zu fordern. Sehen sollte ich sie, Monden lang in ihrer Nähe leben, ehe ich mich erklärte, nur eignes Wollen sollte mich binden, darum sandte er mich hierher. Ich sah sie, Gabriele![199] wen sollte diese hohe Schönheit nicht blenden? dieser heitre, immer spielende Geist, dieses Talent für alles, was das Leben verschönt? ich glaubte, sie zu lieben, ja ich liebte sie wirklich, wenn unaussprechliches Wohlgefallen an einem reizenden Wesen Liebe genannt werden kann. Wenn mich, wie oft geschah, etwas Befremdendes in ihrem Benehmen auf Augenblicke von ihr zurückscheuchte, wenn ein Ahnen, ein Sehnen höhern Empfindens mich beschlich, so gedachte ich meines guten alten Vaters und entfernte alles, was mir die Erfüllung seines Wunsches hätte erschweren können. So lebte ich Monate neben dem reizenden Mädchen. War auch sie vom Wunsch unsrer Väter unterrichtet? beobachtete auch sie mich im Stillen? ich wußte es nicht, auch galt es gleich. In jedem Fall war sie zu stolz, mich täuschen zu wollen, sie zeigte sich mir immer, wie sie ist, und achtete es nicht, wenn sie es auch bemerkte, daß sie mir deshalb nicht in jeder Stunde gleich liebenswerth erschien. Vor einigen Wochen brachte mein Vater, – Ach! auf mein Bitten, – das frühere Versprechen ihres Gatten bei der Gräfin[200] Rosenberg wieder in Anregung. Sie weigerte sich nicht, es zu erneuern, doch unter der Bedingung, daß ich nur dann gegen Aurelien mich erklären dürfe, wenn ich ihr zugleich den Rang, den Glanz bieten könne, der ihren Vorzügen gebühre. Bis dahin achtete die Gräfin weder ihre Tochter noch mich durch dieses Versprechen gebunden und verhehlte es auch nicht, daß mehrere Männer sich um die Hand derselben bewürben. Jetzt, Gabriele, jetzt da ich die Gefahr sah, Aurelien zu verlieren, jetzt erst fühlte ich mich mächtig zu ihr gezogen. Denn Eifersucht gleicht der Liebe, obgleich jene nicht immer diese begleitet, sie ist gar oft nur das Kind gekränkter Eitelkeit. Die von den ausgezeichnetsten Männern gefeierte Aurelia konnte mein werden, wenn ich sie zu fesseln verstand, dieß bannte mich an jeden ihrer Schritte, während ihr Leichtsinn, ihre auch mich nicht schonende Spottlust mich auf die Folter spannten. Endlich vor einigen Tagen kam mit der Gewißheit meiner Ernennung zu der Gesandten-Stelle auch der Tag meiner Erklärung gegen Aurelien. Kalt, gemüthlos, spottend beinahe,[201] gab sie mir das Versprechen, die meine zu werden, und alle Lust am Leben schwand mir in der Minute dahin. Ich fühlte mit Bewußtseyn, daß dieses kalte, über alles lachende, mit allem seinen Spott treibende Wesen nie lieben kann. Sie wird mir treu seyn, sie wird mich vielleicht freundlich behandeln, ich will es glauben; aber mehr darf ich nie von ihr hoffen, und alle die schönen Ahnungen häuslichen Glücks, denen ich doch nie ganz hoffnungslos entsagen konnte, sinken mir an ihrer Seite in das Reich der Unmöglichkeit. Mir zum Troste suchte ich mich zu bereden, daß, was ich wünsche, zu schön für dieses Werkeltagsleben, nur in andern Welten heimisch sey. Ich war gefaßt, eine gewöhnliche Konvenienz-Heirath einzugehen, und weder mehr noch minder glücklich zu seyn, als alle die Tausende um mich her, und nun, in der letzten Minute, da ich mit halber Freiheit noch athme, kommst du wie eine himmlische Erscheinung, du wunderbares Wesen, und zeigst mir ein Glück, das mir Verblendeten bis heute noch erreichbar war. Und wäre es denn wirklich zu spät? nein! mein guter[202] Engel sandte dich, ich habe dich gefunden, ich gehöre zu dir, und bin noch nicht ganz gefesselt. Gabriele, sprich nicht zu rasch unser Urtheil! ein Wink von dir, und meine Fesseln reißen, und« – »Ottokar! Ottokar!« rief Gabriele erbleichend und trat einige Schritte von ihm zurück – gefaßter näherte sie sich indessen ihm bald wieder. »Wie du mich erschreckst!« sprach sie, »wie du mich erschreckst mit einer mir so fremden Ansicht unserer Zukunft, daß ich es nicht fasse, wie sie dir kommen konnte, dir, dessen Gedanken ich sonst stets lange vorher wußte, ehe du sie aussprachst. Auch ist das, was du sagtest, nicht die wahre Meinung deines Herzens,« fuhr sie fort, »du kannst nicht wortbrüchig werden, weil kein Schwur dich bindet, du kannst deinem guten Vater nicht die nahe Erfüllung seines letzten Wunsches vorspiegeln und dann grausam ihn täuschen, du kannst nicht meiner Tante mit der Schmach ihrer Tochter heimtückisch dafür lohnen, daß sie ihr Haus zu dem deinen machte und dir vertraute. Ottokar, ich brauche nicht zu entscheiden, du selbst hast entschieden in der rechten Tiefe deines[203] Gemüths, du weißt es wohl, was geschehen muß,« setzte sie mit sanftem Weinen hinzu. »Aber ist es denn wirklich so? müssen wir scheiden auf ewig? und du, du Arme, was wird aus dir in den Wüsten des Lebens?« rief Ottokar. »Ich bin beglückt,« sprach Gabriele, kraftlos auf den Divan hinsinkend, »laß mir nur die Hoffnung, daß du streben willst, mit Aurelien glücklich zu seyn.« »Ich will es, Gabriele! ich will alles, was du willst. Guter Gott! wie soll ich es aber anfangen, dich zu vergessen?« erwiederte Ottokar. »Vergiß mich nicht!« bat Gabriele, »laß mich mit dir leben, wie du ewig mit mir leben wirst, vielleicht sehen wir einst uns hier noch wieder, nach langen, langen Jahren, dort finden wir uns gewiß; dorthin wende den Blick,« sprach sie mit aufgehobnen Händen, und sank sogleich wieder zurück.

»Und kein Andenken dieser Stunde gewährst du mir?« sprach Ottokar. »Du hast meine Zeichnung von Schloß Aarheim, betrachte die alten düstern Mauern, in denen ich von nun an leben werde, denke, daß dein Bild sie mir erhellt, und[204] nun lebe wohl, meine Kräfte reichen nicht weiter,« sprach Gabriele mit erlöschender Stimme.

Ottokar kniete vor ihr hin, mit heißen Thränen netzte er die Hände der jetzt beinahe ganz Bewußtlosen, als eine Tapetenthüre sich öffnete. Erschrocken fuhr er auf, es war Annette. Von einer unerklärlichen Angst getrieben, hatte sie das ganze Haus durchstreift, um ihre junge Gebieterin zu suchen, nachdem sie vergeblich sich in der Gesellschaft nach ihr umgesehen hatte. Angst leitete ihre Schritte, auch in das an die Gesellschaftssäle anstoßende Kabinet, und der Zustand, in welchem sie ihre geliebte Herrin dort fand, erschreckte sie so sehr, daß sie kaum Ottokars Gegenwart, noch weniger die an Verzweiflung grenzende Bewegung bemerkte, in welcher er sogleich nach ihrem Eintritt das Kabinet verließ. Es gelang ihm, auf der bis jetzt ihm unbekannt gebliebnen verborgnen Treppe, welche Annetten herbei geführt hatte, sein Zimmer zu erreichen, ohne daß ihn jemand bemerkte. Eben erhaltne Briefe von höchster Wichtigkeit mußten für diesen Abend sein Nichtwiedererscheinen bei der Gesellschaft[205] entschuldigen, während Gabriele, sanft und schweigend, sich von Annetten in ihr Zimmer führen ließ. Der starre Blick, das wunderliche Lächeln, das ununterbrochne Schweigen Gabrielens trieben die arme Annette, unerachtet der dunkeln Nacht, auf die Straße hinaus, um Frau von Willnangen zu Hülfe zu rufen, denn im Hause war alles zu beschäftigt, um auf ihr Bitten zu hören, und glücklicher Weise Augustens Uebelbefinden zu unbedeutend, als daß es Gabrielens mütterliche Freundin hätte abhalten sollen, dem Kinde ihres Herzens zu Hülfe zu eilen.


Schon am zweiten Tage nach diesen Ereignissen war alles Leben aus dem sonst so geräuschvollen Hause der Gräfin Rosenberg gewichen. Nur in Gabrielens Zimmer waltete und flüsterte bange Sorge am Bette der zum Tode Erkrankten. Durch die übrigen verödeten Gemächer schlichen nur noch ein paar halb invalider Diener,[206] um die Vorhänge an den Fenstern herabzulassen und das kostbare Hausgeräthe gegen den Staub sorgfältig zu bewahren. Bald war auch dieses gethan, und die ehemals glänzende Wohnung gewann nach und nach ganz das Ansehen jener verlaßnen Schlösser, die man auf Reisen so oft besehen muß, die wie verzauberte Palläste in einem Feenmährchen dastehen, und einen unbeschreiblich traurigen Eindruck machen, weil sie mit allem versehen sind, dessen das üppigste Leben nur bedarf, ohne daß eine fröhliche lebende Seele zwischen den reichgeschmückten Wänden athmet.

Kaum hatte die Gräfin am Morgen der Verlobung ihrer Tochter die Nachricht von Gabrielens plötzlichem Erkranken vernommen, so ahnete sie mit der ihr in solchen Fällen gewöhnlichen Lebhaftigkeit ein bösartiges Nervenfieber in dieser Krankheit. Der Arzt wagte es nicht, sogleich für oder wider ihre Muthmaaßung zu entscheiden, Frau von Willnangen hingegen wünschte, die Pflege ihrer jungen Freundin ganz ungehindert übernehmen zu können, und bemühte sich daher nicht sonderlich, der Gräfin die Furcht vor einer möglichen[207] Gefahr der Ansteckung auszureden. Halb todt vor Angst, konnte diese von dem Momente an keinen andern Gedanken fassen, als wie die Stunde ihrer Abreise auf das Land möglichst zu beschleunigen wäre. Alles dazu Nöthige war ohnehin schon lange vorbereitet, und es gelang ihr deshalb ohne zu große Anstrengung, sich noch im Laufe des Vormittags, begleitet von Ottokar, Aurelien, und Eugenien, auf dem Wege nach ihrem Landgute Rosenhain zu sehen.

Frauen, wie die Gräfin, pflegen aus angebornem Instinkt genau zu wissen, was sie zu verhehlen, was sie bekannt zu machen haben. Dieses Gefühl leitete sie daher auch diesesmal ganz richtig, indem es sie bestimmte, der Krankheit ihrer Nichte gegen Ottokar nicht zu erwähnen. Nichts in der Welt hätte diesen dazu bringen können, seine Braut und ihre Mutter zu begleiten, wenn er nur eine Ahnung von der Todesgefahr gehabt hätte, in welcher die ihm eben so schnell Verlorne als Gefundne im Augenblick seiner Abreise schwebte. Indem er seinen Reisewagen bestieg, dachte er nur an sie und die[208] unausweichbare Trennung von ihr. Selbst in dem Unwahrscheinlichen des Vorwandes, mit welchem die Gräfin das Zuhausebleiben ihrer Nichte gegen ihn zu beschönigen suchte, wähnte er Gabrielen selbst zu erkennen. In der ungeschickten Art, mit welcher man ihn täuschen wollte, sah er nur ihre reine, jeder Unwahrheit widerstrebende Natur, er ergab sich und schien alles zu glauben, was man ihn glauben machen wollte, weil er dadurch ihrem Willen gemäß zu handeln sich bewußt war.

Aurelia würde vielleicht gar nicht nach Gabrielen gefragt haben, wenn sie nicht zu ihrer großen Freude bemerkt hätte, daß ein Windspiel, welches sie seit zwei Tagen leidenschaftlich liebte, weit bequemern Platz auf dem Rücksitz des Wagens fand, als sie gehofft hatte. Mit halbem Ohr hörte sie auf die Ursachen, die wegen Gabrielens Zurückbleiben angegeben wurden, und hatte diese, wie ihre Kusine selbst, längst vergessen, ehe sie noch über die Vorstadt hinaus war.
[209]

Mehrere lange Tage und längere Nächte lag Gabriele ruhig da, im dumpfen bewußtlosen Schlummer, wenn nicht fieberhafte Träume ihre innre Welt aufregten und mit verworrenen wechselnden Bildern vor ihrem Geiste spielten. Frau von Willnangen hatte diese ganze Zeit über an dem Bette der geliebten Kranken in banger Besorgniß gewacht und gebetet; nur wenn die höchste Erschöpfung aller ihrer Kräfte es gebot, wagte sie es, sich einem kurzen unruhigen Schlummer zu überlassen. Auguste und die treue Annette traten dann mit verdoppelter Sorgfalt an ihren Platz vor dem Krankenbette, von welchem sie ohnehin fast nie sich entfernten.

Dankbar, wenn gleich tiefbetrübt, erkannte es Frau von Willnangen, als eine besonders gütige Fügung der ewigen Vorsicht, daß lauter freundliche Gestalten das kranke Haupt der oft sanft Lächelnden umschwebten, daß keine Schreckensträume dem Sterbekissen ihrer geliebten Gabriele nahen durften, und die vielleicht nicht entfernte Stunde ihres Scheidens mild und ruhig, wie ihr ganzes übriges Leben, vorüber zu gehen[210] versprach. Sie belauschte mit der angespanntesten Aufmerksamkeit alle Bilder, welche Gabrielens exaltirte Fantasie dieser vorüberführte, sie horchte auf jedes verständliche Wort von den in wilder Fieberhitze glühenden Lippen. Bald führte diese innige vertraute Gespräche mit der ihr nun zum Schutzgeist gewordnen verklärten Mutter, bald dünkte es ihr, als sey sie wieder ein fröhliches Kind im Schloß Aarheim, spiele mit freundlichen Engeln in ihrem eignen Gärtchen, unter hohen wunderschönen Blumen. Oft sagte sie ganze Stellen aus Schillers Wallenstein her, besonders aus der Abschieds-Scene zwischen Max und Thekla. Dann sah sie Ottokar, wie von einer langen Reise heimkehrend, und nannte ihn Max und eilte ihm freudig entgegen.

Unter diesen Zuständen war endlich die bange, über Tod und Leben entscheidende Nacht herangekommen. Ernst und schweigend saß der Arzt am Haupte des Bettes, auf welchem Gabriele glühend, in schwerem Schlummer und völlig bewußtlos lag. Neben ihm horchte Frau von Willnangen auf jeden Athemzug der Kranken, und[211] erbleichte vor Entsetzen, wenn die Pulse schneller auf einander folgten, oder zuweilen gänzlich auszubleiben schienen. Die arme Annette lag auf dem Fußboden neben dem Bette, und betete in höchster Angst ganz leise vor sich hin; sie war fest überzeugt, daß auch sie mit ihrem Fräulein aus Jammer über dasselbe sterben müsse. Ernesto und Auguste saßen schweigend neben einander auf dem Sopha, sie zählten jede Sekunde an dem Picken der Uhr, und wagten es nicht, einander anzublicken, um nicht eines in des andern Gesichte die starren Züge innrer steigender Hoffnungslosigkeit zu gewahren.

Jetzt schlug die erste Stunde nach Mitternacht. Der Arzt beugte sich mit forschendem Blick über Gabrielen hin, weil er einer fast unmerklichen Aenderung in ihrem Athmen gewahr ward. Annette richtete sich im nehmlichen Moment auf ihren Knieen von der Erde auf, und blickte starr nach dem Fenster. »Dort fliegt er hin, dort fliegt er hin,« flüsterte sie so innerlich leise, daß sie kaum die Lippen dabei regte, und zupfte Frau von Willnangen am Kleide, und zeigte dabei auf[212] das Fenster. »Sie ist gerettet,« sprach sie darauf in fast unhörbarem Tone zu ihr, die im bängsten Erwarten kaum noch athmete. »Sehen Sie dort?« setzte sie hinzu, immer auf das Fenster zeigend, »dort hoch über dem Thurme? den kleinen weißen Wolken am Monde vorüber? Ach Gott, dort senkt er sich wieder!« rief sie einen Augenblick später und verhüllte schluchzend ihr Gesicht.

Eine bange ängstliche Stille herrschte jetzt um Gabrielen, man hörte das Summen der Fliegen im Nebenzimmer, den Schwung der Flügel eines Nachtschmetterlings, der um die Lampe flatterte. Da schlug Gabriele plötzlich groß und hell die Augen auf. »Sind sie schon so früh da? liebe mütterliche Frau?« sprach sie zur Frau von Willnangen, die sie zum erstenmal, seit sie krank ward, wieder erkannte. »Ich habe wohl lange geschlafen, und bin doch noch müde,« setzte sie hinzu. Ein mattes Lächeln glitt über ihr Gesicht, von neuem schlief sie ein, aber die krampfhafte Anspannung in ihren Zügen, die Fieberröthe auf ihren Wangen waren verschwunden; sie lag bleich[213] und schön, gleich einem Marmorbilde jetzt da, und athmete zwar matt aber ruhig. Noch ehe die Sonne aufging, wagte es der Arzt, für die Erhaltung ihres Lebens zu bürgen, wenn man seinen Vorschriften pünktlich Folge zu leisten verspräche.

Ein Arzt, der solch ein Wort mit fester Zuversicht aussprechen darf, wenn von der Rettung eines heiß geliebten Wesens die Rede ist, steht in dem Momente wie ein göttergleiches Wesen vor uns da. Auch bedarf es wohl solcher Augenblicke, um ihn für die vielen bittern Stunden zu trösten, in welchen er die Ohnmacht alles menschlichen Wissens anerkennen muß, und die dennoch von seinem wohlthätigen hohen Beruf sich nicht trennen lassen. Ernesto und Frau von Willnangen, Auguste und Annette, alle drängten sich im freudigsten Tumult um den Retter Gabrielens, alle wußten ihrem Dank, ihrem Entzücken keine Worte zu geben. Es war, als habe er jedem von ihnen neues Leben geschenkt, indem er jene tröstenden Worte aussprach: Ihr unaussprechliches Glück kennt nur, wer in einem einzigen[214] entzückenden Momente den unausweichlich geglaubten Verlust eines über alles geliebten Wesens von sich abgewendet sah.« »Ach! wenn ich nur dieß einemal nicht träume,« rief zwischendurch Annette; »aber es ist doch gewiß wahr, ich sah ihn fortfliegen, gewiß ich sah es,« setzte sie dann ganz leise vor sich hinzu, gleichsam um sich selbst zu beruhigen. »Was sahst du denn fortfliegen? Annettchen,« fragte Ernesto, aber sie erwiederte ihm, »daß es in dieser Stunde noch nicht gut sey, davon zu sprechen. Er ist noch nicht weit,« setzte sie, betrübt und vorsichtig um sich her blickend, hinzu, »ich sah ihn auf das Haus der Frau von Felsberg sich senken, deren Kinder so krank sind.« Und damit nahm sie wieder ihren Platz auf der Erde neben dem Bette ein, legte das Gesicht auf Gabrielens Decke, und wandte kein Auge mehr von ihr ab.

Viele Tage vergingen, ehe Gabriele ihren Freunden anders, als mit unaussprechlich freundlichen Blicken, ihre liebevolle Pflege verdanken konnte, Wochen schwanden hin, ehe sie es vermochte,[215] sich nur wenige Stunden ausser dem Bette zu halten.

In den Armen der Liebe von einer schweren Krankheit zu genesen, ist eine unbeschreiblich rührende, heilige Freude, die für alle erlittene Schmerzen reichlich Entschädigung beut. Das Gefühl des neu erwachenden Lebens verschönt alle Gegenwart, und jeder alte Schmerz wird wenigstens fürs erste zurückgeschoben, daß wir nicht gleich seiner gedenken. Wir selbst sind liebender, als im gewöhnlichen Gange des Lebens, und auch von unsern Freunden mehr geliebt. Die nahe Gefahr des Verlustes, der furchtbare Gedanke des Scheidens für das ganze irdische Daseyn hat uns ihnen theurer gemacht; ihnen ist zu Muthe, als hätten sie zuvor unsern Werth nicht genugsam anerkannt, als hätten sie deshalb ein Unrecht gegen uns gut zu machen, und müßten sich dankbar dafür erweisen, daß wir noch länger unter ihnen weilen wollen. Wir hingegen, mit Sinnen, in der Einsamkeit des Krankenzimmers neugestärkt, wir wissen nicht, wie wir genugsam ihrer großen Liebe uns erkenntlich beweisen sollen,[216] und jeder kleine Dienst, den sie in unsrer Schwäche uns leisten, hat, als Zeuge ihrer treusten Anhänglichkeit, für uns unschätzbaren Werth.

Und so war es auch mit Gabrielen. Sie fühlte sich durch die liebevolle Pflege ihrer Freunde höchst beglückt, und die Ereignisse, welche sie auf das Krankenlager geworfen hatten, waren in der ersten Zeit ihres Genesens fast spurlos aus ihrem Gemüthe verlöscht. Nur mit der allmähligen Erneuerung ihrer Kräfte regte sich eben so allmählig der alte Schmerz wieder auf, und verflocht sich in den Gang ihres Lebens, jemehr sich dieses der Außenwelt wieder zuwendete.

Allmählig war es jetzt völlig Frühling geworden. Draußen im Garten schwärmten die Vögelchen schon gar lustig, zwischen röthlichen Blüthen ihren kleinen Haushalt beschickend, und die Sonne schien warm und lockend durch die immer blühenden Rosen auf Gabrielens Fenster. Auch Ottokars Pflanzen trieben wieder Knospen, und Gabriele stand oft vor ihnen, versunken in stilles Nachdenken, aus welchem nur die angestrengtesten[217] Bemühungen ihrer Freunde sie zu ziehen vermochten.

Eines Morgens hatte sie bis zur Erschöpfung ihrer wenigen Kräfte bei ihnen verweilt, und sank darauf in den tiefen Schlummer der Ermattung. Ernesto mit Augusten, welche eben zugegen waren, zogen sich in das Nebenzimmer zurück, um sie nicht durch ihre Gegenwart im Schlafe zu stören. Auch Annette mußte mit, denn das treue Kind war durch ihre große Liebe zu Gabrielen allen werth geworden, und wurde mehr wie ein zur Familie gehörendes Mitglied derselben, als wie eine um Lohn dienende Kammerjungfer betrachtet.

»Jetzt ist es heller lichter Tag, und für dein Fräulein ist Gottlob alle Gefahr verschwunden,« sing Ernesto an, »jetzt sage uns, liebe Annette! was sahst du fliegen in jener ängstlichen und frohen Nacht, die wir mit dem Arzte durchwachten?« Feuerroth warf Annette einen ängstlichen Blick auf das Fenster und flüsterte dann schnell und leise: »Wen anders als den Todesengel.«

»Den Todesengel?« erwiederte Ernesto lächelnd;[218] »den sahst du fliegen? und wie sah er denn aus, dieser Schreckensengel?«

»Ach schrecklich genug,« antwortete Annette, »mir graust es noch, wenn ich daran denke, wie er aussah, und doch war er so sehr schön, wie ich noch nichts gesehen habe, kein Mensch auf Erden kann so aussehen. Er ist kein Kind, wie die andern Engel, die in der Kirche und in der gnädigen Gräfin ihrem Zimmer abgemalt sind. Er sah aus wie eine sehr schöne Frau, die pechschwarzen Locken hingen ihm zu beiden Seiten des todtenbleichen Gesichts lang herab. Dabei sah er recht gräßlich, recht grausam ernsthaft aus und über alle maßen traurig und herzlich betrübt, und doch war es auch, als ob er mitleidig wäre und sich recht gerne tröstlich bezeugen wolle. So flog er mit den breiten dunkeln Flügeln über das Bette meines Fräuleins, bald in weiten Kreisen rings darum her, bald zwischen den Vorhängen unter dem Betthimmel durch. Ich wollte immer die Vorhänge zuziehen, aber dann dachte ich, er kömmt doch wohl hindurch, und ich sähe nicht, wie er sie[219] zu Tode küsse, denn im Kusse hätte er ihre Seele genommen, das weiß ich gewiß.«

»Liebe Annette! mir schaudert jetzt am hellen Tage bei deiner Erzählung, unmöglich kannst du das gesehen haben, du mußtest ja vor Angst und Schrecken bei dem Anblicke von Sinnen kommen,« wandte Auguste ein.

»Ich wäre auch gewiß dabei von Sinnen gekommen,« erwiederte Annette, »wenn nicht die weit größre Angst um mein Fräulein mich aufrecht erhalten hätte. Er flog ihr immer näher und näher, zuletzt schwebte er so dicht über sie hin, daß ich jeden Augenblick dachte: jetzt wird er sie küssen, und dann ist sie todt. Ich lag auf der Erde neben ihr, und rückte recht mit Bedacht mein Gesicht dicht neben ihrem Gesicht, und dachte immer daran, wie ich es so machen könne, daß er mich an der Stelle meines Fräuleins küssen solle, oder doch wenigstens mit ihr zu gleich. Herr Gott! ich begreife gar nicht, wie Sie alle ihn nur nicht gesehen haben, wie Sie alle nur nicht das ängstliche Schwirren in der Luft hörten, wenn[220] er so über meinem armen Fräulein hin und her flog.«

»Und wo blieb er denn zuletzt, wo flog er hin?« fragte Ernesto. »Er flog durch das Fenster hinaus,« war die Antwort, »wie er durch die Scheiben kam, kann ich nicht beschreiben, er drang hindurch wie der Mondschein, und schwebte noch lange von außen um die Fenster her. Endlich, Gottlob! endlich flog er ganz fort! Hoch durch die Luft, dicht neben dem Monde hin, ich sah es recht deutlich, wie die dunkeln Flügel durch die weißen Wolken neben dem Monde, wie durch einen Silberflor hindurch schimmerten. Auf einmal senkte er sich nieder; mir stand das Herz still vor Angst; aber er flog weiter und ließ sich zuletzt auf dem Hause der Frau von Felsberg herab. Sehen sie wohl dort das grüne Thürmchen mit dem weißen Balkon rings herum? man sieht es fast in der ganzen Stadt. Das Thürmchen steht oben auf dem Hause der Frau von Felsberg. Ach Gott! und ihre lieben kranken Kinderchen sind auch beide in derselben Nacht gestorben. Ich habe schon so viel um sie geweint,«[221] setzte Annette schluchzend hinzu, indem die hellen Thränen ihr über die Wangen liefen.

Eine lange Pause entstand, Auguste vermochte es nicht vor Grausen ein Wort aufzubringen, und auch Ernesto fühlte von der treuherzigen Erzählung der jungen Engelseherin sich befangner, als ihm lieb zu seyn schien. Endlich wollte er einiges über die ängstliche Wallung sagen, in der sie sich alle während jener Nacht befunden, dann sprach er davon, daß Annette aufgeregter und überwachter seyn mußte, als jeder von ihnen, weil sie allein, vom Anfange der Krankheit Gabrielens an, bis zu jenem entscheidenden Moment, sich keine Stunde ruhigen Schlummers gewährt hatte. Auch versuchte er, von den wunderlichen Bildern zu sprechen, die unsre Fantasie uns schon auf nächtlichen Reisen oft vorspiegelt, besonders, wenn wir mehrere Nächte hindurch fahren, ohne auszuruhen, aber die Worte standen ihm nicht so zu Gebote wie wohl sonst. »Am besten ist es,« sagte er endlich, »wir danken Gott, daß der Furchtbare dießmal vorüberzog; sey es auf welche Weise es sey, sichtbar oder unsichtbar, grübeln[222] wir weiter nicht darüber, und hüten wir uns, davon zu sprechen, denn solche Gespräche taugen überall nichts. Vor allen Dingen aber wünsche ich, daß unsre Kranke nie etwas von dieser Erscheinung erfahre.«


So wie sich Gabriele stark genug dazu fühlte, trug man Sorge, sie aus ihrer verödeten Wohnung hinweg, in das Haus der Frau von Willnangen zu bringen, wo sie ihre völlige Genesung bequemer abwarten konnte. Ottokars Name war seit seiner Abreise noch von keinem von ihnen genannt worden, und Frau von Willnangen sah nicht ohne Besorgniß dem Augenblick entgegen, wo dieses zum erstenmal geschehen würde. Bei aller Ueberzeugung, daß Gabrielens Krankheit mit der unerwarteten Erklärung der nahen Vermählung Ottokars Zusammenhang habe, war sie doch weit entfernt, nur eine Silbe von der wunderbaren Zusammenkunft zu ahnen, welche an jenem[223] Abend zwischen beiden statt gefunden hatte. Sie wußte daher gar nicht, wie sie sich über Ottokar zu äußern habe, um Gabrielen nicht weh zu thun. Sie war uneins mit sich selbst, wie jeder, der es sich nicht verhehlen kann, daß er von der rechten Bahn abwich, und nun gern wieder gut machen möchte, was er sich gestehen muß verdorben zu haben, wenn es auch in der besten Absicht geschah. Die Verblendung, in welcher sie Gabrielens Neigung stets mehr entflammt hatte, statt sie zu mäßigen, war ihr jetzt unerklärlich. Sie begriff es nicht, wie ihre im Laufe eines langen Lebens erworbne Welterfahrenheit sie diesesmal so irre gehen ließ, aber eben so wenig begriff sie noch immer, wie Ottokar Aurelien wählen konnte, da Gabriele neben dieser stand. »Habe ich gefehlt,« sagte sie sich endlich selbst zum Trost, »so stürzte die herzlichste Liebe zu dem liebenswürdigen Kinde mich in den Irrthum; mag denn diese Liebe, so lang ich lebe, auch streben, wie der gut zu machen, was sie übel gemacht hat.«

Gabrielens Kräfte nahmen unter der treuen Pflege ihrer Freunde beinahe mit jedem Tage[224] sichtbar zu. Ihre Jugend, ihr stilles, von jedem innren Vorwurf freies Gemüth, und auch des Frühlings allbelebende Kraft waren des Arztes mächtige Gehülfen. Es hatte fast den Anschein, als ob ihre physische Natur dieses heftigen Stoßes bedurft habe, um zur völligen Entwickelung zu gelangen, so auffallend war die Veränderung, welche jetzt in ihrem Aeußern vorging, und sie fast bis zum Unkenntlichwerden verschönte. Das kindlich runde Gesichtchen gewann jetzt den hohen, edlen Ausdruck vollendeter Jungfräulichkeit, ohne dadurch an jugendlichem Reize zu verlieren; ihre mit jedem Tage höher erscheinende Gestalt entwickelte sich zu der edelsten Form, und ihrem ganzen Wesen fehlte nur noch der Glanz blühender Jugendfrische, um aller Augen zu entzücken.

Mit Gabrielens wiederkehrender Gesundheit nahm aber auch der schweigende kalte Ernst zu, mit welchem sie jetzt alles um sich her zu betrachten schien. Eine nachdenkliche, untheilnehmende Stille in ihrem ganzen Benehmen beängstigte Frau von Willnangen weit mehr, als wenn sie sie traurig gesehen hätte. Ihr verging dabei[225] völlig der Muth, endlich eine Erklärung des Vergangnen herbeizuführen, deren Nothwendigkeit sie anerkannte, obgleich sie vor den möglichen Folgen derselben zitterte. Sie wußte ja nicht, welche Art von Schmerzen sich mit dieser in dem armen getäuschten Herzen ihres Lieblings wieder aufs neue, vielleicht zerstörend regen würden. Vom ersten Moment der Krankheit an hatte sie ihren Pflegling vor allen fremden Besuchen gehütet, nicht allein aus Rücksicht auf ärztliche Vorschrift, sondern auch weil sie es gern vermeiden wollte, Ottokars gefürchteten Namen vor unberufnen Zeugen zum erstenmal in Gabrielens Gegenwart nennen zu hören. Im Anfange ward ihr dieses nicht schwer gemacht. Die übereilte, einer Flucht ähnliche Abreise der Gräfin Rosenberg hatte das Gerücht von der in ihrem Hause obwaltenden Gefahr der Ansteckung bis zum Ungeheuern vergrößert. Sogar ihre genausten Bekannten hüteten sich, ihm vorüber zu gehen, und wählten lieber Umwege, um nur nicht die verrufne Straße zu betreten. Doch mit der Zeit verschwand auch diese Furcht, und da Gabriele späterhin im Hause[226] der Frau von Willnangen sich befand, so drängte sich bald die gewöhnliche Schaar von Besuchenden herbei, welche jedes Krankenzimmer für einen erwünschten Vereinigungspunkt anzusehen pflegt. Keiner von diesen gelangte indessen bis zu Gabrielen; Auguste machte in einem Nebenzimmer die Honneurs, und entschuldigte ihre Freundin mit dem, ausdrücklich gegen Annahme aller Besuche gerichteten Verbote des Arztes. Man ließ diese Entschuldigung um so lieber gelten, ohne etwas dagegen einzuwenden, da sich eigentlich niemand für das Leben oder Sterben des jungen Mädchens wirklich interessirte, das bis jetzt eine so wenig bedeutende Rolle in der Gesellschaft gespielt hatte.


Nach vielen, in ihrem Krankenzimmer still verlebten Wochen wagte es Gabriele endlich, zum erstenmal ihre Freundinnen an einem warmen Frühlingsmorgen im eignen Wohnzimmer zu überraschen.[227] Freudig erschrocken fuhren beide vom Sopha auf, als sie die schöne Gestalt am Arme Annettens hereinschweben sahen. Frau von Willnangen hätte sie kaum erkannt, so verändert stand Gabriele jetzt, zum erstenmal außer dem Halbdunkel des Krankenzimmers, im hellsten Strahl der Morgensonne vor ihr da. Das schöne Gesicht mit den blaßrothen Wangen sah wunderlieblich aus dem feinen Spitzenhäubchen hervor, unter welchem die lichthellen Locken sich einzeln um die blüthenweiße Stirn hervordrängten. Die dunkeln Augen strahlten in erneutem Jugendglanz, und das in den wenigen Wochen merklich zu kurz gewordne blendend weiße Morgenkleid zeigte die allerzierlichsten Füßchen. »Mein Kind, mein liebliches, schönes Kind!« rief Frau von Willnangen, hingerissen von der himmlischen Erscheinung, und drückte unter freudigen Thränen sie an ihre Brust, während Auguste sie zum Sopha hinzog, und beide hernach in der Freude ihres Herzens tausend einander widersprechende Anstalten trafen, um es dem lieben Gast nur recht wohl und bequem zu machen. Endlich saßen sie in traulicher[228] Gemüthlichkeit neben einander, als plötzlich die Thüre aufging, und Gräfin Eugenia mit dem ältesten Fräulein Silberhain unangemeldet hereintraten.

»Nun da sieht man die liebe Kranke doch wieder! Und wie groß geworden! wie schön! man möchte bald verleitet werden, sich ein Fieber von solchen Folgen zu wünschen. Sie sehen ja in der That aus, als könnten sie uns die neueste Kunde aus dem Lande der Seeligen bringen,« rief Gräfin Eugenia, indem sie die zu ihrem Empfange aufgestandne Gabriele umarmte.

»Auch war meine Gabriele der Himmelsthüre nahe genug. Ein Glück für uns, daß sie bei Zeiten wieder umkehrte, um noch bei uns zu weilen,« erwiederte lächelnd Auguste.

»Achten Sie es wirklich für ein Glück wenn der Engel zum Fluge in die ewige Heimath schon die Flügel entfaltet hat, und dann, aufs neue gefesselt von irdischen Banden, sie wieder zusammen legen muß?« fragte Fräulein Silberhain; »ach! wir wissen vielleicht nicht, welch ein Unrecht wir thun,« fuhr sie fort, »wenn wir uns der[229] anscheinenden Genesung unsrer Freunde freuen! Was ist denn längeres Leben anders als längeres Harren.«

»Liebe Silberhain,« fiel Eugenia ein, »Gabriele und wahrscheinlich die mehresten Leute harren doch recht gern, so lange als möglich, denn in den himmlischen Freudensaal kommen wir alle zeitig genug. Aber einer Reise nach Italien entsagen zu müssen, wenn schon beinahe der Wagen vor der Thüre steht, das ist ein Unglück, von dem ich gar nicht begreife, wie man es überlebt, ohne wenigstens vor Verdruß darüber den Verstand zu verlieren. Armes, armes Kind! warum mußten Sie auch so ganz zur unrechten Zeit von dem bösen Fieber befallen werden! Sie dauern mich ungeheuer, ach! und hätten Sie nur, wie ich, die Glücklichen abfahren gesehen! Ehegestern ging es fort, gleich am frühen Morgen nach dem Hochzeittage. Das junge Ehepaar fuhr allein, in einem ganz neuen, delizieusen, englischen Wagen; den Platz in der Batarde der Gräfin, der Ihnen bestimmt war, nahm Aureliens Bella ein. Das ist pikant, nicht wahr? gewiß niemand darf es[230] Ihnen verdenken, wenn sie ein wenig mit dem Schicksal grollen, es spielt Ihnen warlich dießmal übel mit.«

»Soll ich dich nicht auf dein Zimmer führen?« fragte ängstlich Auguste; aber Gabriele bestand darauf, da zu bleiben, versicherte, sich sehr wohl zu befinden, und bat die Gräfin Eugenia um nähere Nachricht von der Tante und Aurelien.

»Von beiden bringe ich Ihnen tausend Abschiedsgrüße,« sprach Eugenia, »ich kam erst gestern Abend von Rosenhain wieder zu Hause, denn einem alten gegenseitigen Versprechen zu Folge, mußte ich Aurelien als Brautführerin zum Altar geleiten. Es war recht gut, daß ich gleich mitreisen konnte, da Sie zu Hause bleiben mußten, liebe Gabriele! Die Gräfin und Aurelia hätten sich sonst in Rosenhain vielleicht zu oft allein gefühlt, denn Ottokar machte sich sehr selten. Geschäfte und Reiseanstalten hielten ihn fern von uns, sagte man. Ueberhaupt hat er, meiner Meinung nach, als Bräutigam an Amabilität nicht gewonnen; vielleicht kommt das im Ehestande nach. So lange ich jetzt in Rosenhain[231] mit ihm zusammen lebte, war er wenigstens – maussader als je – möchte ich sagen, wenn ich mich nicht hier vor den strafenden Blicken der Mamma Willnangen fürchtete, die von jeher diesem ihrem lieben Schooßkinde in allen seinen Arten und Unarten gefälligst nachzusehen gewohnt ist.«

»Schelten Sie den Grafen nicht, weil er nicht leichtsinnig den wichtigsten Schritt seines Lebens vollbrachte,« sprach Fräulein Silberhain. »Ach! wer müßte nicht in einem solchen Zeitpunkte sich und sein Gemüth in der tiefsten Stille zu heiligen suchen! Lehrt uns nicht die schöne Geschichte vom jungen Tobias« – – –

»Ob Ottokar so fromm ist, wie der junge Tobias, oder wie Sie, liebe Silberhain, ihn sich denken, weiß ich nicht;« unterbrach Eugenia das Fräulein! »aber langweilig genug war er wenigstens. Ich schiebe alles dieß einzig auf die Luft, die um jene Zeit im Rosenbergschen Hause höchst perniziö's gewesen seyn muß. Unsre liebe kleine Gabriele erkrankte ja auch am Verlobungs-Abend, und Ottokar muß ebenfalls zur nehmlichen Stunde[232] von einem besondern Schwindel ergriffen worden seyn; denn er plantirte beim Soupé nicht nur die Gesellschaft, – das hätte noch hingehen mögen, aber auch die zärtliche Braut, die neben einem leeren Stuhl sitzen mußte. Sein Lorenz erschien zwar, wie wir uns schon an der Tafel rangirten, mit einer sehr lahmen Entschuldigung seines Herrn, der plötzlich höchstwichtige Briefe erhalten haben sollte, aber der naseweise Mensch schnitt zu dieser Entschuldigung ein so pfiffig hämisches Gesicht, daß alle merken mußten, woran sie waren; selbst die, welche nicht wie ich daran dachten, daß Mittwochs keine einzige Post hier eintrifft.«

Frau von Willnangen verging fast vor Angst um Gabrielen bei diesem Gespräch, vergebens bemühte sie sich, ihm eine andere Wendung zu geben, oder doch wenigstens Gabrielen zum Fortgehen zu bewegen. Diese wollte keinen ihrer sie dazu einladenden Winke verstehen, und sowohl Fräulein Silberhains Lust am Fragen, als Eugeniens Lust am Antworten ließen die Unterhaltung nicht fallen, welcher Gabriele mit der gespanntesten Aufmerksamkeit zuhörte.[233]

»Nie in meinem Leben habe ich eine einer wandelnden Leiche so ähnliche Gestalt gesehen, als Ottokar beim Antritt der Reise nach Rosenhain,« sprach Eugenia weiter. »Gewiß! er war sehr krank, denn solche Todtenblässe, solche trübe, zugeschwollne Augen, solche Veränderung in allen Zügen finden sich über Nacht bei keinem Gesunden ein. Auch in Rosenhain wankte er so schattenähnlich umher, daß ich jeden Morgen zu hören fürchtete, er sey in der Nacht zum Tode erkrankt. Die Gräfin war deshalb in nicht geringerer Besorgniß als ich, allein er hielt sich aufrecht. Uebrigens, wie gesagt, war er am Tage kaum sichtbar, wichtige Arbeiten fesselten ihn in seinem Kabinete, wie es hieß, obgleich ich nicht begreife, was sein Hof jetzt gerade mit Italien, wohin er gesendet wird, so wichtiges zu verhandeln haben kann. Auch die Gräfin wunderte sich gewiß im Stillen darüber, aber sie kennen ihre Art, sich zu verbergen, und immer dasselbe Gesicht zu behalten. Mir schien es, die Wahrheit zu sagen, als ob die Depeschen, welche ihn so beschäftigten, von hier oder doch sehr aus der[234] Nähe kämen, denn an Botentagen kam er gar nicht vom Fenster weg, bis er die grün lederne Brieftasche erblickte, und eilte immer, der Erste zu seyn, der sie aufschloß, um sein Päckchen herauszunehmen. Ich erkannte sogar einmal, kurz vor der Hochzeit, Ernestos Hand auf der Adresse eines seiner Briefe.« »Und Aurelia?« fragte Gabriele.

»Von der läßt sich wenig sagen,« erwiederte Eugenia, »Sie kennen ja das fröhliche Geschöpf. Sie sah nichts, sie merkte nichts, sogar nicht, daß der Hochzeittag von Woche zu Woche, endlich einen ganzen Monat hinaus verschoben ward. Ueber die Freude, einige Offiziere, die in der Nachbarschaft einquartirt waren, zu erobern und auszulachen, und über die noch größere, ein paar Landjunker zu mistifiziren, vergaß sie Italien und die Hochzeit mit sammt dem Bräutigam.«

»Sie behandeln das junge Paar zu strenge,« sprach endlich Frau von Willnangen, »ich hoffe, sie lieben einander, und wenn gleich keine heftige Leidenschaft« – –[235]

»Wer leugnet denn, daß sie einander lieben?« unterbrach sie Eugenia ziemlich eifrig, »keines von beiden ließ es an Beweisen davon fehlen. Aurelia neckte ihren Ottokar, so wie sie seiner ansichtig ward, und, Sie wissen es ja, nach dem alten Sprichwort liebt sich, was sich neckt. Ottokar gab hingegen seine Zärtlichkeit für seine Braut auf modernere Art zu erkennen. Es war, als ob er alle Modisten, Blumisten und Juweliere, auf zwanzig Meilen in die Runde, mit einem Zauberstabe regiere, so unerschöpflich war der Reichthum mannigfaltiger Geschenke, mit welchem er sie überschüttete. Jeder Morgen brachte ihr irgend eine elegante, oft sehr kostbare Kleinigkeit von ihm, Abends überraschte er sie durch Nachtmusiken, Feuerwerke, kleine ländliche Feten. Welche andere Beweise seiner Liebe konnte Aurelia sich wünschen? zum Glück besitzt Graf Ottokar ein unerschöpfliches Genie für die Anordnung dergleichen Dinge an seinem Lorenz, aber gut war es doch, daß endlich der Hochzeittag dem allen ein Ende machte, denn die Erfindungen des Kammerdieners wollten doch nicht mehr recht zureichen,[236] um die geistigen und körperlichen Abwesenheiten seines Herrn zu bedecken.«

So plauderte Eugenia ungestört fort. Frau von Willnangen, sowohl als Auguste, hatten es aufgeben müssen, sie unterbrechen zu wollen. Ihnen blieb nichts weiter übrig, als den Eindruck zu beobachten, welchen ihre Erzählung auf Gabrielen machte, besonders da die Erzählerin vom Fräulein Silberhain durch noch dringendere Fragen angeregt, sich anschickte, die eigentliche Hochzeitfeier auf das Umständlichste zu beschreiben.

»Die Trauung geschah in der Dorfkirche, und zwar sehr früh am Morgen. Beinah mit Sonnenaufgang, denn so hatte es Ottokar gewollt,« sprach Eugenia. »Und da er zum erstenmal etwas wollte,« fügte sie hinzu, »so staunte man zwar ein wenig über dieses Ansinnen, ließ es aber dennoch gelten, obgleich Aurelia hoch und theuer versicherte, daß sie und wir alle die abscheulichste Migräne vom frühen Aufstehen davon tragen würden.«

Nun ließ sich Eugenia auf eine sehr genaue[237] Beschreibung des prächtigen Negligees von Brüßler Spitzen ein, welches die Braut an dem festlichen Morgen getragen hatte, auch der kleinsten Garnierung desselben geschah ehrenvolle Erwähnung, ehe das Betragen des Brautpaars während der Trauung zur Sprache kommen konnte. Eugenia lobte Aureliens sich durchaus gleichbleibende Fassung und ihren vornehmen, man möchte sagen königlichen Anstand während der Zeremonie, indessen Ottokar bei der endlosen, langweiligen Vorbereitungs-Rede des Pfarres todtenbleich hin- und herschwankte, bis der Moment kam, das feierliche Ja auszusprechen. Da war es denn doch,« erzählte Eugenia weiter, »als ob es ihm einfiel, daß sein Benehmen nicht ganz das eines Menschen sey, der sich am Ziele lang ersehnter Wünsche sieht, und daß es deshalb allen Gegenwärtigen als höchst befremdend auffallen müsse. Er nahm sich ordentlich mit einem Ruck zusammen,« sprach sie, »stand plötzlich aufrecht da, und sein Gesicht belebte sich zu einem Ausdruck, den wir, so lange er in Rosenhain war, an ihm vermißt hatten. Ich muß gestehen, es gab einen[238] Augenblick, während welchem er wieder recht schön war, als er mit glänzenden, himmelwärts gewendeten Augen zum Gewölbe der Kirche aufblickte, und dann, nach einer fast unmerklich kleinen Pause, das verhängnißvolle Ja laut und vernehmlich von sich hören ließ. Aber dieß Wörtchen mußte auch wie ein Zauberspruch auf ihn gewirkt haben, denn auf dem Wege aus der Kirche war der steinerne Mann mit einemmal wieder lebendig geworden. So wie wir zu Hause angelangt waren, drückte er zum erstenmal seine Braut an seine Brust, wenigstens sahen wir es zum erstenmal. »Aurelia!« fing er höchst feierlich, ich glaube gar mit Thränen in den Augen an, und hätte wahrscheinlich ein Supplement zu des Pfarrers Rede geliefert, aber Aurelia machte sich bei Zeiten los, versicherte, todtmüde zu seyn, und eilte in ihr Zimmer. Gleich darauf schickte sie uns ihre Jungfer mit dem Bedeuten, daß sie nicht eher als bei der Tafel sichtbar werden könne, weil sie durchaus vom frühen Aufstehen ruhen müsse, um nicht den ganzen Tag unwohl zu seyn. Ich gestehe es, wir sowohl als der eben aufgethaute Bräutigam[239] blieben bei dieser Erklärung mit recht langen Gesichtern stehen.

»Und wie äußerte sich denn der Bräutigam bei dieser Laune seiner Braut?« fragte jetzt Frau von Willnangen.

»Er sagte das klügste, was sich unter solchen Umständen sagen ließ, nehmlich gar nichts, kein einziges Wörtchen;« antwortete Eugenia. »Die Gräfin, die sich immer zu helfen weiß, ergriff gleich seinen Arm, um mit ihm die Anstalten zur Bewirthung einiger hundert Bauern aus der Umgegend zu besehen, denn der festliche Tag sollte bloß durch ein Volksfest gefeiert werden, da man am folgenden Morgen sehr früh abzureisen beschlossen hatte. Ottokar ging ganz in die Ideen seiner neuen Schwiegermutter ein, und nahm sich des Empfanges und der Unterhaltung seiner ländlichen Gäste mit großem Eifer an, bis später, kurz vor der Tafel, die holde Braut ungerufen erschien, und mit ihm im vollen Schmuck, unter dem Vivatrufen der Bauern, durch ihre Reihen zog.
[240]

»Sehen Sie mich nicht so unruhig, nicht so bekümmert an, liebe, theure Frau,« sprach Gabriele zur Frau von Willnangen, sobald Eugenia endlich mit ihrer Erzählung zugleich ihren Besuch beendet und das Zimmer verlassen hatte. »Auch du, meine Auguste, sey getrost! Was ängstigt euch denn, ihr lieben Beide?« setzte sie hinzu, indem sie ihre vereinten Hände an ihre Brust drückte, und mit den klaren, treuen Augen zu ihnen aufblickte. Beide umarmten sie schweigend, und Gabriele fuhr fort zu reden.

»Wonach ich lange im Stillen mich sehnte, ist mir in dieser Stunde geworden,« sprach sie gleichsam zu sich selbst. »Ich habe Nachricht von ihm, von seinem Leben, seit wir uns trennten, vom Vollbringen dessen, was geschehen mußte, alles ist vorbei – alles, alles ist vorbei,« wiederholte sie und sank in die Kissen des Sophas zurück. Doch ermannte sie sich sogleich wieder und richtete sich auf, mit der in solchen Momenten ihr eigenthümlichen Kraft. Frau von Willnangen vermochte es nicht, ihr etwas zweckmäßiges, oder auch nur zusammenhängendes zu erwiedern,[241] nicht allein, weil sie in zu heftiger Bewegung sich befand, auch ihre Ansichten von Gabrielens Geschick schwebten noch immer in zu verworrener Gestaltung ihr vor. In der Verlegenheit, doch etwas sagen zu müssen, stammelte sie einige Worte von unbegreiflichen Täuschungen, von unerklärlichem Benehmen, doch schnell unterbrach sie Gabriele: »Glauben Sie mir,« sprach diese, »keine Täuschung, nichts Unerklärliches liegt zwischen mir und Ottokar; um uns ist alles hell und klar wie das Sonnenlicht. Zwar werden wir auf Erden uns schwerlich wieder sehen, aber dennoch halten wir fest im Glauben an einander. Wir haben uns einmal gefunden, wir haben uns einmal verstanden, und das genügt uns, um nie, in keinem Moment des Lebens an einander irre werden zu können.«

Die Lebhaftigkeit, mit welcher Gabriele diese Worte sprach, versetzte Frau von Willnangen in die höchste Besorgniß um sie. Sie hatte den Moment, von dem sie so vieles aufgeklärt zu sehen hoffte, das bis jetzt ihr dunkel geblieben war, schon lange im Verborgnen herbeigesehnt. Jetzt[242] war er unerwartet ihr erschienen, und sie wünschte beinah noch weit sehnlicher, ihn verschieben zu können, wär es auch auf immer. Das stürmische Pulsiren des jungen Herzens, das, wie Ruhe suchend, sich im Laufe des Gesprächs an ihre Brust gelehnt hatte, erfüllte sie mit Angst um die kaum Genesene. Sie sah mit Entsetzen, wie alles Blut aus diesem armen Herzen in einem Moment auf Gabrielens Wange glühte, im nächsten in dessen Tiefen zurückströmte, und nur die bleiche Farbe des Grams auf dem holden Gesichte zurück blieb. Aber alle Versuche, die ihr jetzt so furchtbar scheinende Unterredung abzubrechen, waren vergeblich.

»Lassen Sie mich jetzt die Brust mir frei sprechen,« erwiederte Gabriele ihren Einwendungen; »fürchten Sie nicht, daß mir die Kräfte dazu fehlen, ich fühle mich und weiß, daß ich in dieser Stunde es vermag. Es ist mir ein Trost, denn schon lange sehne ich mich, Ihre unsägliche Liebe durch eben so ungemeßnes kindliches Vertrauen zu erwiedern. Hernach will ich ruhen, und Sie werden gewiß mit dem kranken Kinde nachsichtig[243] umgehen. Ja! ich liebe Ottokar, und er weiß es, denn in der höchsten Stunde meines Lebens, die mir ewig allein dastehen wird, in Freude und Schmerz, habe ich es ihm gesagt. Wovor erschreckt ihr denn wieder? Gott kennt ja meine Liebe, ich schämte mich ihrer nicht vor ihm, warum sollte ich sie denn dem einzigen Wesen verbergen, das gewiß nach seinem Willen zu mir gehört, wenn wir gleich, durch irdische Verhängnisse eingezwängt, jedes seinen eignen Weg fern von einander gehen müssen. Auch Ottokar liebt mich! wir fanden uns in seligen Schmerzen, in trüber Wonne, nur einen Moment, um uns gleich wieder zu trennen; und nun ist es gut. – Es ist alles sehr gut!« wiederholte sie nach einer kleinen Pause, und drückte, sanft weinend, Mutter und Tochter fester an sich. Beide weinten verstummend mit ihr.

»Wir sollten eigentlich nicht weinen,« sprach Gabriele bald darauf, »ich bin ja nicht unglücklich, ich bin ja nicht beklagenswerth, warum weinen wir denn? ich habe gelebt und geliebt! Beut mir die Zukunft keine Freude mehr, so brauche[244] ich auch dafür sie nicht mehr zu scheuen. Wohin Sie, liebe Mutter! durch Jahre voll Schmerz hingelangten, dahin bin ich in früher Jugend, in einer kurzen Stunde gekommen; ich bin in ihr alt geworden, und kann nun ohne Furcht überall hintreten, meine Ruhe ist gesichert. Ein zweiter Schmerz wie dieser droht mir nicht wieder, denn das Herz liebt nur einmal, wie es nur einmal bricht. Es war ein artiges Spiel des Zufalls, daß unter den Blumen, die ich von Ottokar erhielt, auch die Eine sich befindet, welche nur einmal um Mitternacht eine Stunde lang blüht und dann auf immer sich schließt. Ich erhielt in dieser Blume ein Vorbild meines Geschicks, und von ihm.«

»Gabriele, wüßtest du, wie diese deine kalte Verzweiflung mich quält!« rief Frau von Willnangen; was soll, was kann ich thun, um dich davon zu retten? ach ich selbst, ich Unbesonnene, war es ja, welche in deinem jungen Gemüthe Wünsche und Hoffnungen immer mehr entflammte, die ich hätte unterdrücken sollen, die nun dein Verderben sind! Jetzt weiß ich dieß, aber damals[245] blendete ich mich selbst. Ich wollte an die Erfüllung jener Wünsche und Hoffnungen glauben, weil auch ich sie im Herzen hegte, und du gehst nun an ihnen zu Grunde.«

»Wie Sie mich mißverstehen, theure Frau!« erwiederte mit wehmüthigem Lächeln Gabriele. »Ich bin ja fern von Verzweiflung, glauben Sie mir, ich bin sogar nicht unglücklich, denn wehmüthige Erinnerungen, tiefgefühlte Sehnsucht sind ja nicht Unglück. Verstehen Sie doch alles wörtlich, wie ich es Ihnen sage, ich flehe darum, denn wie ich es meine, spreche ich es aus, immer in einfacher Wahrheit. Nie hegte ich die Wünsche, die Hoffnungen, auf welche Sie mit Winken hindeuteten, die ich jetzt erst verstehe. Nie sogar habe ich mit Bewußtseyn mir ihre Möglichkeit gedacht, nie sie empfunden. Ich liebte Ottokar, wie ich athme, wie ich die Sonne, das Leben liebte. Ich vergaß bei ihm der Vergangenheit und gedachte keiner Zukunft; ich war glücklich und unglücklich in der Gegenwart, ohne mich weiter um etwas zu kümmern. Ja ich will Ihnen nichts verhehlen; nur wie ich Aurelien als[246] seine Braut sah, da erst fiel es mir ein, daß auch auf mich seine Wahl hätte fallen können, da erst, liebe Mutter! und legen Sie es mir nicht als Unwahrheit aus, wenn ich sage, ich hätte eingewilligt, wenn er mich gewählt hätte, wie ich in alles willigen müßte, was er so recht aus der Tiefe seines Gemüths wollen könnte, aber es wäre ein Opfer gewesen, das ich seinem Wollen brachte. Neidlos sehe ich Aureliens Geschick; ich habe es nie für mich gewünscht, glauben Sie es mir; segnen will ich sie, sie lieben wie ihn, wenn sie ihn so glücklich macht, wie er es durch eine solche heilige Verbindung werden könnte.«

Mit diesen Worten und der Bitte, den Tag ganz allein bleiben zu dürfen, zog Gabriele sich in ihr Zimmer zurück. Dort in der Einsamkeit ließ allmählig die Spannung nach, in welche Eugeniens Erzählung und das darauf folgende Gespräch mit ihren Freundinnen sie versetzt hatten. Sie versank in tiefes Nachdenken; jedes Wort, jede noch so leise Andeutung Eugeniens gingen nochmals ihrem Geiste vorüber; alle waren[247] ihr ein unerschöpflicher Quell von Freude und Schmerz, von dem sie zu fühlen glaubte, daß er ihr ganzes Leben hindurch nicht versiegen könne.

Aus dem von Eugenien nur ganz obenhin erwähnten Umstande, daß sie Ernestos Hand auf einem Briefe an ihn bemerkt habe, ahnete Gabriele, was wirklich geschehen war. Ottokar war auf irgend eine Weise von ihrem Erkranken benachrichtiget worden, er hatte alle Qualen der bängsten, zur Hülfe ohnmächtigen Sorge um sie gelitten, er hatte in martervoller Todesangst um sie gebebt, während sie an den Pforten des Todes in süßer Bewußtlosigkeit lag und wahrscheinlich so hinüber geschlummert wäre, ohne Schmerzen zu fühlen. Durch Ernesto hatte er gewußt bestimmte Nachricht von ihr zu erhalten, ohne ihn dennoch zum Vertrauten der Art des Antheils zu machen, den Gabriele in ihm erregte. Als ob Ottokar selbst es ihr gestanden habe, so bestimmt wußte Gabriele jetzt, daß nur Besorgniß um ihr Leben seinen auffallenden Trübsinn veranlaßte, über den Eugenia sich so spottend geäußert[248] hatte; daß nur diese Sorge ihn bewog, den Tag seiner Vermählung immer weiter hinaus zu schieben, und daß nur die Ueberzeugung, sie sey genesen, ihn ermuthigen konnte, das unvermeidliche Opfer endlich zu bringen, welches für das ganze Leben ihn von ihr trennte und ihn sogar aus der Luft verbannte, in welcher sie athmete.

Aureliens und ihrer sich immer gleichbleibenden Art sich gegen Ottokar zu benehmen, gedachte Gabriele nur mit tiefem Schmerz; denn alles überzeugte sie, daß diese kalte, lieblose, spottende Natur sich nie an seiner Seite erwärmen, nie ihn liebend beglücken könne. Daher vermied sie den Gedanken an sie, oder versuchte wenigstens, sich selbst durch die Hoffnung zu täuschen, daß es am Ende ihm doch wohl gelingen könne, die bösen Geister, die sein Glück verhinderten, durch die seiner höhern Natur eigne Güte zu bannen und die Gefährtin seines Lebens für sich zu gewinnen. Wenn alles fehl schlägt, so bleibt ihm der Trost, an den auch ich mich halte, die Ueberzeugung, das Rechte gewollt und vollbracht[249] zu haben, und mein Andenken, setzte sie ganz leise sich zur Beruhigung hinzu.


Noch während dem Laufe des Winters hatte Frau von Willnangen den Entschluß gefaßt, den größten Theil des Sommers in den böhmischen Bädern zuzubringen. Durch Gabrielens Krankheit war die Ausführung dieses Plans einstweilen in Vergessenheit gerathen; nun sie aber wieder genas, kam er aufs neue zur Sprache. Der Arzt drang sogar darauf, ihn baldmöglichst, und zwar in Gabrielens Begleitung, auszuführen; er hoffte viel Erfreuliches für ihre völlige Herstellung, nicht sowohl von den Heilquellen, als von den Zerstreuungen, welche stets im Gefolge einer solchen Reise sind.

Es war durchaus nothwendig, die Erlaubniß des Baron Aarheim zu dieser Reise seiner Tochter einzuholen, und Frau von Willnangen übernahm es sehr gern, ihn schriftlich darum zu ersuchen.[250] Seine Einwilligung erfolgte sogleich und in den verbindlichsten Ausdrücken; nur war die einzige Bedingung beigefügt, daß Gabriele jede Stunde bereit seyn müsse, zu ihrem Vater zu eilen, sobald er ihre Gegenwart verlange.

Nicht ohne Schrecken hatte der Baron die Nachricht vernommen, daß Gabriele mit der Tante nicht hatte nach Italien reisen können, denn er fürchtete nun jeden Augenblick, sie in seinem alten Bergschlosse eintreffen zu sehen. Diese schickliche Gelegenheit, sie noch einige Zeit von sich entfernt zu halten, überhob ihn einstweilen jener Sorge, und ward deshalb freudig von ihm ergriffen. Dennoch war er jetzt sehr zufrieden, daß nicht die Alpen zwischen ihm und seiner Tochter als Scheidewand dastünden, weil er seit einigen Tagen dem Ziel seines Strebens ganz nahe zu seyn dachte, so daß er oft die völlige Entschleierung des großen Geheimnisses von der nächsten Sekunde erwartete.

Seit er so ganz allein, fern von jeder äußern Störung, in Schloß Aarheims düstern Mauern hauste, hatte er sich mit rastloser Leidenschaft,[251] ja bis zur Erschöpfung aller seiner Kräfte, jenen geheimnißvollen Arbeiten hingegeben. Kein freundliches, lebendes Wesen durfte ihm nahen, der Wechsel der Jahreszeiten ging unbemerkt an ihm vorüber, er wußte nicht, ob die Bäume grünten oder ob Schnee sie bedeckte; er sah sogar nicht das Licht der Sonne, denn die schweigenden Nächte sagten seinem dunklen Treiben am besten zu. Deshalb schlief er, wenn alles wachte, und während jedes glückliche Geschöpf nach des Tages Last und Lust Ruhe sucht, begann sein ängstliches Wirken im dunkeln Kreise der finstern Mächte, die kein Sterblicher ungestraft ruft, wenn gleich vielleicht keiner je von ihnen Antwort erhielt.

So verkehrte er die Ordnung der Zeiten. Dennoch verhehlte er sich nicht die bei dieser unnatürlichen Lebensweise für seine Gesundheit obwaltende Gefahr. Er wußte bestimmt, daß er auf keine lange Reihe von Jahren mehr rechnen dürfe, in denen er die Früchte seiner Arbeit zu genießen hoffen könne, aber er achtete dieses nicht, denn er strebte nach keinem dauernden Genuß. In nie gesehnem Glanz aus dem Dunkel seiner[252] Ahnenburg hervortreten, sein uraltes Geschlecht aufs neue in seiner Tochter erstehen sehen, aufs neue für kommende Jahrhunderte der Stifter desselben werden, seine alten Feinde, knirschend vor Neid, in ohnmächtiger Wuth erbleichen sehen, und dann sich hinlegen und sterben; das war es, was er vom Geschick zu erzwingen dachte; und nur der Gedanke, daß irgend einer von denen, welche er haßte, vor dem Gelingen seines großen Werkes dieses Leben verlassen könne, machte ihn beben.

Nicht weniger, als dieses rastlose Treiben, ängstigte ihn ein ewiges Ueberlegen, wie er sein Geheimniß auf das schnellste und vortheilhafteste benutzen könne, sobald es ihm gelungen wäre, es ganz zu entschleiern. Sollte er seine Tochter zur Erbin seines durch mühseliges, unablässiges Forschen und tausendfache Opfer erworbnen Wissens einsetzen? sollte er sich daran genügen lassen, ihr noch bei seinem Leben unermeßliche Schätze zuzuwenden und sein Geheimniß mit sich in die Gruft seiner Ahnen hinabzunehmen? Diese Zweifel erregten einen nie zu stillenden Zwiespalt in[253] seinem Innern, der, zerstörender, als Wachen und Arbeit, ihn langsam verzehrte. Es war ihm unmöglich, einem weiblichen Wesen den Muth, die Klugheit, ja selbst die Verschwiegenheit zuzutrauen, welche unumgänglich dazu gehören, ein solches Geheimniß nicht nur zu verwalten, sondern auch zu verbergen. Die Gefahren, welche jedem drohen, den die Gewaltgen dieser Erde im Besitz solcher Kenntnisse wähnen, waren ihm nur zu bekannt, und das Geschick Böttchers, des unglücklichen Erfinders des sächsischen Porzellans, trat oft warnend vor seinen Geist. Alle diese Ueberlegungen machten ihn geneigt, sein Geheimniß mit sich sterben zu lassen; dann aber ergriff ihn der Gedanke, wie groß es sey, die Erbin seines Namens, mit dieser mächtigsten aller irdischen Gewalten ausgerüstet, zurück zu lassen. Ihn schwindelte, ein neuer Kampf entstand in seinem Gemüth, und so konnte der unglückliche Greis nimmer zur Ruhe gelangen. Rastlos schwankte er ewig in banger Sorge von einem Entschlusse zum andern und verwachte die langen, endlosen Stunden des Tages auf seinem Lager,[254] bis die Abendsonne die Zinnen seiner Burg röthete und ihn mahnte, aufzustehen, um sein nächtliches Tagewerk zu beginnen.


Frau von Willnangen zögerte keinen Augenblick, die Erlaubniß des Barons zu benutzen und die Reise in das Bad anzutreten, denn der Sommer war indessen schon ziemlich weit vorgerückt, und da der Herbst dem rauheren Klima der Gebirge selten günstig ist, so hatte sie keine Zeit zu verlieren.

Ernesto suchte und erhielt sehr leicht die Erlaubniß, sich der kleinen Karavane seiner Freundinnen anschließen zu dürfen, welche ihrerseits froh waren, ihn zum Beschützer auf der Reise zu haben. Nicht Furcht vor der, während der schönen Jahreszeit mit jedem Tag überhandnehmenden Oede der Stadt hatte ihn zu diesem Entschlusse bewogen, wie Auguste im fröhlichen Muthe ihm oft Schuld gab, sondern wahrhaft väterliche,[255] treue Liebe für die verwaisete Tochter der Frau, deren Andenken ihm noch immer wie ein hell leuchtender Stern am fernen Horizont seiner längst hinter ihm zurück gebliebnen Jugend strahlte. Gabrielens Geschick und der Zustand ihres Gemüths waren dem treuen, beobachtenden Freunde nicht verborgen geblieben, obgleich ihm niemand darüber etwas anvertraut hatte.

Zwischen ihm, Frau von Willnangen und auch Gabrielen war sogar eine Art von stillschweigender Uebereinkunft darüber entstanden; man behandelte ihn, als wisse er alles, ohne doch je ausdrücklich irgend eines näheren Umstandes zu erwähnen. Er, der lebenskundige Mann, sah Gabrielens Zustand in weit hellerem Licht, als Frau von Willnangen. Er glaubte Gabrielens Ruhe nicht für immer zerstört, er hielt sie sogar in diesem Augenblick nicht für unglücklich. Er wußte, wie der Zauber der Jugend alles, selbst den Schmerz, zu verschönern vermag und ihn zuletzt in das süßeste aller Spiele umwandelt, das aber zugleich auch das gefährlichste ist, weil es dem Gemüthe die Kraft entzieht für den Ernst[256] des Lebens in später kommenden Jahren. Die Thränen jener nie wiederkehrenden Frühlingszeit gleichen den Thau-Tropfen auf der Rosenknospe, sie verhauchen in süßen Düften, so lange der Morgen frisch athmet, aber wenn die glühenden Strahlen der Mittagssonne sie noch finden, so brennen sie sie ätzend zu unzerstörbaren Flecken ein; die entstellten, früh welkenden Blätter bleiben geschlossen und vermögen es nie, sich in der ihnen von der Natur bestimmten Herrlichkeit zu entfalten.

Uebrigens wußte Ernesto auch, daß der Frauen Herz ewig jung bleibt, wenn gleich ihre Locken unter der Hand der Zeit erbleichen; daß sie immer geneigt bleiben, mit ihren jüngern Freundinnen sich aufs neue den Wonnen und Schmerzen hinzugeben, welche einst auch ihren Frühling erhellten und trübten, und die der Machtspruch des spätern Alters nur entschlummern hieß, aber nicht vernichten konnte. Deshalb fürchtete er Frau von Willnangens zu weiche Theilnahme für Gabrielen, jetzt da diese an dem ihre ganze Zukunft bestimmenden Wendepunkt ihres Lebens stand,[257] und achtete es für Pflicht, in ihrer Nähe zu bleiben, um sie mit starker väterlicher Hand zu fassen, zu stützen, zu leiten, sobald es Noth thäte.


Die kleine Reise ward in wenigen Tagen, und ohne alle Abenteuer zurückgelegt. Gabrielens stille Heiterkeit während derselben hatte zwar oft einen höchst wehmüthigen Ausdruck, der aber nie in wilderen Schmerz, in tiefere Trauer ausartete.

Die Reisegesellschaft kam über Eger nach Karlsbad, und die Gegend in der Nähe dieses ersten Ziels ihrer Reise, besonders aber die mit keinem andern Badeorte zu vergleichende Einfahrt in das Städtchen selbst, entzückte sie alle. »Warlich,« rief Auguste, »es verlohnt sich der Mühe, alle Jahre nach Karlsbad zu reisen, einzig um darin anzukommen. Ich wollte, ich könnte, so lange wir hier bleiben, wenigstens jede Woche einmal die Freude haben, mich so lustig vom[258] Thürmer anblasen zu hören. während ich am Fuß dieser prächtigen Felsen unter den wilden Rosenbüschen hinrolle und ihre Wälder, ihre schimmernde Kreuze, ihre Pyramidenzacken hoch über mir sehe.«

Gabriele lehnte indessen schweigend zum Wagen hinaus, ihr Blick ruhte auf den Felsen, ihre Gedanken flogen der Heimath zu. So, ja eben so umstarrte hohes Gebirge das alte Schloß, in welchem sie das Licht der Sonne zuerst erblickt hatte. Nicht so geschmückt mit jeder Anmuth der Kultur und einer üppigen Vegetation, aber doch diesem ähnlich, nur beinah enger noch und tiefer, war das stille Thal, in welchem sie an der Hand ihrer Mutter zu wandeln pflegte. Seit sie Schloß Aarheim verließ, war sie immer in der Ebne geblieben, nur ganz von Ferne hatte sie mit der allen im Gebirge gebornen eignen Sehnsucht ihre lieben blauen Berge zu sich herüber schimmern gesehen. Beinahe ein Jahr war vorübergezogen, seit sie von ihnen schied. Ihr war, als kehre sie in diesem Augenblick wieder heim zu ihnen aus der fernen Welt, welche sie mit so wenig[259] Erwartungen betreten hatte, in der sie so unendlich viel fand, was nur noch in der Erinnerung ihr gehörte, und von der sie, ohnerachtet ihrer Jugend, jetzt zu wissen glaubte, daß sie ihr nichts weiter mehr zu bieten habe als ein Grab.

Der wirkliche Eintritt in Karlsbad und in ihre freundliche Wohnung riß sie aus ihren trüben Träumen, und Augustens herzliche Freude an allen neuen Umgebungen erweckte auch sie zur Theilnahme. Bald gewahrte sie sich selbst in einer neuen Welt. Die geputzten Brunnengäste, welche an dem wunderschönen lauen Sommerabend unter ihrem Fenster auf- und abgingen, schienen ihr unzählbar, so daß die große lebensreiche Stadt welche sie eben verlassen hatte, ihr wie todt dünkte gegen diesen kleinen, einem Ameisenhaufen ähnlichen Fleck Erde, und sie sich an dem ungewohnten Schauspiel fast eben so sehr ergötzte als Auguste.
[260]

Der Julimonat, und mit ihm die Zeit, während welcher Karlsbad am glänzendsten erscheint, war über die Hälfte vorübergezogen, als Frau von Willnangen mit ihren Begleitern dort anlangte. Einige fürstliche Personen, die bisher einen kleinen Hof gebildet hatten, welcher den vornehmern Brunnengästen einen, alle übrige ausschließenden Vereinigungspunkt gewährte, hatten sich schon zur Nachkur in andere Bäder begeben. Täglich sah man lange Reihen mit Koffern hochgepackter großer Berlinen über die Wiese ziehen, in welchen vornehme Familien ihnen nacheilten. Dennoch blieb die Gesellschaft noch immer zahlreich genug, um keine Lücke merkbar werden zu lassen, und neue Ankömmlinge ersetzten täglich die Stelle der Abreisenden.

Frau von Willnangen besaß unter vielen angenehmen Eigenschaften auch die, sich überall, wohin sie kam, leicht anzusiedeln und heimisch zu werden. Auf Reisen wußte sie dem aller ungemüthlichsten Gasthofszimmer in wenigen Minuten ein wohnliches Ansehen zu geben, ohne daß man sonderlich bemerken konnte, was sie darin verändert[261] habe. Wo sie an fremden Orten längere Zeit blieb, da gewannen alle ihre Umgebungen bald einen so behaglich-häuslichen Anstrich, daß jedem wohl darin ward, dem es erlaubt war, sich ihr zu nahen.

Darum sammelte sich auch in Karlsbad wie überall ein sehr angenehmer Kreis der Liebenswürdigsten und Gebildetsten um sie her. Es war als ob sie durch einen Zauberspruch alle an sich zöge, die zu diesen gezählt werden durften, oder als ob sie ein Zeichen an sich trüge, an dem die Gleichgestimmten sie erkannten. Dennoch wunderte sich jeder, der sie zum erstenmal sah, wie diese einfache, weder durch jugendlichen Reiz noch glänzenden Witz ausgezeichnete Frau dazu gekommen sey, der Mittelpunkt der Gesellschaft zu werden, so anspruchlos und zuvorkommend war sie in ihrem Betragen gegen Alle.

Gabrielen hatte der Arzt nur ein paar Gläser des Theresienbrunnens, als des schwächsten von allen, zu trinken erlaubt, damit sie sich doch auch mit Ehren in die Reihe der Brunnengäste stellen dürfe; denn es ist nichts unangenehmer, als bei[262] einem, Allen gemeinschaftlichen Zweck, allein ausgeschlossen zu bleiben. Frühes Aufstehen, Bewegung in der vom Duft der Bergkräuter und frischem Waldeshauch erfüllten Luft, und vor allem Rückkehr zu der regelmäßigen Lebensart, deren sie während dieses Winters sich hatte entwöhnen müssen, waren die eigentlich ihr vom Arzt verordnete Kur, und der Erfolg bewies, daß er in der Wahl nicht geirrt hatte. Gabriele, die jetzt eben ihr siebzehntes Jahr vollendete, blühte von Tage zu Tage schöner auf. Der Rosenglanz der Gesundheit gab ihr einen neuen Reiz, ohne den fast ätherischen Ausdruck zu zerstören, der von ihrer frühsten Jugend an sie ausgezeichnet und ihr das Ansehn einer Bewohnerin andrer Welten gegeben hatte. Dabei lag in ihrem freundlichanspruchlosen Wesen etwas so unaussprechlich liebliches, daß jedermann sich zu ihr gezogen fühlen mußte, obgleich der stille Ernst, mit dem sie das Leben nur als Zuschauerin zu betrachten schien, niemanden zu näherer Vertraulichkeit aufforderte.
[263]

Unter den Reisegesellschaftern der Frau von Willnangen war Ernesto der Einzige, der mit dem Ton und überhaupt dem Leben in Karlsbad nicht recht zufrieden seyn wollte. Sie selbst war zu oft sowohl hier als an ähnlichen Orten gewesen, um mehr von ihnen zu fordern, als sie ihrer jetzigen Einrichtung nach leisten können. Augustens heitre Natur befand sich in ihrer Mutter und Gabrielens Gesellschaft überall wohl, und diese freute sich zwar der herrlichen Umgegend, war aber in ihrer innern Welt noch zu befangen, um sonst noch Ansprüche irgend einer Art an die äußre zu machen.

Anders aber verhielt es sich mit Ernesto. Dieser hatte noch nie zuvor einen Brunnenort besucht, denn zu der Zeit, da er im frühen Jünglingsalter Deutschland verließ, um die Ausbildung seines Talents in Italien zu suchen, war es noch nicht wie jetzt Gebrauch, die Bäder als Erholungsorte zu betrachten. Eine Badereise betrachtete man damals als einen großen Entschluß, und fast immer nur als den letzten Versuch zu genesen, ja der Ausspruch des Arztes, welcher die Kranken[264] dorthin verwies, klang den mehresten von ihnen wie ein halbes Todesurtheil. Daher kannte sie Ernesto nur aus lobpreisenden Aufsätzen in Zeitschriften und hochtönenden, an Ort und Stelle verfertigten Beschreibungen, die ihn freilich weit mehr erwarten ließen, als er fand.

»Wir sitzen hier ganz vortrefflich,« sprach er einst in halb unmuthiger, halb zufriedner Stimmung zu der Gesellschaft, die sich an einem warmen Nachmittag, im Schatten der schönen Bäume vor dem böhmischen Saal recht häuslich niedergelassen hatte. »Wir sitzen hier ganz vortrefflich. Frau von Willnangen macht die angenehme Wirthin, als wäre sie zu Hause, die übrigen Damen arbeiten an allerliebsten Kleinigkeiten, und wir Männer führen weise Gespräche. Uns ist wohl! aber wir bilden doch einen Staat im Staate, und das ist hier nicht recht. Mir wenigstens thut mitten in meiner Glückseligkeit das Herz weh, wenn ich die einzelnen Paare ansehe, die dort auf der Wiese und hier in den Alleen langweilig und langsam neben einander herschlendern. Da Gott hier für alle und jede seinen Segen in[265] den Quellen fließen läßt, so sollten auch wir niemanden von unsern Vergnügungen ausschließen und alle zusammen darnach streben, daß allgemeine Freude die ganze Brunnengesellschaft zu einer Familie vereine.«

Die Gesellschaft, an welche Ernesto diese Worte richtete, bestand außer den Hausgenossen der Frau von Willnangen noch aus der im nördlichen Deutschland einheimischen Familie des Baron Wallburg. Dieser bewohnte mit seiner Frau, zwei Töchtern und einem Sohne den obern Stock des nehmlichen Hauses, von welchem Frau v. Willnangen die erste Etage inne hatte. Nicht sowohl diese nahe Nachbarschaft, als vielmehr eine gewisse Uebereinstimmung in ihrer Lebensweise hatte beide Familien zuerst einander näher gebracht. Gegenseitiges Gefallen, besonders des jüngern Theils derselben, machte sie in kurzer Zeit zu unzertrennlichen Gefährten in allen der Geselligkeit geweihten Stunden.

General Lichtenfels, ein heitrer Greis, und sein Neffe Adelbert gehörten als frühere Bekannte[266] des Barons Wallburg mit zu dem kleinen Kreise, in welchem Adelbert der einzige bedeutend Kranke war. Ehrenvoll im Kriege erhaltene, aber übel geheilte Wunden hatten diesen nach Karlsbad geführt, um Genesung oder doch wenigstens Linderung zu suchen. Im Innern schien er noch schmerzlicher verletzt zu seyn als im Aeußern, denn alle seine Züge trugen tiefe Spuren eines verzehrenden Kummers. Gewöhnlich nahm er nur schweigenden Antheil an der Gesellschaft, und schien gern in Gabrielens Nähe sich zu halten, deren ebenfalls nicht fröhliche Stimmung der seinen am besten zusagte. Sein ihn väterlich liebender und von ihm kindlich verehrter Oheim war einzig ihn zu begleiten, nach Karlsbad gekommen, und es gewährte einen eignen rührenden Anblick, wenn der alte eisgraue aber noch immer rüstige Krieger die schöne hohe Gestalt des jüngern unterstützte, der, von einer Fußwunde gelähmt, sich nur mühsam und gebeugt fortbewegen konnte. Allwill, ein junger Dichter, und Wollmer, ein ausgezeichneter Tonkünstler, hatten sich auch dießmal, wie gewöhnlich, der Gesellschaft angeschlossen.[267] Beide waren wegen ihrer Talente und ihres angenehmen Humors immer höchst willkommen.

Ernestos Klage über den Mangel allgemeiner Geselligkeit regte sogleich alle Mitglieder des Kreises zum lebhaftesten Widerspruch auf, denn sie befanden sich in dieser Abgeschlossenheit von den übrigen nicht minder behäglich als im Grunde Ernesto selbst und nahmen sie deshalb gern gegen ihn in Schutz. Auguste und Rosalie von Wallburg überhäuften den italienisirten Signor, wie sie ihn spottend nannten, mit Vorwürfen über seinen Wankelmuth, der ihn verleite, sich nach andrer Gesellschaft zu sehnen, und die kleine zwölfjährige Luzie Wallburg sprang gar von der Stelle neben ihm auf, wo sie als seine erklärte Geliebte gewöhnlich zu sitzen pflegte, indem sie versicherte, von einem so ungetreuen Liebhaber wollte sie nichts weiter wissen.

Friede und Ruhe wurden indessen bald wieder hergestellt, und Frau von Willnangen nahm den Faden des Gesprächs wieder auf, indem sie Karlsbad gegen Ernestos Tadel vertheidigte. »Kommen Sie nur nach Töplitz, Wiesbaden oder überall[268] hin,« sprach sie, »wo nur gebadet wird und nicht getrunken. Dort, wo Morgens kein Brunnen Gelegenheit zum Bekanntschaftenmachen bietet, dort mag es Ihnen allenfalls erlaubt seyn, über Isolirung der Einzelnen und alle die tausend Schwierigkeiten zu klagen, die sich jeder nur einigermaaßen allgemeineren Geselligkeit entgegen stellen.«

»Damit, daß es anderswo noch ärger ist, wird aber dem nicht abgeholfen, was ich hier als mangelhaft schelte,« erwiederte Ernesto. »Ich bleibe dabei, daß der größte Theil der Brunnengäste sich in Karlsbad noch immer mehr langweilt, als recht und billig ist, oder selbst bei einem solchen Zusammenfluß von Leuten möglich seyn sollte, die alle nichts zu thun haben, als sich zu belustigen.«

»Ich muß hier auf Ernestos Seite treten,« nahm der Kapellmeister Wollmer das Wort. »Blicken Sie nur um sich her, die Sonne beginnt zu sinken, längstens in einer Stunde verweiset der Aerzte strenges Gebot uns alle aus der Abendluft unter Dach und Fach, und dennoch werden[269] dann noch vor Schlafengehen ein paar Abendstündchen übrig bleiben, die wohl jedermann gern auf angenehme Weise in Gesellschaft zubrächte. Sehen sie indessen nur, wie sich schon alles vereinzelt und nach seiner vielleicht ziemlich unbequemen Wohnung hinzieht, während beide Säle leer bleiben, in denen man sich doch recht bequem noch zum erheiternden Gespräch versammeln könnte.«

Leo von Wallburg meinte, wenigstens der Bälle lobend erwähnen zu dürfen, die zweimal die Woche einen allgemeinen Vereinigungspunkt bieten, ward aber von Ernesto schnell unterbrochen. »Geht mir,« sprach dieser, »mit euren Bällen, auf welchen niemand tanzt, als wer seine Mittänzer gleich mitbringt. Diese beweisen gerade, wie sehr der Kotterie-Geist hier herrschend ist. Tanzte wohl am verwichnen Sonntag im sächsischen Saal noch irgend eine Seele außer den verwünscht hübschen Polinnen? und auch sie nur mit den Herren, welche sie auf den Ball geführt hatten. Freilich schweben diese Sarmatinnen wie Grazien einher; aber ringsum an den Wänden[270] des Saals saßen auch deutsche und andre Grazien die Menge in langen Reihen da, ohne daß es einem von den vielen jungen Herren eingefallen wäre, sie zum Tanz aufzufordern.

»Eigentlich,« nahm der General wieder das Wort, »eigentlich fehlt es uns hier nur an jemanden, der Aufopferung, Geschicklichkeit und Ansehen genug besäße, um sich an die Spitze aller übrigen stellen zu können, und nicht nur bei Festen und Bällen, sondern überall als Wirth die Honneurs zu machen. Ohne einen solchen Mittelpunkt gedeiht bei uns keine Geselligkeit. Wir Deutsche sind nun einmal bei solchen Gelegenheiten nicht sowohl träge als unbehülflich. Genau wie die Kinder, die wenn sie zum erstenmal zusammen kommen, um mit einander zu spielen, lange verschämt dastehen, einander kaum ansehen, und dabei thun, als läge ihnen im mindesten nichts am Spiel, während sie sich vor innerlicher Ungeduld darnach nicht zu lassen wissen. Da muß durchaus jemand eintreten, der jedem zeigt, was es zu thun hat, um sich zu belustigen, und alle mit linder Gewalt an einander treibt, sonst bleibt[271] jeder für sich und ärgert sich dabei über den Nachbar, der nicht den ersten Schritt thun will.«

»Thun Sie diesen ersten Schritt und machen Sie der allgemeinen Noth ein Ende, lieber Herr General,« sprach lächelnd Frau von Willnangen; »in jeder Hinsicht eignet sich niemand zu unserm Anführer besser als Sie, und ich bin im voraus überzeugt, daß jedermann dieß dankbar anerkennen wird.«

Der General verbeugte sich und fuhr fort zu reden. »In jüngern Jahren habe ich oft aus eignem Antrieb es versucht, den Ehrenposten zu bekleiden, den Sie, meine gütige Freundin! mir jetzt wieder zutheilen möchten, dem ich mich aber um keinen Preis wieder unterziehen würde. In Bädern, in Garnisonen oder wo sonst der Zufall eine ungewohnte Zahl Menschen aus den Ständen zusammenführt, welchen geselliges Vergnügen Bedürfniß ist, bin ich oft von eigner Lebenslust verleitet worden, mich zum maitre des plaisirs aufzuwerfen, aber lag es an meiner Ungeschicklichkeit oder an etwas anderm, ich weiß nur, es[272] ist mir jedesmal so schlecht bekommen, daß ich noch jetzt nicht ohne Aerger daran denken kann.

»In der That,« sprach Baron Wallburg, »das Amt eines Zeremonien- oder wenn sie wollen, Vergnügen- Meisters ist eines der anerkannt mühseligsten und unbelohnendsten, am Hofe wie in der Stadt, vor allem aber in einer Republik, wie doch jeder Brunnenort eine ist, und ich begreife nicht, wie man anders, als durch den Drang der Umstände dazu gezwungen, sich ihm unterziehen mag.«

»Sollten Sie mich auch wieder der Anglomanie beschuldigen, lieber Vater!« sprach Leo, »ich muß hier doch bemerken, daß das Talent der Britten, überall das komfortabelste zu erfinden, sich auch in dem vorliegenden Fall bewährt. Bei ihrer, jeder geselligen Verbindung mit Unbekannten noch weit mehr, als wir Deutschen, widerstrebenden Nation trafen sie dennoch den rechten Weg, alle zufrieden zu stellen. In jedem bedeutenden Brunnenort wählen die Badegäste einen Zeremonienmeister, dessen Anordnungen jeder gern Folge leistet, und der um einen anständigen Ehrensold[273] für die gesellige Unterhaltung Aller, wie jedes Einzelnen, unermüdlich besorgt ist. So darf dort niemand über Vernachlässigung oder Langeweile klagen, der dieß nicht selbst durch sein Betragen verschuldet.«

»Dacht' ichs doch, daß die große Erfindung auf etwas Fabrikmäßiges hinaus laufen würde,« sprach Baron Wallburg, »denn hoffentlich hat dieser Zeremonienmeister auch Gehülfen, die ihm vorarbeiten, und der Fremde, der amüsirt werden soll, geht dabei aus einer Hand in die andre, wie ein englischer Knopf.«

»Haben sie nicht auch aus Holz und Stahl vortrefflich gearbeitete Herrn und Damen, die eingeschoben werden, wenn es an lebendigen Tänzern fehlt?« fragte Ernesto.

Die Idee solcher unermüdlichen Tänzer erweckte großes Vergnügen bei dem jüngern Theil der Gesellschaft. Vor allem äußerte die kleine Luzie den sehnlichen Wunsch, daß auf dem nächsten Ball deren ein halbes Dutzend, wo möglich in Husarenuniform, erscheinen möchten. Dann, meinte sie, käme auch wohl einmal die Reihe an[274] sie, mit so einem hölzernen Husaren zu tanzen, denn die großen Mädchen nähmen ihr die lebendigen Tänzer alle weg.

»Auch ich kenne die Badekönige, denn so pflegt man in England sie zu nennen,« nahm endlich der Kapellmeister das Wort, »und ich habe mich während meines vieljährigen Aufenthalts in jenem Lande zu wohl unter ihrem sanften Scepter befunden, als daß ich mich nicht laut für sie erklären sollte. Aus Reisebeschreibungen ist zwar jedermann von den Statuten ihres Reichs unterrichtet, aber den ganzen wohlthätigen Einfluß derselben auf das Badeleben kann nur der ermessen, der wie ich einst zu ihren Unterthanen gezählt ward.«

Noch vieles sprach man, bald lobend, bald tadelnd über diese englische Einrichtung, deren Einzelheiten selbst dabei sehr umständlich zur Sprache kamen. »Leo hatte in der That Recht,« entschied endlich der General, »und ich wünsche herzlich, recht bald solche Könige auf deutschem Grund und Boden zu begrüßen. Ernestos fromme Wünsche können wahrscheinlich nur durch ihre[275] Einführung bei uns in Erfüllung gehen, aber ich fürchte aus mancherlei Gründen, daß sich unendliche Schwierigkeiten ihr entgegen stellen würden. Indessen käme es auf einen Versuch an, und wäre die Brunnenzeit nicht ihrem Ende so nahe, so möchte ich sie wohl, wenigstens als Probestück, auf einige Wochen in Vorschlag bringen, obgleich ich nicht weiß, wo ich sogleich einen würdigen Kandidaten zu diesem sehr schweren Posten finden würde.« »Ein Mann von Stande könnte sich doch unmöglich dazu entschließen,« meinte Frau von Wallburg. »Und warum denn nicht? meine gnädige Frau!« erwiederte ihr schnell Ernesto. »Ich halte die Stelle eines solchen Königs für recht ehrenvoll, und um so mehr, da nicht gemeine Eigenschaften dazu gehören, sie mit Würde zu bekleiden.« »Glauben Sie vielleicht, daß die Stelle eines Banquiers am Pharao-Tische, die so mancher Sprößling eines sehr edlen Stammes ausfüllt, für ehrenvoller gelten dürfe?« setzte der General lächelnd hinzu.

Die letzten Strahlen der sinkenden Sonne mahnten jetzt die Gesellschaft zum Aufbruch, doch[276] traf man noch vorher die Verabredung, es an einem der nächsten Abende zu versuchen, ob nicht der größere Theil der in Karlsbad gegenwärtigen Fremden zu einer zahlreicheren Versammlung in einem der Säle zu veranlassen sey, um so vielleicht den Grund zu künftiger allgemeinerer Geselligkeit zu legen. Niemand wandte gegen diesen Plan etwas ein, außer Frau von Wallburg. »Ich weiß nicht,« sprach sie, »warum wir uns um die Uebrigen, die sich um uns nicht bekümmern, so viel Mühe geben wollen, da wir ihrer doch nicht bedürfen, um uns recht wohl zu befinden. Unser Zirkel genügt uns, er ist groß genug, um uns zu amüsiren, und wir werden uns da eine Menge Bekanntschaften aufladen, unter denen sich gewiß Leute befinden, die gar nicht zu uns passen, und die uns in Zukunft vielleicht recht lästig und beschwerlich in unserm eignen Hause werden können.«

Herr von Wallburg tröstete indessen seine Frau mit der Versicherung, daß Badebekanntschaften sich nie über die wenigen Wochen hinaus erstrecken dürfen, die man mit einander verlebt,[277] und daß es anerkannt herkömmlich sey, auch die genausten dieser Art in seiner Heimath zu ignoriren, sobald man nicht durch eigne Beweggründe sich veranlaßt finde sie fortzusetzen; und so wanderte sie beruhigt mit der übrigen Gesellschaft ihrer Wohnung zu.

Die letzten, auf eine eigne, gleichsam etwas bezeichnen sollende Weise betonten Worte des Baron Wallburg machten indessen auf Frau von Willnangen einen nichts weniger als angenehmen Eindruck. Sie hörte sie mit dem prophezeienden Vorgefühl, mit welchem der kundige Schiffer bei sonst heiterem Himmel das kleine dunkle Wölkchen am fernsten Horizonte erblickt, welches ihm den nahenden Orkan verkündigt. Ueberhaupt wohnt in vielen Frauen ein Vorahnen dessen, was sie von denen, welchen sie auf ihrem Lebenspfade begegnen, zu erwarten haben, sey es Freude, sey es Schmerz. Liebe oder Feindseligkeit, sie empfinden beide lange im Voraus, ehe sich noch die Person ihrer bewußt wird, in deren Brust diese Empfindungen später erwachen. Von diesem wunderbaren Gefühl geleitet, würde Frau[278] von Willnangen den Umgang mit dem Baron Wallburg und seiner Frau vielleicht gänzlich vermieden haben, aber sie hielt es für unbillig und thöricht, auf eine Ahnung zu achten, für welche sich durchaus kein vernünftiger Grund erdenken ließ, und überdem erschien ihr der jüngere Theil dieser Familie so liebenswürdig, daß sie um seinetwillen manches ihr minder Angenehme gern übersehen mochte.

Nicht ohne Wohlgefallen hatte sie das Aufkeimen einer Neigung Leos von Wallburg zu ihrer Tochter bemerkt, deren Erwiederung von Augustens Seite ihr durchaus nicht unerwünscht gekommen wäre. Leo zeichnete sich in der That auf eine vortheilhafte Weise vor andern jungen Männern aus. Mit einem sehr gebildeten Geist und einem angenehmen Aeußern verband er die schätzenswerthesten Eigenschaften des Gemüths, die sich auf das Unverkennbarste bei jeder Gelegenheit, besonders aber im Umgang mit den Seinen äußerten. Und so war es wohl sehr verzeihlich, wenn Frau von Willnangen sich bisweilen süßen, allmählig zu Wünschen und Hoffnungen[279] ausartenden Träumen vom künftigen Glück ihrer Tochter überließ, besonders da der einstigen Erfüllung derselben sich auch im Aeußern nichts entgegen zu stellen schien. Dennoch hütete sie sich wohl, mit Augusten darüber zu sprechen, sie ließ das Herz ihrer Tochter ungestört seinen stillen Gang gehen; der Reue Schmerzen, die sie noch immer bei Gabrielens Anblick empfand, lehrten sie jetzt Vorsicht üben, da es vielleicht der ganzen Zukunft ihres geliebten einzigen Kindes galt.

Das vom Baron Wallburg über die Bade-Bekanntschaften ausgesprochene Urtheil wäre vielleicht von ihr unbeachtet geblieben, hätte es sie nicht plötzlich an ein Gespräch erinnert, welches sie mit dem General auf einem einsamen Spaziergange am nehmlichen Morgen gehalten hatte. Er, der immer offen zu Werke zu gehen gewohnt war, hatte mit einer höchst auffallenden Absichtlichkeit die Gelegenheit gesucht, vom Baron Wallburg und dessen Gemahlin zu sprechen. Beide wurden zwar als sehr vorzüglich in jeder Hinsicht von ihm gepriesen, dabei aber zu wiederholten Malen und fast warnend des Ahnenstolzes erwähnt,[280] der in ihrem Vaterland überall mehr als in irgend einem andern Theile Deutschlands vorherrsche. Auch dieses sonst so liberal gesinnte Paar sollte, nach des Generals Versicherung, in dieser Hinsicht mit unüberwindlichen Vorurtheilen erfüllt seyn; nur feine Sitte verhindre es, diese auch im gewöhnlichen Leben laut werden zu lassen.

Die Dazwischenkunft des Barons selbst und die übrigen Zerstreuungen des Tages hatten Frau von Willnangen abgehalten, dieses Gespräch mit dem Ernst zu würdigen, zu welchem es augenscheinlich des Generals Absicht war, sie zu stimmen. Jetzt aber stand jedes Wort desselben plötzlich wieder vor ihrem Geist, und dabei fiel der Gedanke ihr mit Zentnerschwere auf das Herz, daß Augustens Stammbaum wirklich nicht von der Art sey, um vor strengen Richtern als gültig zu bestehen. Ihr Vater war der Sohn eines sehr angesehenen aber bürgerlichen Hauses, seinen später erworbnen Adel verdankte er nur seinen Verdiensten und dem Range, den er bekleidete. Die lange Reihe von Ahnen, welche Frau v. Willnangen als eine geborne Rosenberg zählte, vermochte[281] es leider nicht, die ihm fehlenden zu ersetzen.

Frau von Willnangen fühlte sich bei ihrer Zuhausekunft von diesen Gedanken so verstimmt, daß sie es ausschlug, noch, wie sonst gewöhnlich, ein paar Stunden bei der Gesellschaft zu bleiben, und sich vielmehr mit den Ihrigen in ihr Zimmer zurückzog. Diese Verstimmung theilte sich auch den Uebrigen mit, alle vereinzelten sich, und der Abend nach diesem so fröhlich begonnenen Nachmittag, der eine allgemeine Geselligkeit einzuführen bestimmt schien, war der erste, an dem jedermann sich bestmöglichst zu isoliren strebte.


Ein wunderschöner, wenn gleich schwüler Morgen folgte diesem Abend. Die ganze, durch das Hinzutreten mehrerer entfernteren Bekannten sehr vergrößerte Gesellschaft beschloß deshalb, einen längst entworfnen Plan auszuführen. Das Frühstück sollte auf dem höchsten der über dem schönen[282] Thal thronenden Berge eingenommen werden, neben den drei Kreuzen, die dessen Gipfel bezeichnen. Auch Frau von Willnangen hatte sich mit ihrer Tochter von dem allgemeinen Vergnügen nicht ausschließen mögen. Ernesto mit der fröhlichen Luzie waren als Heerführer an die Spitze der kleinen Schaar gestellt, die singend und jubelnd vom Brunnen weg durch den blinkenden Morgenthau hinzog. Allwill hatte einen eignen Rundgesang für diese Wallfahrt gedichtet, der Kapellmeister erfand auf der Stelle eine Melodie dazu, dieß erhöhte die laute Freude, mit der alle sich auf den Weg machten.

Nur Adelbert und Gabriele blieben einsam zurück. Mit seinem gelähmten Fuß konnte ersterer gar nicht daran denken, eine solche Wanderung zu unternehmen, und Gabriele durfte es auch noch nicht wagen, sich der Ermüdung eines so weiten Spazierganges auszusetzen. Nach dem Scheiden der fröhlichen Gesellschaft begleitete Adelbert Gabrielen schweigend und langsam zu Hause, aber der Morgen war zu schön, um ihn ganz ungenossen vergehen zu lassen, und so wandten[283] sie sich daher bald den lieblichen Schattengängen zu, die das anmuthige Thal von allen Seiten bekränzen.

Nie zuvor hatten beide Gelegenheit gehabt, so ganz allein mit einander zu seyn. Adelbert fühlte sich zwar vom ersten Augenblick ihrer Bekanntschaft an durch die stille sanfte Schwermuth zu ihr hingezogen, die wie ein Schleier über Gabrielens ganzes Wesen sich verbreitete, und der milde Strahl ihres schönen dunkeln Auges war oft wie ein erwärmendes Licht in seine wunde Brust gedrungen, aber die reine Güte ihres Gemüths und selbst ihre hohe geistige Bildung konnten ihm dennoch nie zuvor, wie jetzt im ungestörten Gespräch mit ihr, in dieser Klarheit sichtbar werden. Auch hatte sie sich ihm noch nie so unaussprechlich freundlich und vertrauend gezeigt.

Beide waren heute durch ähnliche Leiden von der allgemeinen Freude ausgeschlossen geblieben, und Gabriele fühlte sich dadurch Adelberten gewissermaaßen schwesterlich verwandt. Sie neigte sich deshalb zu ihm und sprach mit ihm, wie eine liebende Schwester mit ihrem kranken leidenden[284] Bruder sprechen könnte. Ein wahrhaft und tief verwundetes Gemüth erkennt das andre ohne Worte, daher wußte Gabriele recht wohl, daß Adelbert freundlicher Theilnahme weit bedürftiger sey, als es selbst seine im Aeußern zerstörte Jugendblüthe vermuthen ließ, und daß vielleicht nur diese ihn von völligem Untergang in Tiefsinn und Schwermuth erretten könne. Sie wandte sich deshalb unendlich mitleidig zu ihm; alles was sie sagte und that, drückte das Bestreben aus, ihm tröstlich zu werden. Ihre ohnehin sanfte melodische Stimme klang wie das Flöten einer Nachtigall, denn sie suchte sie noch mehr zu mildern, indem sie zu ihm sprach, und Adelberten ging dabei in lange nicht empfundner Seligkeit das Herz auf.

So in ernstes und vertrauliches Gespräch verloren, wanderten beide langsam neben einander hin, länger und weiter, als sie selbst es bemerkten. An sich unbedeutende Anhöhen, die Adelberten aber noch gestern unübersteiglich geschienen hatten, ging er jetzt, seiner Krücke nicht gedenkend, an Gabrielens Seite hinauf und hinab,[285] ohne es zu gewahren. An den Stellen, welche ihr am schwierigsten dünkten, bot sie ihm hülfreich die kleine weiße Hand, und indem er sie berührte, war ihm, als ob unsichtbare Engel ihn mit ihren Flügeln unterstützten. Zwar dachte Gabriele nicht ohne Sorge an den Rückweg, indem sie neben ihm herging, aber sie vermochte es nicht über sich zu gewinnen, ihn aus dem augenblicklichen Vergessen seines traurigen Zustandes zu erwecken, und verschwieg daher ihre Besorgnisse.

Endlich erreichten sie den kleinen Tempel, welcher den Namen des Lords Finlater, des Verschönerers dieser Gegend, trägt, und mit ihm die beinahe äußerste Gränze der eigentlichen Promenaden. Bei ihrer, ihnen jetzt erst recht fühlbar werdenden Ermüdung und der ungewöhnlichen Schwüle des Tages war ihnen dieser Ruhepunkt höchst willkommen. Sie setzten sich traulich neben einander und fuhren in dem Gespräche fort, dessen Interesse sie so unvermerkt bis zu diesem, von ihrer Wohnung ziemlich weit abgelegnen Platz hingeführt hatte.[286]

Die Unterhaltung war zuerst von der Poesie und dem verschiednen Werth der neuesten Erzeugnisse unsrer Dichter ausgegangen, unmerklich aber hatte sie sich der Liebe und ihren Leiden und Freuden zugewendet. Gabrielens beredtes Auge hatte Adelberten längst eine unglückliche Liebe als das stille Geheimniß ihres Herzens verrathen, obgleich sie auch nicht auf die leiseste Art darauf hindeutete. Er strebte daher mit der zartesten Schonung, alles zu vermeiden, was ihm das Ansehen geben konnte, als suche er ihr Vertrauen zu erschleichen, oder wolle die nähern Umstände eines Geschicks erspähen, das er nicht umhin konnte, sich dem eigenen ähnlich zu denken. Der Anblick des unaussprechlich anmuthigen und doch so tief verletzten Wesens an seiner Seite stimmte ihn dabei immer wehmüthiger, indem er doch zugleich über seine eignen Schmerzen für den Augenblick sich beruhigter fühlte.

»Nur eines kann ich mir denken, wogegen kein Trost zu finden wäre,« sprach Gabriele im Verlauf des Gesprächs zu Adelbert. »Trennung, Tod des Geliebten, sind zwar ein unnennbares[287] Weh, das schwache Herz möchte darüber brechen, wenn nicht die Liebe selbst und der schöne Hoffnungsstrahl von jenseits es hielten, aber dieser Schmerz reicht doch nicht an jenen, alle Hoffnung, sogar jeden Wunsch nach Trost vernichtenden, für dessen Möglichkeit ich zurückbebe. – Er heißt Unwerth des Geliebten, Verachten dessen, was wir dennoch lieben müssen. – Nein, die menschliche Natur kann dieß Entsetzliche nicht ertragen!«

Todtenblässe überzog bei diesen Worten Adelberts Gesicht, das er im nächsten Moment, krampfhaft zitternd, mit beiden Händen verhüllte. »Und doch, mein Fräulein! und doch,« stammelte er fast unhörbar. »Sie haben in zwei Worten die traurige Bestimmung meines Daseyns ausgesprochen. Lieben und Verachten! Die menschliche Natur erträgt es wohl, Sie sehen, ich lebe noch.«

Gabriele hätte vor Reue darüber vergehen mögen, daß sie ihn, den sie beruhigen und trösten zu wollen sich bewußt war, so unvorsichtig verletzt hatte. Sie fand und suchte kein Wort zu ihrer Entschuldigung, aber Adelbert hob den[288] getrübten Blick zu ihr auf und las in ihrem schimmernden Auge innigere Theilnahme, schmerzlichere Reue, als sie mit aller Beredtsamkeit ihm hätte ausdrücken können. Sein Herz öffnete sich zum erstenmal wieder nach langer Zeit im Ergusse des reinsten Vertrauens; auch sie fand allmählig herzliche beschwichtigende Worte für ihn, und bald vernahm sie die Geschichte seiner glücklich verlebten früheren Zeit und die Ursache des jetzt ihn zerstörenden Kummers, die er mit der, allen Unglücklichen eignen Umständlichkeit ihr vertrauend mittheilte.


Früh verwaiset, wuchs Adelbert im Schlosse seines edlen Oheims auf, der das hoffnungsvolle Kind mit wahrhaft väterlicher Liebe erzog. Zwei Knaben und ein jüngeres Mädchen, Herminie genannt, theilten mit ihm die Stunden des Unterrichts wie die der Erholung. Sie waren die Kinder einer benachbarten Familie, welche durch[289] enge Bande der Freundschaft mit seinem Oheim von jeher vereinigt, fast immer in seiner Nähe lebte. Adelberts Auge strahlte noch einmal im Wiederschein der untergegangnen Sonne seines Frühlingslebens, als er jetzt erwähnte, wie schon in früher Jugend die innigste Liebe zu Herminien ihn zu allem Guten entstammte, wie er stets sich auszuzeichnen strebte, um ihr zu gefallen, und wie auch sie mit unverkennbarer Zärtlichkeit an ihm hing. Sein Oheim und Herminiens Eltern blickten lächelnd auf die frühe Liebe ihrer Kinder, und bauten darauf goldne Pläne für ihre Zukunft. »O wäre ich damals gestorben!« rief Adelbert mit schimmernden Augen, »damals in der Morgenröthe des Lebens, die den herrlichsten aller Tage schien verkünden zu wollen, der jetzt mir untergegangen ist in Nacht und Graus.«

Die Kinder wuchsen zum Jünglingsalter heran; mit diesem erschienen Jahre der Trennung, aber diese sollte ja den Zeitpunkt ewiger Vereinigung herbeiführen. Adelbert fühlte die Nothwendigkeit, sich erst für das Leben zu rüsten, sich Eigenschaften zu erwerben, die ihn einst berechtigen könnten,[290] nach dem Preise zu streben, der in rosiger Glorie vor ihm stand. Auch lockte ihn, den in der Einsamkeit erzognen Jüngling, die ferne bunte Welt mit alle dem magischen Reiz, durch welchen sie jeden Unerfahrnen blendet, und so bestieg er, ziemlich gefaßt, den Reisewagen, der ihn nach einer entfernten Universität führen sollte, während Herminie in wildem Schmerz zu vergehen glaubte. Ein Briefwechsel mit dem Geliebten, zu welchem Eltern und Oheim, nach der feierlichen Verlobung des jungen Paars, ihre Einwilligung gegeben hatten, blieb ihr einziger Trost.

So vergingen drei Jahre. Adelbert verlebte sie unter Arbeit, Sehnsucht und Hoffnung. Herminiens Andenken hielt ihn hoch über den Strudel wüster Verwilderung, in welchem viele seiner jugendlichen Genossen neben ihm versanken. Herminiens Briefe zu beantworten, sein ganzes Herz ihr offen darzulegen, war die höchste Wonne seines Lebens. Er fühlte ganz den hohen Zauber, mit der diese Art, uns das Geliebte zu vergegenwärtigen, zuweilen sogar das Glück der wirklichen Gegenwart besiegt. Auge in Auge, macht[291] die Lippen verstummen, aber in der einsamen Beschäftigung mit einem geliebten Wesen reihen sich die Worte zum Ausdruck unsrer innigsten Gefühle von selbst an einander, und wir vermögen zu schreiben, was wir nimmermehr sagen könnten.

Dennoch nannte Herminie Adelberts Briefe oft kalt und liebeleer, und obgleich sie von allem, was ihn nur auf die entfernteste Weise berührte, unterrichtet zu werden verlangte, so konnte sie doch auch oft darüber zürnen, daß er fähig wäre, irgend etwas anders zu erwähnen als seine Liebe. »Du kannst Mannigfaltigkeit in deine Briefe bringen,« schrieb sie ihm, »du bist ein Mann, du lebst in der Welt. Ich Einsame lebe nur in dir, ich kann nichts denken als dich, darum vergieb, wenn ich langweilig dir nur von dir schreibe; du bist ja meine Welt, von der ich jetzt nur träumen darf.«

Endlich war der Zeitpunkt ganz nahe, in welchem Adelbert zu seinem Oheim zurückkehren sollte, um wenige Wochen später mit Herminien auf ewig vereint zu werden. Mit kaum zu mäßigender Ungeduld sah er dem unfernen Tage seiner[292] Abreise von der Universität entgegen, als ganz unerwartet ein vom General abgesandter Eilbote erschien, mit dem Auftrage, ihn zur möglichsten Beschleunigung seiner Rückkehr in die Heimath zu mahnen. Dieser an sich höchst willkommne Befehl seines Oheims überraschte dennoch Adelberten, besonders da der in höchster Eil abgesandte Bote ihn durchaus nichts näheres darüber zu sagen wußte. Adelbert eilte rastlos Tag und Nacht, bis er das Schloß seines Oheims erreichte. Dort fand er den edlen Greis gerüstet, um in den Kampf gegen die Feinde zu ziehen, deren Horden damals aufs neue unser Vaterland zerstörend zu überschwemmen drohten. Ob Adelbert ihn auf diesem Zuge begleiten würde, blieb nicht die Frage eines einzigen Augenblicks; der General hatte schon alles dazu vorbereitet, der nächste Morgen war zur Abreise bestimmt, und beiden Liebenden blieb nur dieser einzige Abend zum Wiedersehn und zum Scheiden.

Schweigend betrachteten sie einander in der Stunde des Wiedersehns. Mit süßem Erröthen schlug Herminie die langen seidnen Augenwimpern[293] nieder vor den liebeglühenden Blicken des hoch und schön vor ihr stehenden, zum Mann heranblühenden Jünglings, während dieser, verloren in Entzücken, den unbegreiflichen Zauber anstaunte, welchen drei kurze Jahre hier geübt hatten. Die Stunde der Trennung schlug unter den heiligsten Schwüren ewiger Liebe in Noth und Tod. Bewußtlos sank Herminie aus Adelberts Armen in die ihrer Mutter, während er die glänzenden Augen seitwärts wendete, indem er sein Roß bestieg, damit keiner der alten Krieger, die mit ihm und seinem Oheim auszogen, die still über seine Wange hinrollende Thräne gewahren möge.

Von neuem begann der Briefwechsel der Liebenden. Herminie lebte nur mit der Feder in der Hand, Adelbert verwandte für sie jede freie Minute, bis die immer steigenden Unruhen des Krieges alle Möglichkeit einer freien Mittheilung vernichteten. Unglück häufte sich auf Unglück, Jammer auf Jammer.

Nach der Schlacht bei E..... blieb Adelbert unter den Todten liegen, und ward nur durch ein halbes Wunder vom lebendig Begrabenwerden[294] gerettet. Als Kriegsgefangner wurde er in ein Hospital gebracht. Seine Jugendkraft ließ ihn die Behandlung der französischen Wundärzte überleben. Nach abgeschloßnem Frieden erschien sein Oheim selbst, ihn abzuholen. Traurig wandten sich beide der Heimath zu, aber die Hoffnung, Herminien dort zu finden, glänzte wie ein heller Stern dem alten wie dem jungen Krieger durch die dunkle Nacht der Trauer, die jede andre Hoffnung ihnen verhüllte. »Herminiens sanfte Hand wird unsre Wunden heilen, sie wird künftig dich führen, dich stützen, armer Adelbert,« sprach der General, wenn er den Gelähmten sich mühsam an Krücken forthelfen sah. »Jetzt in einer Stunde sehen wir sie wieder,« sprach er endlich.

Aber sie fanden sie nicht. Ihr Schloß war öde und leer, ihre Eltern waren mit ihr, aus Furcht vor den auf dem flachen Lande sich immer weiter verbreitenden Unruhen des Krieges, in eine ziemlich entfernte Residenz gezogen, man wußte nicht, ob und wenn sie wiederkehren würden.

Nach wenigen, der nothwendigen Erholung vergönnten Stunden, saßen Adelbert und der General[295] wieder im Wagen auf dem Wege zu ihr. Kein Zweifel an Herminiens Treue kam in ihnen auf. Adelbert dachte nur ihre Freude, ihn lebend wieder zu sehen. Daß der Arm, den er noch in der Binde trug, der gelähmte Fuß, das bleiche Gesicht, die nach der langen Krankheit nur spärlich es umwehenden Locken Herminien von ihm zurückscheuchen könnten, fiel ihm nicht ein. »Sie wird dich um so mehr lieben, jemehr du ihrer Hülfe bedarfst,« sprach der General, »denn die Weiber sind alle Engel des Trostes in Menschengestalt, sie sind am glücklichsten, wenn sie etwas zu pflegen und zu heilen haben.«

Sie kamen an. Wie wenig glich dieses Wiedersehen dem vorigen! Herminie erbebte, sichtbar erschrocken über Adelberts Anblick; sie wollte sich überwinden, man sah deutlich, wie sie sich deshalb Gewalt anthat, aber sie vermochte es doch nicht, den Entstellten anders als mit heißen Thränen, mit bittern Klagen über dieses Geschick zu empfangen, und keine Sylbe verrieth ein frohes Gefühl über sein wunderbar gerettetes Leben. Auch Adelbert fand Herminien verändert. Zwar[296] stand sie im sorgsam gewählten schimmernden Putz fast reizender noch vor ihm, als da er sie verließ, aber ihre Erscheinung hatte etwas fremdartiges, etwas theatralisches angenommen, wovon bei dem einfachen Landmädchen sonst keine Spur zu finden gewesen war, und Tanzmeister-Künste suchten die Stelle der natürlichen, alle Herzen gewinnenden Anmuth zu ersetzen, welche ehedem jede ihrer Bewegungen begleitet hatte.

Adelbert ward tief betrübt über diese, in so kurzer Zeit aus dem Geräusch des Stadtlebens hervorgegangnen Verwandlung der Vielgeliebten, aber er blieb doch noch immer ihr eigen, und tröstete sich mit schönen Hoffnungen von der Zukunft. »Gewiß sie kehrt zurück, gewiß sie wird wieder, was sie war, wenn wir erst dem Gewühl glücklich entgangen sind, welches jetzt durch seine Neuheit sie betäubt.« Mit diesen Worten suchte er oft sich und seinen Oheim zufrieden zu sprechen. Plötzlich aber zerstörte Herminiens Mutter jede Hoffnung, indem sie mit der Erklärung hervortrat, daß ihre Pflicht ihr nicht erlaube, die junge schöne Herminie für ihre ganze Lebenszeit zur[297] Krankenwärterin auf einem Dorfe zu verurtheilen, daß Herminie selbst ihre Kraft einem solchen Opfer nicht gewachsen fühle, und daß sie deshalb sich gezwungen sähe, das früher unter günstigern Aussichten gegebne Versprechen zurückzunehmen. Adelbert verlor bei dieser Erklärung alle Besinnung, aber der General bestand darauf, sie von Herminien selbst bekräftigen zu hören, und als dieß, obgleich unter Thränenströmen und mit vielen schönen Worten, dennoch wirklich geschah, da blieb dem edlen Greise nichts weiter übrig, als seinen unglücklichen Adelbert an seine väterliche Brust zu nehmen und mit ihm hinaus zu fahren in die Welt. Wenige Wochen darauf kam die Nachricht, daß Herminie einem der Angesehensten aus Napoleons Gefolge ihre Hand gegeben habe, und sich mit ihm auf dem Wege nach Paris befinde.


Nicht in so zusammengedrängter Kürze, sondern in wechselndem Gespräch, belebt durch mehrere[298] Nebenumstände, die hier wegbleiben mußten, hatte Adelbert die Geschichte seiner Leiden Gabrielen anvertraut. Vertieft in klagender und tröstender Rede und Gegenrede, mochten beide wohl lange neben einander gesessen haben, ohne den Blick ins Freie zu wenden, als ein heftiger Donnerschlag sie plötzlich aufschreckte. Ein schweres Gewitter war mit der in Gebirgen nicht ungewöhnlichen Schnelle, von ihnen unbemerkt, heraufgezogen, und entlud sich jetzt gerade über ihren Häuptern in schmetternden Donnerschlägen, in unzähligen, einander durchkreuzenden, gelben, zischenden Blitzen. Heulender Sturm durchtosete die Wipfel der Bäume, laut krachte der Fall einzelner Tannen durch den Wiederhall des Donners, bis endlich, gleich einem Wolkenbruch, mit wildem Brausen herabströmender Regen den allgemeinen lauten Aufruhr der Natur allmählig beschwichtigte.

»Und unsre Freunde oben auf dem Gipfel des unwirthbaren Berges, ohne alles Obdach, dem Zorn der Elemente ausgesetzt!« rief klagend Gabriele. »Gewiß sind sie längst im Schutz einer[299] Bauerhütte am Fuße des Berges,« erwiederte tröstend Adelbert, »das Gewitter konnte sie auf der Höhe, auf welcher sie sich befanden, nicht so hinterrücks überschleichen als uns. In der That,« setzte er nach einem Blick auf seine Uhr etwas verlegen hinzu – »in der That, obgleich ich die Möglichkeit davon nicht begreife, aber ich muß glauben, daß alle längst zu Hause angelangt sind und nun um uns in der größten Sorge schweben, denn die Mittagsstunde ist eigentlich schon lange vorüber. Die engelgleiche Güte, mit der Sie, mein Fräulein! einem Unglücklichen den Trost freundlicher Theilnahme gewährten, hat uns die Stunde vergessen lassen. Wir sind viel länger hier geblieben, als wir es dachten oder eigentlich sollten.«

Gabriele blickte ängstlich hinaus ins Freie, der Regen strömte zwar minder heftig, aber um so eindringender, Wege und Fußpfade glichen rieselnden Bächen. Sie sprach kein Wort, aber Adelbert bemerkte nur zu deutlich, wie der Gedanke an Frau von Willnangen und Augusten sie mit banger Sorge erfüllte. »Was fangen[300] wir nun an?« seufzte sie endlich mit einem Blick auf ihre seidnen Schuhe. »Der Arzt hat mich besonders vor aller Erkältung gewarnt.« »Ach! wie fröhlich, wie leicht, liebes Fräulein! hätte ich Sie ehemals auf meinen Armen hinunter getragen!« rief Adelbert, und blickte traurig und finster auf seine Krücke. »Jetzt, ich muß es Ihnen leider gestehen, jetzt könnte ich Sie auf diesen schlüpfrig gewordnen Pfaden, ohne eine festere Stütze als diese, nicht einmal hinunter begleiten, selbst wenn der Regen nachließe. Hätte ich es ahnen können, daß ich noch heute die erste Stunde des Trostes, seit ich alles verlor, so bitter bereuen würde! Aber so will es das jammervolle Loos, das mir zu Theil ward,« setzte er im finstersten Unmuth hinzu.

»Briccone maledetto! Verwünschter Taschenspieler! Damn'd Juggler!« erscholl es in diesem Augenblick dicht neben ihnen, und eine wunderliche ganz durchnäßte Gestalt schlüpfte in den Tempel hinein, ohne die schon Anwesenden sogleich zu bemerken, warf dann einen ungewöhnlich dicken keulenartigen Stock von sich und arbeitete[301] darauf mit Zähnen und Nägeln an dem Knoten eines Bandes, welches ein kleines braunes Päckchen zusammen hielt. Dabei schimpfte der neue Ankömmling in einem weg und in verschiednen Sprachen, bald auf den Knoten, bald auf den Regen.

Adelbert und Gabriele betrachteten, höchst verwundert, die sonderbare Gestalt. Nach seinem Aeußern zu urtheilen, hätte man den Fremden für einen Taschenspieler oder für den Pagliasso einer herumziehenden Seiltänzerbande halten können, und doch lag etwas in der Art, mit der er Adelbert und Gabrielen, ihrer gewahr werdend, begrüßte, das eine feinere Bildung verrieth. Seine vom Regen triefende Kleidung bestand aus einer kurzen Jacke und weiten wunderlichen Pantalons von weißem buntstreifigem Leinenzeuge, in Schuhen von gelbbraunem Leder, Kamaschen von Nanking und einem großen Strohhut mit breitem Rande und flachem Kopf. Eigentlich war er ziemlich treu nach Ebels Vorschrift für Reisende in der Schweiz gekleidet, was aber hier in Böhmen und zu seiner kurzen gedrängten Gestalt[302] sich sehr lächerlich ausnahm, besonders da er wenigstens funfzig Jahre alt zu seyn schien.

Eines der gewöhnlichen Gespräche, wie man sie in ähnlichen Fällen zu führen pflegt, entspann sich jetzt zwischen Adelbert und dem Fremden, der dabei unermüdet, aber mit allen Zeichen der höchsten Ungeduld, daran arbeitete, den Knoten zu lösen, welchen er dabei immerfort und in allen möglichen europäischen Sprachen halb laut vermaledeite.

»Mercè di Dio!« rief er endlich, denn der Knoten war plötzlich aufgegangen. »Mais voyez, monsieur! sehen Sie nur, ob es nicht zum Verzweifeln war,« sprach er zu Adelberten, der verwundert auf den Inhalt des Päckchens blickte; »Vraiement c'étoit fait pour enrager. Gestern lasse ich mir von einem herumreisenden Physiker im Alexandersbad lehren einen Knoten zu schlingen, der fester als alle Schlösser ist, weil er nur der Hand des mit dem Geheimniß Bekannten weicht, ich knüpfe meinen Regenmantel, my Patent cloak, den ich immer mit mir trage, auf diese Weise zu, und jetzt, da mich der Platzregen[303] überrascht, habe ich Unglückseliger die Lösung des Knotens vergessen. Ich habe einen Mantel in der Hand, mit dem ich unter dem Staubbach hingehen könnte, ohne daß mir ein Tropfen Wassers an die Haut käme, und muß mich durchregnen lassen. No it is too bad, too bad; es ist zu toll.«

Während der Zeit zog er den Regenmantel von dünnem durchsichtigem Wachstaffet an, setzte eine gleiche von allen Seiten herabhängende Kapuze auf den Kopf, und sah in dieser Vermummung noch viel abentheuerlicher aus als zuvor, fast wie ein in Bernstein inkrustirter Käfer. »Könnte ich mich nur auf das Geheimniß des heillosen Knotens wieder besinnen,« murmelte der Fremde vor sich hin, ich muß es doch zufällig getroffen haben, weil er aufsprang.« Dabei arbeitete er wieder aufs emsigste und mit großer Anstrengung an dem dicken Stock, den er beim Eintritt weggeworfen, hernach aber wieder hervorgesucht hatte, bis es ihm gelang, ihn auseinander zu schrauben und in mehrere Stücke zu zerlegen. »Oserois-je Madame, Ihnen diesen [304] Patent Umbrello zum Heimgehen anzubieten?« sprach er zu Gabrielen, indem er ihr einen sehr zerbrechlichen Regenschirm, ebenfalls mit Wachstaffet überzogen, darreichte, den er aus einem Theil seines Stocks zusammengesetzt hatte. »Avouez, que c'est l'invention la plus belle, la plus commode, enfin es giebt nichts bequemers,« sprach er weiter, indem er aus vier dünnen Messingstäbchen und einem Stückchen Leinen eine Art von kleinem Feldstuhl zusammenfügte und Gabrielen nöthigte, sich darauf zu setzen. »Sehen Sie,« sprach er mit sehr großer Selbstzufriedenheit, »so trage ich in diesem Stock gleichsam ein kleines Haus mit mir, das mir selbst auf den höchsten Bergen Schutz gegen die Witterung und einen bequemen Ruhesitz gewährt. Das Futteral, welches Schirm und Sessel beherbergt, dient mir obendrein nicht nur zum Wanderstab, sondern auch zum Fernrohr, wenn ich die dazu gehörigen Gläser hineinschraube, und ich denke nur noch auf eine Vorrichtung, um diesen Stuhl zu einem vollständigen Fauteuil zu vervollkommnen.«[305]

Der Regen hörte endlich auf und der wunderliche Fremde erbot sich auf die gutmüthigste Weise, Adelberten auf dem Wege nach Karlsbad zum Führer zu dienen. Dabei bedauerte er nur, daß diesem nicht das gelähmte Bein bis an das Knie abgenommen sey, ohnerachtet ihm Adelbert wiederholt versicherte, daß er hoffe, nicht zeitlebens lahm zu bleiben. »N' importe,« sprach der Fremde, »ich könnte Ihnen ein ganz vortreffliches hölzernes Bein verschaffen, Sie sollten damit gehen, reiten, sogar tanzen können, il n' y a rien de plus beau et de plus commode au monde, indessen kommen Sie nur, ich will Sie gewiß nicht fallen lassen.« Adelbert dankte ihm lächelnd, und äußerte zugleich die Besorgniß, daß seine Begleiterin in ihren seidnen Schuhen wohl schwerlich würde den Weg zu Fuß machen können. »Ah Cospetto di bacco!« rief der Fremde, »warum habe ich nicht ein einzigs Paar der Pattens der Dutchess of Devonshire bei mir! Auf diesen zierlichen Kothurnen könnte das Fräulein gerade durch einen Bach gehen, ohne naß zu werden; sie sind die allervortrefflichste Erfindung« –[306] »Ich erkenne höchst dankbar Ihre Güte, mit der Sie wünschen mir helfen zu können,« unterbrach ihn Gabriele. »Da es indessen auf diese Weise nicht möglich ist, so wage ich es, Sie zu bitten, die Meinigen bald möglichst zu beruhigen, die gewiß um mich in der größten Besorgniß sind. Haben Sie die Gefälligkeit, Frau von Willnangen im steinernen Hause auf der Wiese aufzusuchen, und ihr zu sagen, daß Gabriele von Aarheim« –

»Aarheim? Sie sind ein Fräulein von Aarheim? Aarheim? von Schloß Aarheim?« rief im größten Entzücken der Fremde, »mais permettez que je vous embrasse, mon aimable petite Cousine, ich bin Ihr Vetter, Ihr nächster Verwandter, Moritz von Aarheim, Ihr Vater und ich sind Cousins à la mode de Bretagne. Ihr Aelter-Vater war der Bruder meines Großvaters. Haben Sie denn nie von mir sprechen gehört?«

»Mein Vater lebt so fern von der Welt,« stotterte Gabriele etwas erschrocken. »Es ist wahr, das thut er,« erwiederte Moritz von Aarheim, »ich habe ihm einmal vor vielen langen Jahren[307] geschrieben, er hat mich aber keiner Antwort gewürdigt. Mais je ne lui porte pas rancune, seine Tochter ist die Krone unsers alten Geschlechts, and I forgive him. Ich will ihn besuchen, den alten Herrn, ich habe mich schon nach ihm erkundigt, ich höre, er beschäftigt sich mit alchymistischen Untersuchungen der Färbestoffe. Ich habe die göttlichsten Vorschriften zum Färben aus England mitgebracht, auch aus der Türkei habe ich deren mir zu verschaffen gewußt, er soll sie alle haben, er hat zwar auf meinen Brief nicht geantwortet, but I do not care for it, er soll sie doch haben.«

So schwatzte Moritz von Aarheim noch lange fort, und legte dabei seine Freude über Gabrielen in fast allen lebendigen Sprachen an den Tag, bis ihm plötzlich der Nachtheil einfiel, der aus diesem langen Verweilen in der feuchten Luft für Gabrielens Gesundheit entstehen konnte. So schnell als möglich eilte er nun fort, auch währte es nicht lange, bis der General Lichtenfels und Ernesto mit einer Sänfte für Gabrielen im Tempel[308] anlangten, um das dorthin vom Sturm verschlagne Paar heim zu geleiten.


Gabriele fand bei ihrer Nachhausekunft den neuen Vetter so eingewohnt, als wäre er Zeit seines Lebens der vertrauteste Freund der Frau von Willnangen gewesen. Alle Tische und Stühle in ihrem Zimmer waren mit kleinen Modellen und Zeichnungen von neuen Erfindungen belastet, deren Erklärung und Nutzen er dem ältern Herrn von Wallburg auf das eifrigste zu demonstriren suchte. Die Damen und Leo hielten sich dabei in einiger Entfernung, um nicht an dem Streite Theil zu nehmen, der sich zwischen jenen beiden schon entsponnen hatte, denn Herr von Wallburg war der abgesagteste Feind aller Neuerungen. Gabrielens Erscheinung machte indessen dem Zwist ein Ende. Moritz von Aarheim ließ alles im Stich, um seiner neugefundenen Kusine unter einem halben Dutzend Fläschchen mit Präservativen[309] gegen Erkältung die Auswahl anzubieten, und suchte auf alle Weise sie zu bewegen, wenigstens aus einem derselben ein paar Tropfen zu nehmen. Sein zudringliches Bitten hatte zwar etwas ungemein Lästiges, so wie im Grunde auch sein ganzes übriges Betragen, aber es lag auch wieder etwas so ausgezeichnet Gutmüthiges selbst in dieser Zudringlichkeit, daß es Gabrielen wirklich schwer ward, ihm seinen Wunsch nicht zu gewähren.

Mehr aber als alles übrige war ihr der vertrauliche Ton unangenehm, zu welchem er als ein naher Verwandter gegen sie berechtigt zu seyn glaubte, und es ward ihr beinah unmöglich, sich daran zu gewöhnen, noch unmöglicher, ihn zu erwiedern. Nie zuvor war es ihr eingefallen, daß sie, außer der Gräfin Rosenberg und Aurelien, noch Blutsverwandte in der Welt haben könne, nie hatte sie solche nennen hören, und nun kam gerade eine der lächerlichsten Erscheinungen und wollte Familienverbindungen geltend machen, welche sie kaum im Stande war zu begreifen.

Den durchnäßten Schweizeranzug hatte Herr[310] von Aarheim zwar abgelegt, und alles, was er jetzt trug, war wirklich so neu und elegant als möglich, aber er sah deshalb nicht minder abenteuerlich aus. Seine Kleidung war wie seine Sprache, allen Nationen abgeborgt; kein Stück seines Anzugs paßte zu den übrigen, alle aber verdankten der aller neuesten und dabei barocksten Erfindung ihren Ursprung. Auch seine Bewegungen hatten etwas unstätes, das mit seinen grauen Haaren und seiner ganzen Gestalt auf eine widerliche Weise kontrastirte. Uebrigens waren die Züge seines Gesichts nicht unangenehm und wurden zuweilen durch einen gewissen Ausdruck von treuherzigem Wohlwollen sogar recht leidlich. Da er im Gespräch immer von einem Gegenstand zu dem andern überging, ohne sich und andern zum gehörigen Auffassen eines einzigen Zeit zu lassen, so war sein Umgang höchst ermüdend, und der ganze Kreis wäre seiner gewiß sehr überdrüssig geworden, wenn er längere Zeit in Karlsbad verweilt hätte. Aber er eilte schon am dritten Tage zum kunstliebenden Scharfrichter nach Eger, den er durchaus sprechen zu müssen[311] behauptete, obgleich er sich augenscheinlich höchst ungern so schnell von Gabrielen trennen mochte. Er verließ sie mit der Erklärung, daß er sie auf Schloß Aarheim wieder zu sehen gedenke, und wollte sich durchaus nicht daran kehren, daß ihr Vater keinen Besuch annähme. Er war auf jeden Fall überzeugt, daß er ihm mit den englischen und türkischen Farbengeheimnissen willkommen wäre, wenn jener auch ihre nahe Verwandtschaft bei der Annahme seines Besuchs nicht in Betracht ziehen wollte. Uebrigens hielt ihn ein innres Zartgefühl ab, Gabrielen zu gestehen, daß er des Freiherrn nächster Agnat und der künftige Besitzer von Schloß Aarheim sey, der als solcher doch einigermaaßen sich berechtigt glauben konnte, bei seinem Verwandten, den er nie beleidigt hatte, vorgelassen zu werden.


Ganz nahe den die Gesellschafts-Säle von Karlsbad umgebenden Alleen steht eine der Madonna[312] geweihte kleine Kapelle zwischen hohen Bäumen und dichtem Gebüsch. Die Mädchen und Frauen der Umgegend schmücken das in ihr wohnende freundliche Muttergottesbild mit dem Schönsten, was sie nur aufzubringen wissen. Nie mangelt es ihm an strahlenden Flittern, an schönen Bändern und Perlen. Frische Blumensträuße duften jeden Morgen auf dem kleinen Altar, so lange die Jahreszeit dieß vergönnt, und an jedem Abend werden helle Kerzen vor dem Bilde angezündet, von denen oft ein funkelnder Strahl durch das dichte Laub bis mitten in die fröhlichen Kreise der vornehmen Welt den Weg findet, und auch da manches stille fromme Herz mit heiliger Sehnsucht erfüllt. Sobald der Abend hereinbricht, bevölkert sich der kleine Betstuhl vor dem Bilde mit Andächtigen; größtentheils sind es Weiber und Mädchen aus den umliegenden Dörfern, die von der Arbeit kommen und zuvor an dieser heiligen Stätte ihr Abendgebet verrichten, ehe sie heimkehren.

Auch Gabriele weilte oft und gern bei der kleinen Kapelle. Wenn frühere Schmerzen sich[313] wieder regten, wenn Ergebung, Hoffnung und die schwer errungne Ruhe des Gemüths im Geräusch ihr fremder werden wollten, dann flüchtete sie sich hierher und kehrte nach kurzem Verweilen immer mit einer Brust voll Frieden zu ihren Umgebungen zurück. Die unerwartete Ankunft ihres Vetters, die unruhige Bewegung, in welche alles um sie her während der Zeit seines Dableibens gerieth, und nun zuletzt noch sein sehr tumultuarischer Abschied und seine Abreise machten ihr am Abende nach letzterer eine einsame Stunde höchst wünschenswerth. Ohnehin waren dießmal die Stunden nach Sonnenuntergang zu der jüngsthin verabredeten allgemeinen Versammlung in einem der Säle bestimmt, und Gabriele wußte wohl, daß sie alle ihre Freunde beunruhigen und betrüben würde, wenn sie nicht dabei erschien. Daher flüchtete sie sich eben, als die Sonne hinter die Felsen zu sinken begann, zu dem Ort, an welchem sie schon oft Trost und Beruhigung fand, um sich für das Geräusch der nächsten Stunden in ruhiger Stille zu erholen, zu stärken und zu sammeln. Sie traf nur eine einzige, auf ihren[314] Knien in tiefer Andacht hingesunkene Beterin in der Kapelle, und schlich sich leise an die andre äußre Ecke des Betstuhls, um durch ihre Gegenwart so wenig als möglich störend zu werden.

Lange hatte sie sich nicht so durchaus beklommen, so recht innerlich betrübt gefühlt als heute. Durch Adelberts Erzählung seines unwürdigen trüben Geschicks war nicht nur ihr wärmstes Mitgefühl in Anspruch genommen worden, es hatte solche auch alle ihre eignen Schmerzen und Sorgen wieder angeregt. Ottokars Bild stand seitdem lebendiger als je wieder vor ihrem Geist, begleitet von einer düstern bangen Ahnung, die ihr weder Rast noch Ruhe ließ, und sie um so mehr beängstigte, je undeutlicher und verworrner die Vorstellungen waren, durch welche ihr aufgeregtes Gemüth sich mit Grausen erfüllte.

In der Kapelle ward ihr indessen bald ruhiger zu Muthe. Die Stille des Orts, die Abendsonne, welche zwischen dem hohen Gezweige der ihn umgebenden Bäume hindurch ihre goldnen Lichter auf das Marienbild streute, stimmten sie zu süßer seliger Wehmuth. Bald erleichterten Thränen[315] ihr gepreßtes Herz, sie weinte recht herzlich, ohne doch eigentlich zu wissen, wem ihre Thränen flossen; aber sie fühlte, daß sie ihr unendlich wohl thaten.

»Gelobt sey Jesus Christus!« Mit dieser in Karlsbad gewöhnlichen Begrüßung hörte sie sich plötzlich von der Frau angeredet, die vorhin in der Kapelle gebetet hatte und jetzt dicht neben ihr stand. »In Ewigkeit!« erwiederte Gabriele und stand auf, um sie an sich vorbei gehen zu lassen; aber die Frau ging nicht, sondern begrüßte Gabrielen nochmals mit dem zweiten, in Karlsbad üblichen Gruß: »Gott schenk Euer Gnaden die Gesundheit!«

»Ich danke euch, gute Frau!« sprach Gabriele, und blickte etwas verwundert auf. Ihr Auge traf in das fromme, stille, halb erloschne Auge eines uralten, ärmlich, aber höchst reinlich gekleideten Mütterchens mit schneeweißen, glatt gekämmten Haaren, das mit unaussprechlicher Freundlichkeit sie betrachtete. »Ihr habt recht andächtig gebetet, fromme alte Mutter! euch muß Gott erhören; gedenkt auch meiner künftig in[316] eurem Gebete!« mit diesen Worten reichte Gabriele der Alten eine Gabe.

»Das will ich,« antwortete die Frau in einer diesen Gegenden fremden Mundart, »recht herzlich will ich für Sie beten, aber nicht um ihres Geschenks willen. Doch nehme ich es gern, Sie sind reich und gut, und ich will meinen Urenkelchen eine Freude damit machen.«

»Für diese Urenkelchen habt ihr auch wohl hier gebetet?« fragte Gabriele.

»Alle Tage bete ich für sie und segne sie,« war die Antwort; »aber nicht hier, hier bete ich weder für mich noch die Meinen, nur für Einen, den ich nicht einmal zu nennen weiß. Aber Gott kennt ihn und hat den Nahmen in sein Buch geschrieben; Er weiß, wen ich in meiner Einfalt meine, und wird mich wohl erhören. Liebes gnädiges Fräulein!« fuhr die Alte fort, indem sie sich neben Gabrielen setzte, »halten Sie mirs zu gut. Als ich Sie vorhin so jung, so schön, so vornehm und so reich und doch so herzlich betrübt weinen sah, da konnte ich nicht anders, ich mußte mich zu Ihnen stellen und mit Ihnen zu reden[317] suchen. Glauben Sie mir nur, Gott wird seinen Engel senden, Sie zu trösten, wenn es Zeit ist, bleiben Sie nur in der Geduld und in der Hoffnung. Hat er ihn doch auch mir gesendet, als meine Margarethe gestorben war und ich deshalb zu meinem Sohn nach Böhmen wandern mußte. Da blieb ich in einem wild fremden Lande, von aller Welt verlassen, in Todesnöthen auf freiem Felde liegen, rings um war es Nacht und kalt, ich konnte die Lippen nicht mehr regen und betete nur noch innerlich: »Vater unser, der du bist im Himmel,« und er hörte mich doch und sandte den Retter.«

Freudiges Schrecken durchrieselte Gabrielen bei diesen Worten; sie fragte, die Frau antwortete, und bald fand es sich, daß es so sey, wie sie es geahnt hatte. Es war die nehmliche alte Mutter, welche Ottokar vor ungefähr Jahresfrist vom Verschmachten gerettet hatte. Mit heißen Freuden-Thränen fiel Gabriele ihr um den Hals.

»Er ist Ihnen wohl nahe verwandt?« fragte die Frau.

»Ja wohl verwandt! nahe verwandt!« erwiederte[318] Gabriele,« die nassen Augen gen Himmel gerichtet.

»Das hätte ich gleich sehen können, daß Sie Schwester und Bruder sind, Sie sind beide so gut und so schön. Sagen Sie Ihrem Bruder doch, wenn Sie ihn sehen, wie seine Wohlthat mir Segen gebracht hat, ich denke, es muß ihn freuen, wenn er es hört. Ueberall fand ich weiterhin gute Seelen, die sich einer armen alten Mutter annahmen, und so habe ich von seinem Gelde so viel erübrigt, daß ich meinem Aloys eine Kuh kaufen konnte. Und nun lebe ich bei ihm und meinen Enkeln und Urenkeln dort unten im Dorfe. Aber alle Abende steige ich hier herauf, sobald es Vesperzeit wird, im Winter und Sommer, im Regen, im Schnee, im Sonnenschein, nichts hält mich ab, denn ich habe ein Gelübde gethan und das will ich halten, so lange Gott mir die Kräfte verleiht. Hier bete ich immer einen Rosenkranz für meinen Erretter und empfehle ihn dem Schutz aller lieben Heiligen, besonders der heiligen Jungfrau, denn so habe ich es gelobt. Lieber Gott, denke ich, er ist zwar[319] ein Engel an Güte, aber doch ein junger, reicher, vornehmer Herr. Da kann es wohl geschehen, daß solch ein junges Blut mitten im Vergnügen einmal das Beten vergißt, und mein einfältiges Gebet kommt doch aus treuem Herzen, das muß ihm frommen, wo er auch seyn mag.«

»Wo er auch seyn mag! wo er auch seyn mag! O gute Mutter, vergiß ja nie dein Gelübde und gedenke auch meiner, wenn du für ihn den Himmel anrufst!« Mit diesen, in hoher Bewegung ausgesprochnen Worten drückte Gabriele der Alten ihr Taschenbuch mit Bankzetteln in die Hand und eilte mit verhülltem Gesicht ihrer Wohnung zu.

Jetzt war es ihr unmöglich geworden, noch heute den Abendzirkel zu besuchen, und Frau von Willnangen, der sie mit wenigen Worten das Vorgefallne mittheilte, war auch sehr bereit, sie zu entschuldigen. Allein in ihrem Zimmer gab sie sich ganz den Erinnerungen hin, welche der Anblick jener Frau aufs neue belebt hatte. Jede in Ottokar's Nähe verlebte Stunde ging in ihrem Geiste vorüber, vor allen die erste, in der sie ihn sah, ohne[320] ihn nennen zu können, und dann die letzte entscheidende.

Die Sonne war untergegangen, tiefe Dämmerung, gemildert durch das Licht des eben aufsteigenden Mondes, erfüllte das Zimmer; noch immer saß Gabriele sinnend und im Aeußern regungslos da, obgleich sie innerlich bei jedem auch noch so leisem Geräusch zusammenzuckte, denn ihr war als dürfe sie jetzt auch ihn erwarten, ja als müsse Ottokar in der nächsten Sekunde hereintreten, so sehr hatte die Erscheinung der Alten ihr die Vergangenheit zur Gegenwart gemacht. Annette, die schon lange aus dem Nebenzimmer jede Bewegung ihrer jungen Herrin beobachtet hatte, wagte es endlich, sich ihr zu nahen; mit bittender Geberde legte sie ihr die Harfe in den Arm und kniete dann neben ihr hin.

»Gutes Kind! dein Herz sagt dir, was mir frommt,« sprach Gabriele, indem sie liebkosend ihre Locken berührte. Dann stimmte sie die Harfe und sang ein Lied, welches Allwill ihr einst auf ihre Veranlassung gedichtet hatte.
[321]

Sie sieht mich nicht!

Ich sehe ewig Sie,

Und wenn auch meine Augen einst erblinden,

Mein Geist wird dieses theure Bild doch finden,

Auch wenn ich dahin flieh,

Wo ausglimmt alles Licht.


Sie hört mich nicht!

Ich höre ewig Sie!

Von süßen Lippen flossen Geister-Worte,

Die mich ergriffen, leise Mollakkorde;

Der Ton erstirbt mir nie,

Wenn auch kein Laut mehr spricht.


Beklagt mich nicht,

Daß ferne, ferne Sie;

Bin ich nicht glücklich, ewig Sie zu lieben?

Mein war Sie, mein für immer ist geblieben,

Was Leben mir verlieh

Und auch der Tod nicht bricht.


Da öffnete sich leise die Thüre, und eine im Dunkel kaum erkennbare weibliche Gestalt trat herein, ein paar Schritte brachten sie näher. »Erschrick nicht vor mir, meine Gabriele,« sprach eine liebe bekannte Stimme, ein paar Arme breiteten sich aus, und Gabriele sank mit einem freudigen Schrei an das treue Herz ihrer Dalling.[322]

»Kehrt denn alles, alles heute wieder, was früher mich beglückte? auch du, auch du?« rief sie im frohen Taumel des Wiedersehens, während Frau Dalling mit Erstaunen die unglaubliche Veränderung bemerkte, die in der kurzen Zeit mit Gabrielen vorgegangen war. Statt des kaum der Kindheit entwachsenen, bleichen Mädchens, welches sie verlassen hatte, fand sie jetzt Augustens, ihrer Mutter, verklärtes, verschönertes Bild in der Pracht eben erblühender Jungfräulichkeit und wußte kaum, wie sie es anfangen solle, um Gabrielen mit aller der mütterlichen Liebe zu umfangen, die sie im Busen trug, ohne doch die Ehrfurcht zu verletzen, welche diese hohe, schöne Erscheinung von ihr zu fordern berechtigt schien.


Während die beiden wieder Vereinten im ersten freudigen Taumel ein fast unverständliches Gespräch mit einander führten und Fragen und Antworten auf die wunderlichste Weise durch einander[323] wirrten, kehrten auch Ernesto, Frau v. Willnangen und Auguste aus der Gesellschaft wieder nach Hause.

Niemand hatte an diesem Abende sonderliche Freuden gefunden. Was der General vorher gesagt hatte, war zum Theil eingetroffen, überall hatte es an jemanden gefehlt, der es übernehmen wollte, durch innern Zusammenhang diese Versammlung zu einer Gesellschaft zu bilden. Einige der Anwesenden waren in stummer Unbehülflichkeit neben einander stehen geblieben, andre hatten sich mit ihren Bekannten flüsternd berathen, was denn eigentlich hier vorgehen solle, nur wenigen war der feinere geselligere Zweck dieser Zusammenkunft klar geworden, und diese wenigen hatten sich sogleich dem eigentlichen Kreise der Frau von Willnangen anzuschließen gesucht, ohne sich um die weiter zu bekümmern, welche sich in verlegner oder stolzer Entfernung hielten. Ungeduld trieb endlich den Kapellmeister an das verstimmte Fortepiano, Allwill brachte in der Noth gesellige Spiele in Vorschlag, zuletzt wurden glücklicherweise die Musikanten von der ungewohnten[324] Erleuchtung herbeigezogen und spielten ein paar Walzer auf, mit denen die geselligen Freuden dieses Abends sich endigten.

Jubelnd und fröhlich, wie ein Kind, führte Gabriele die sorgsame, treue Pflegerin ihrer ersten Jugend ihren Freunden zu, und war nun doppelt froh, bei jenem verunglückten Versuche zur Beförderung der Geselligkeit nicht gegenwärtig gewesen zu seyn.

Ein Unglück weissagendes Gefühl ergriff Frau von Willnangen, als sie Frau Dalling erblickte, aber sie schwieg davon, denn sie sah deutlich, wie es Gabrielen noch gar nicht eingefallen war, daß diese ihr so liebe Erscheinung ihr dennoch unheilbringend seyn könne. Auch Frau Dalling schien über das Wiedersehen ihres theuren Kindes den eigentlichen Zweck ihrer Sendung ganz vergessen zu haben. Sie konnte kein Auge von Gabrielen wenden. In der einen Minute schalt sie sich, daß sie die zu ihrer Gebieterin herangewachsene Jungfrau noch immer wie ein Kind behandle, in der nächsten nahm sie sie wieder liebkosend an ihr Herz und nannte sie mit allen den tändelnden[325] Namen, die sie ihr sonst gegeben hatte, als sie sie noch auf ihren Armen trug. So verging die übrige Abendzeit. Frau Dalling ward späterhin sichtbar ernst, wie jemand, dem etwas trauriges, das er vergaß, plötzlich wieder einfällt; aber ein bittender Wink der Frau von Willnangen bestimmte sie, ihren Liebling noch diese Nacht dem ungestörten Schlummer zu überlassen, dessen Gabriele nach den mannigfaltigen Begegnissen des Tages augenscheinlich höchst bedürftig war. Erst nachdem diese mit Augusten das Zimmer verlassen hatte, um sich zur Ruhe zu begeben, kam der eigentliche Zweck zur Sprache, welcher Frau Dalling nach Karlsbad geführt hatte. Frau v. Willnangen hatte in ihren Vermuthungen nicht geirrt, sie kam, um Gabrielen auf das schleunigste zu ihrem Vater zu geleiten, der ohne eigentlich gefährlich krank zu seyn, doch höchst ängstlich nach seiner Tochter verlangte.
[326]

Kurze Zeit vor der Ankunft der Frau Dalling in Karlsbad saß der Baron Aarheim um Mitternacht ganz allein in seinem Laboratorium, so wie er es seit vielen Jahren gewohnt war. Sein starrer Blick ruhte bald auf den Retorten, Gläsern und Tiegeln, welche im Ofen am Feuer standen, bald auf mago-kabbalistischen Figuren, die er an der Wand gezeichnet hatte, und aus denen er den Stand der Sterne, und ob es an der Zeit sey, ersehen zu können glaubte. Alles sagte ihm, es sey an der Zeit, die Stunde der Vollendung sey gekommen, und ein leises Flüstern und Knistern um ihn her bestärkte ihn in diesem Glauben, während es sein zitterndes Erwarten fast bis zur Bewußtlosigkeit steigerte.

Nur nichts vergessen! nur nichts vergessen! mußte er immerfort innerlich mit wahrer Todesangst wiederholen, während er mit bebenden Lippen unverständliche Formeln stammelte, durch welche er die Elementar-Geister zu bändigen oder zu gewinnen gedachte. Unverwandt blickte er jetzt die Gluth im Ofen an, die Flammen regten sich lustig, er sah wunderliche Gestalten in ihnen spielen.[327] Langbärtige Menschengesichter nickten ihm aus dem Feuer zu und verzogen sich dann grinsend zur gräßlichsten Unform, bis sie in Dampf sich auflösten; glänzend geringelte, blaue und grüne Schlangen wanden sich hoch empor und reckten die langen, feuerrothen, dreigespitzten Zungen nach allen Seiten aus, immer höher und höher. Aber über alles sah er ein einziges, riesig großes Greisenhaupt sich erheben, mit einem langen, schneeweißen Bart und einer wie Rubin glühenden Krone. So wie der Baron diese Gestalt gewahrte, ward es ihm unmöglich, den Blick von ihr abzuwenden; sein Haar sträubte sich in der Angst, mit welcher er sich bemühte, an alles, für diese Stunde in seinen Büchern Vorgeschriebne sich zu erinnern, während es ihm immerfort warnend in die Ohren dröhnte: Nur nichts vergessen! nur nichts vergessen! Das Riesenhaupt dehnte sich über den Herd des Ofens hinaus, er sah es, wie ihn begrüßend, sich neigen, er sah ganz in der Nähe das gräßliche Durcheinanderflimmern aller Züge desselben, und nun folgte dem Haupte die ganze Gestalt. Der weite, wie aus Feuernebel[328] gewobene Mantel, welcher sie in große bauschende Falten verhüllte, quoll weit über den Herd hinaus und begann allmählig sich im ganzen Gemache zu verbreiten. Der Baron raffte sich mit aller Kraft zusammen, um das Grausen zu überwinden, was ihn ergriffen hatte, und ward wirklich wieder auf einen Augenblick Meister seiner Gedanken. Er warf einen Blick auf den Herd und gewahrte, daß die Flamme dort zu mächtig lodre, er wollte sie dämpfen, aber er vermochte nicht, dieß allein zu vollbringen. Jetzt breitete sich das Feuernebel-Gewand des riesenhaften Greises immer weiter aus, der Baron glaubte, ihn immer zürnender auf sich blicken zu sehen, es war, als ob er ihn in die Falten seines Mantels einwickeln und ersticken wolle; er versuchte, sich davon loszuwinden, aber der unkörperliche Stoff ließ sich mit Händen nicht erfassen, obgleich er schwer auf ihn drückte.

In der höchsten Noth sucht der Mensch immer den Menschen, auch ohne Hoffnung auf Hülfe, und diese hatte der Baron doch noch nicht aufgegeben. Entschlossen riß er die ins Vorgemach[329] führende Thüre auf. »Franz!« rief er mit donnernder Stimme, »Franz!« so hieß der alte Bediente, der einzige, welcher mit ihm diesen Flügel des Schlosses bewohnte und zuweilen bei seinen Arbeiten ihm Handreichung leistete. Keine Antwort erfolgte. Der Baron durchschritt mit festem Tritte das Zimmer. Als er an der andern Thüre desselben stand, blickte er sich um und sah mit Entsetzen das feuerrothe Gewand des Greises ihm durch die Thüre des Laboratoriums nachquellen. Pfeilschnell stürzte er durch das zweite Zimmer. Ein Blick rückwärts verrieth ihm abermals, daß das Gräßliche ihm immer langsam nachfolge. Er floh in das dritte Zimmer; dort lag Franz auf einem Ruhebette, der Baron erfaßte ihn, wollte ihn wach schütteln; umsonst! der siebenzigjährige treue Diener lag starr und kalt, ob durch einen Schlagfluß plötzlich entseelt? ob nur ohnmächtig oder in tiefem Schlaf begraben? der Baron hatte nicht Zeit, dieses zu untersuchen. Ein furchtbarer Knall schien den Felsen, auf welchem Schloß Aarheim steht, bis in den Grund zu spalten, die alten Mauern erbebten, als stürzten sie zusammen. Der Baron[330] sah das Feuergewand mit Macht hervorquellen, die blauen und grünen Schlangen waren riesengroß geworden und wanden sich dazwischen hin und streckten die feuerrothen Zungen nach ihm, als wollten sie ihn durchbohren. Da öffnete er im wahnsinnigen Entsetzen auch die äußre Thür, floh auf Flügeln der Angst pfeilschnell hinab in den Hof, und sah nun den ganzen Theil des Gebäudes, den er bewohnt hatte, rettungslos flammend gen Himmel lodern.

Des Barons erste Bewegung war ein Versuch, in wilder Verzweiflung das eigne Leben auf diesem Scheiterhaufen seines Glücks und seiner Hoffnungen zu opfern, aber er fühlte sich von starken Händen gehalten. Alle Einwohner des Schlosses waren von der heftigen Explosion im nehmlichen Augenblick erweckt worden, und hatten sogleich im ersten Schreck sich in den Hof geflüchtet. Diese seine Diener, von welchen viele ihren Herrn in diesem Moment zum erstenmal erblickten, verhinderten ihn jetzt, den gräßlichen Tod in den Flammen zu suchen, welchen der alte[331] Franz vielleicht im nehmlichen Moment, hoffentlich bewußtlos, starb.

Regungslos und ohne alle Besinnung stand nun der Baron, anscheinend ruhig, und blickte wieder in die zischenden, prasselnden Flammen. Im Rauch, im Feuerdampf sah er noch immer das weite erglühende Gewand des Greises und hoch über sich dessen drohendes Haupt; der weiße, nebelgleiche Bart wehte, wie der Schweif eines Kometen, weit hin durch die Nacht, im Sturmwinde, den die Flammen erregten. An Rettung des brennenden Flügels war nicht zu denken; es war, als ob er an allen Ecken zugleich sich entzündet habe, er sank in weniger als einer Stunde in sich selbst zusammen; nur die aus Felsen für eine Ewigkeit aufgethürmten Außenmauern widerstanden, alles Innere verzehrte die wüthende Feuersbrunst. Nichts blieb von allem, worauf der Baron Schwindel erregende Hoffnungen erbaut hatte, und auch die Gebeine des armen alten Franz verglühten mit im allgemeinen Untergang, und seine Asche fand ihr Grab in den Trümmern.[332]

Mit Anstrengung aller ihrer Kräfte gelang es den Bedienten und den Bewohnern des Dorfs, das Hauptgebäude des Schlosses vom Untergange zu retten, aber der Baron schien ihr Bemühen und ihre Anstalten gar nicht zu bemerken. Ganz still stand er und sah in das Feuer, bis der letzte Balken einstürzte und alles Zerstörbare vernichtet war. Dann wandte er sich und ging mit feierlichem Schritt, begleitet von seinen vornehmsten Dienern, die große Treppe im Mittelgebäude hinauf, in das ehemalige Zimmer seiner Gemahlin, das er seit dem Tage ihres Todes nicht wieder betreten hatte. Dort setzte er sich an ein Fenster, der dampfenden Brandstätte gegenüber, und schlug nach kurzem Besinnen ein so furchtbar gellendes Gelächter auf, daß alle, die ihn umgaben, sich fast bis zum Wahnsinn davon erschüttert fühlten.

Dieser entsetzliche Zustand währte mehrere Stunden, kein Arzt war in der Nähe, der ihn zu mildern versuchen konnte. Das Gesicht des unglücklichen Greises verzerrte sich im furchtbarsten Krampfe, seine ermattete Brust hob sich immer gewaltsamer, während das herzzerreißende unaufhaltsame[333] Lachen immer forttönte, bis die erschöpfte Natur sich endlich seiner erbarmte und ihn nach und nach in ohnmächtiges Erstarren hinsinken ließ, das sich später in tiefen Schlaf auflöste.

Erst als am Abende dieses Tages die Sonne sank, erwachte der Baron, aber unglaublich verändert. Die ohnehin tiefen Züge seines Gesichts waren ganz eingesunken, keine Spur mehr von krampfhafter Anstrengung. Er war still und gelassen, jedermann durfte zu ihm kommen, aber er sprach mit niemanden. Ganz in sich gekehrt saß er da, aß und trank, was ihm gereicht ward, und eben nur genug, um das Leben zu fristen, forderte aber nichts. Die Thüre seines Zimmers blieb offen stehen, seine Bedienten, seine Bauern, Fremde, die des Wegs vorbei kamen, alles strömte, theils aus Neugier, theils aus Theilnahme, herbei, alles wanderte ungehindert bei ihm aus und ein, er aber achtete auf niemand, obgleich er auch niemand zurückscheuchte. Seine ganze Haltung war die des tiefsten Nachsinnens über einen höchst wichtigen Gegenstand. Endlich um Mitternacht[334] rief er Frau Dalling herbei und befahl ihr, in möglichster Eile nach Karlsbad zu reisen, um Gabrielen abzuholen und sie zu ihm zu führen. Nach diesem deutlich und bestimmt ausgesprochenen Befehl, versank er wieder in sein voriges Schweigen.


Frau Dalling konnte den theilnehmenden Freunden Gabrielens nur den heftigen Schreck über die unglückliche Feuersbrunst als die Ursache von des Barons traurigem Zustande angeben, aus welchem der Wunsch, Gabrielen zu sehen, natürlicherweise entspringen mußte. Denn von dessen lange gehegten und jetzt so furchtbar zertrümmerten Hoffnungen hatte sie noch immer keinen Begriff. Frau von Willnangen und Ernesto hingegen blickten tiefer. Aus dem, was sie von des Barons Aeußerungen und seinem entsetzlichen Anfall nach dem Brande hörten, durchschauerte sie die Ahnung eines Geheimnisses, das ihre Angst, Gabrielen in solchen Händen zu wissen, noch um vieles vermehrte.[335] Der Schmerz der Frau von Willnangen über die plötzliche Trennung von ihrem Lieblinge leidet keine Beschreibung; er überstieg alle Gränzen, wenn sie an das Schicksal dachte, welches die arme Gabriele im Schloß ihres Vaters erwartete, und dabei keine Möglichkeit sah, es zu mildern. Ihre gewohnte Fassung hatte sie gänzlich verlassen. »Was wird aus dem weichen, liebebedürfenden Gemüth in jener starren Umgebung werden!« rief sie mit Augen voll Thränen. »Welche Opfer wird der Mann, der das Herz ihrer Mutter mit kalter Hand zerdrücken konnte, nicht von diesem, seiner Willkür ganz preisgegebnen Geschöpf fordern, das wir schutz- und wehrlos ihm ausliefern müssen!«

»Das müssen wir nicht und werden es auch nicht,« erwiederte plötzlich nach einigem Sinnen Ernesto, »denn ich begleite Gabrielen. Das Schicksal und mein Herz haben mich einmal zu Gabrielens Vormund, zu ihrem Beschützer erkoren, ich will es bleiben, solange dieses nur irgend ausführbar ist, ich reise mit ihr.

Beide Frauen hörten mit hoher Freude diese[336] Erklärung Ernesto's, nur wagte Frau Dalling einige Zweifel wegen der Aufnahme, die Ernesto im Schloß Aarheim finden würde. »Vielleicht,« sprach sie, »hat sich der Baron während meiner Abwesenheit völlig erholt, und dann kehrt er gewiß zu seiner gewohnten Abgeschiedenheit von allen Menschen zurück.«

»Weiß ich es doch selbst nicht, ob ich mich werde Gabrielens Vater zeigen wollen oder nicht,« erwiederte Ernesto; »das mögen die Umstände bestimmen. Ich bleibe auf jedem Fall in ihrer Nähe, ihr Schutz, ihr Freund, ja ich kann sagen ihr eigentlicher Vater, wenn väterliche Liebe zu diesem Namen berechtigen kann. Sorgen Sie nur, daß Gabriele morgen früh ihre Bestimmung auf die schonendste Weise erfährt, und daß sie dann wo möglich in der nehmlichen Stunde abreisen kann. Verkürzen Sie ihr die bittern Stunden des Scheidens, ein langer Abschied ist eine lange Qual, die wir ihren Kräften nicht zumuthen dürfen, sie wird sie nöthiger brauchen.«

»Lassen Sie uns übrigens das beste hoffen,« sprach Ernesto zur Frau von Willnangen, sobald[337] er mit dieser allein war. »Nach dem, was ich von des Barons eigentlichem Geschick ahne, und nach dem, was Frau Dalling von der plötzlichen Veränderung in seinem ganzen Wesen erzählt, achte ich ihn seiner letzten Stunde sehr nahe, und leider ist der herbste Verlust für ein glückliches Kind, unsrer armen Gabriele der höchste Gewinn. Sie, die schon Mutterlose, kann nur glücklich werden, wenn sie auch vaterlos ist. Ich wiederhole es Ihnen, ich bleibe in Schloß Aarheims Nähe, und so wie eine günstige Veränderung in Gabrielens Lage eintritt, so wie sie der Fesseln entledigt ist, die jetzt sie drücken, nehme ich sie auf und bringe sie in Ihre schützenden Arme, an Ihr mütterliches Herz. Bis dahin wache ich über sie, ohne zu wanken oder zu weichen.«

»Haben Sie Dank, guter, edler Ernesto!« erwiederte Frau von Willnangen. »Sie wollen mir Trost geben, indem Sie mir die Aussicht für meine Gabriele zu erheitern suchen, aber mein ahnendes Herz will sich nicht zufrieden sprechen lassen. Sie auch künftig in Gabrielens Nähe zu wissen, ist freilich viel; es ist das Einzige, woran[338] ich in dieser trüben Stunde mich noch halte. Möge ein freundlich Geschick Ihr wohlmeinendes Streben begünstigen! Ich bete mit Inbrunst darum, aber ich fürchte, sie ist dennoch von nun an verloren, verloren uns und verloren sich selbst.«


Mit dem Gefühl, mit welchem ein halb Erwachter sich völlig von den Fesseln eines ängstigenden Traumes loszuwinden strebt, saß Gabriele schon am folgenden Vormittage im Wagen. Unverwandt haftete ihr Blick auf dem raschen Umschwunge der Räder, welche sie einer Bestimmung entgegen führten, von der sie noch vor wenigen Stunden keine Ahnung gehabt hatte. Keiner ihrer Begleiter unterbrach auch nur mit einem einzigen Worte die im Wagen herrschende Stille. Ernesto kannte zu gut das weiche aber auch starke Gemüth seiner Schülerin, um nicht überzeugt zu seyn, daß sie gewiß aus dem schweren Kampf zwischen ihrem Herzen und ihrem Pflichtgefühl[339] als Siegerin hervorgehen würde, wenn man sie nur ungestört sich selbst überließ. Frau Dalling schwieg, weil unaussprechliches Mitleid mit ihrem geliebten Kinde ihr die Sprache hemmte, und die arme Annette hatte genug mit ihrem eignen Schmerz zu thun; sie weinte ganz in der Stille über sich sowohl als über ihre Herrin.

Der Erfolg rechtfertigte Ernesto's Erwartungen von Gabrielen. Nach wenigen Stunden richtete sie sich rasch und muthig auf, wie schon oft in ähnlichen Fällen, und suchte von nun an ihre alte Freundin recht liebkosend und hold für das bisherige untheilnehmende Verhalten zu entschädigen. Aber der Geist der Freude blieb dennoch fern von der kleinen Reisegesellschaft. Bei aller gegenseitiger Freundlichkeit saß doch jedes Mitglied derselben trübe und in sich gekehrt da. Keines vermochte sich des Zieles der Reise zu freuen, während alle sich bestrebten, die eignen Besorgnisse den übrigen, so viel es nur möglich war, zu verhehlen.

So kam allmählig der letzte Tag der Reise heran. Der Wagen hielt zur Mittagszeit vor[340] einem Eisenhammer, der schon zu den Besitzungen des Baron Aarheims gehörte.

Das vom ewigen Rauch und Kohlendampf geschwärzte Gebäude steht in einem von öden Felsen eingeengten Thal, oder vielmehr in einer wilden Schlucht, durch deren Mitte ein schäumender Bach über moosbewachsne Steine hinrauscht. Wenn Mittags die Sonne von ihrem höchsten Standpunkt einige erwärmende Strahlen in diesen, einem Grabe ähnlichen Winkel der Erde herabsendet, dann werfen ein paar halb verdorrte Fichten ihren spärlichen Schatten auf die schwarzen Wellen und auf das moosbedeckte Ufer, die übrige Zeit des Tages liegt alles farbelos und erstorben da. Nichts belebt diese schauerliche Einöde, als das einförmige unaufhörliche Klopfen des Hammers, das Schwirren und Tosen der Räder. Wände und Fußboden der engen dunkeln Gemächer des zu dem Eisenhammer gehörenden Hauses dröhnen und zittern immerwährend. Gabriele und Ernesto eilten deshalb sobald als möglich hinaus ins Freie, um diesem ängstlichen Aufenthalt zu entgehen, Frau Dalling aber blieb zurück,[341] um sich bei den Bewohnern desselben nach dem gegenwärtigen Befinden des Barons zu erkundigen.

Gleich beim ersten Schritte außer dem Hause erinnerte sich Gabriele, in früher Kindheit einmal mit ihrer Mutter hier gewesen zu seyn. Am Bach stand noch die alte halb verfallne Bank, wo sie damals an ihrer Seite mit Epheukränzen gespielt hatte, und zum erstenmal auf dieser Reise bemächtigte sich ihrer ein heimathliches Gefühl. Mit wehmüthiger Freude ergriff sie Ernesto's Hand, führte ihn zu dem Plätzchen, welches die ehemalige Gegenwart der Mutter ihr zum Tempel geheiligt hatte, und setzte sich dort recht vertraulich neben ihn hin.

»Ich fürchte, guter Ernesto!« hob sie in großer Bewegung an, »ich fürchte, wir werden sobald nicht wieder eines so traulichen, ungestörten Beisammenseyns uns erfreuen können. Umsonst streben wir, es uns zu verbergen, wir müssen scheiden, heute oder morgen, gleichviel. Ich muß mich auch von Ihnen trennen, wie ich mich schon von meiner ewig theuern Willnangen, von meiner[342] geliebten Auguste, von – ach! von so Vielem trennen mußte, für das mein künftiges Leben mir nie Ersatz bieten kann. Vergebens suchten Sie es mir durch ihre Begleitung auf dieser traurigen Reise zu verbergen, wie ich so ganz verlassen von meinen Freunden künftig seyn werde. Aber ich danke es Ihnen doch, mit dem innigsten Gefühl, daß Sie es mir mitleidig verbergen wollten. Guter, sorgsamer Freund, treuer Beschützer meiner verwaisten Jugend, ich danke Ihnen, mehr kann ich nicht.«

»Wollen Sie mich denn fortschicken, liebe Gabriele?« fragte Ernesto mit etwas gezwungnem Lächeln. »Ich bin noch gar nicht gesonnen, so bald zu gehen. Meine Meinung war, noch recht lange in ihrer Nähe zu verweilen, oder Sie recht bald in Ihre eigentliche Heimath zu Frau von Willnangen zurück zu begleiten.«

»Guter Ernesto! was hülfe es, wenn ich Sie täuschte, und mir selbst Hoffnungen erregte, die doch nie in Erfüllung gehen können;« erwiederte Gabriele. »Ich weiß es, ich stehe hier an der Schwelle eines sehr dunkeln, sehr einförmigen,[343] und in den Augen der Welt sehr freudenlosen Lebens. Ich muß Sie darauf vorbereiten, ehe Sie die wenigen Stunden zwischen hier und Schloß Aarheim zurücklegen, daß kein Fremder, sogar kein Freund dort gastlich aufgenommen wird. Mein Vater flieht die Menschen, bittre Erfahrungen haben ihn sogar ihren Anblick hassen gelehrt.« –

»Ich weiß es,« unterbrach sie Ernesto, »und habe auch nie darauf gerechnet, von ihm freundlich empfangen zu werden! Dennoch bin ich entschlossen, Sie bis zu ihm zu begleiten. Mein Herz sehnt sich nach dem Orte, wo der Stern meiner Jugend unterging. Ich feiere dort ein theures Andenken und kehre gleich darauf in dieses Thal zurück. Ich denke im Försterhause, das dort in der Felsenecke so malerisch liegt, mich häuslich niederzulassen, und Frau Dalling bemüht sich diesen Augenblick, mit meinem künftigen Hausherrn die deshalb nöthigen Verabredungen zu treffen. Ich bleibe so recht sehr in ihrer Nähe, liebe Gabriele, denn wie ich höre, führt ein Fußsteig in weniger als einer Stunde von hier nach[344] Ihrer Burg, während wir auf dem Fahrwege wohl viermal so viel Zeit brauchen werden, wie das zwischen Bergen so oft der Fall ist.«

»Hier wollten Sie bleiben? Hier in dieser gräßlichen Wüste? Guter Gott, Ernesto! wie kann ich je eines solchen Opfers mich werth achten!« rief Gabriele.

»Wie leid ist es mir, daß ich diese bewundernden Ausrufungen nicht verdiene,« sprach Ernesto in seinem gewöhnlichen humoristischen Ton, »denn ich bin leider nicht halb so edelmüthig, als Sie es sich denken. Schon längst wünschte ich die mir oft gerühmte wilde Pracht dieses Gebirges kennen zu lernen. Ich will hier Studien für meinen Johannes in der Wüste nach der Natur malen, den ich, wie Sie wissen, schon längst im Sinne trage. Farben, Leinwand, alles habe ich mitgebracht, vielleicht fange ich morgen schon an, denn seit ich diese Felsengegend sah, bin ich überzeugt, daß ich in der Welt keine beßre Einöde für meinen Heiligen finden kann.«

»Sie sollen ihren edlen Willen haben, Ernesto! ich will thun, als merkte ich nicht, wie[345] Sie meinem Dank ausweichen wollen,« sprach Gabriele und neigte sich kindlich über Ernesto's Hand, die sie an ihr Herz drückte. »Aber,« fuhr sie fort, und sah mit ihren klaren Augen recht treuherzig zu ihm auf, »nehmen Sie auch die Beruhigung an, die ich mit aller Aufrichtigkeit Ihnen zu geben im Stande bin. Glauben Sie meiner Versicherung, daß ich auch die abgeschiedenste Einsamkeit, zu der mein Vater mich bestimmen kann, für kein Unglück halte. Vor Langerweile haben Sie und meine Mutter mich durch die Sorgfalt geschützt, mit der beide für meinen Unterricht sorgten; meinem Herzen bleibt Erinnerung und Liebe, die lassen niemand einsam. Ueber alles tröstend aber ist mir das Gefühl, daß ich hier auf dem einzigen Punkte stehe, auf welchen ich in der Welt hingehöre. Das einzige Kind eines greisen, kränkelnden Vaters darf ja keine andre Freude suchen und kennen, als ihn zu pflegen und die trüben Stunden seines Abends zu erheitern.«

»Mein Heldenmädchen!« rief Ernesto und strebte vergebens, die tiefe Rührung, von der er[346] sich ergriffen fühlte, unter heiterm Lächeln zu verbergen. »Ich weiß, Gabriele! was Sie zu tragen vermögen,« setzte er sehr ernst hinzu, »und darum fürchte ich so sehr die edle jugendliche Lust, die Sie verleiten kann, das Schwerste zu wählen, weil es das Schwerste ist. Wer weiß, zu welchen unerhörten Opfern man Sie in jener finstern Burg auffordern wird! Das in langer Einsamkeit, unter der Last eines freudenlosen Alters verhärtete Gemüth Ihres Vaters, wird es sich an Ihrem milden Wesen erwärmen? wird es sich daran nur erfreuen? Gabriele! eine mir selbst unerklärliche Angst verleitet mich in diesem Augenblick, es zu vergessen, daß ich zu der Tochter von ihrem Vater spreche, aber ich kann nicht anders, ich muß Sie bittend warnen. Hier auf dem kalten Boden, wo Ihre Mutter, einsam und verlassen, vor der Zeit hinwelken mußte, wird es hier ihrem zarten jugendlichen Ebenbilde, das sie uns hinterließ, besser ergehen?«

»Was fürchten Sie denn eigentlich für mich von meinem Vater? lieber Ernesto!« erwiederte Gabriele. Welches Opfer kann er denn von mir[347] fordern? doch keines, als das der geselligen Freuden und meiner Zeit, die ich ohnehin von nun an einzig ihm weihen muß; ich habe ja nichts anders, das ich ihm darbringen könnte. Beruhigen Sie sich. Das hohe Beispiel meiner Mutter leuchtet mir vor auf der Bahn, die ich betrete. Sie sagen: ich gleiche ihr. O lassen Sie mich in Allem ihr immer ähnlicher werden, selbst in ihrem Geschick, wenn es seyn muß, denn was kann ich Höheres wünschen, als zu seyn wie sie war.«

»Nun so segne dich Gott, du reines Wesen! und behüte dich vor gar zu großer Versuchung, dich selbst zu vergessen!« rief Ernesto, und drückte zum erstenmal Gabrielen an seine Brust. »Nur noch den einzigen Trost gewähren Sie mir, um den ich jetzt Sie bitte, und ich will ruhig seyn,« setzte er hinzu. »Versprechen Sie mir feierlich, ohne meinen Rath, ohne mein Mitwissen keinen Ihre Zukunft bestimmenden Schritt zu thun. Versprechen Sie es mir, Gabriele! wenn Sie wirklich glauben, daß ich irgend Dank um Sie verdiene; versprechen Sie es mir, ich muß, ich[348] muß dieses Versprechen von Ihnen erflehen, erzwingen, genug ich muß es erhalten.«

»Ich begreife Sie nicht, Ernesto! warlich ich glaube, diese dunkeln Umgebungen, diese schwarzen Felsen erfüllen ihre Einbildungskraft mit grauenvollen Bildern,« sprach freundlich Gabriele, indem sie ihre Rechte in Ernesto's dargebotne Hand legte. »Hier haben Sie mein feierliches Versprechen, wie Sie es wünschen. Es bedurfte dessen nicht, denn wie könnte ich ohne den Rath meines einzig treuen, erfahrnen Freundes irgend etwas wichtiges für mich entscheiden, sobald ich so glücklich bin, ihn in meiner Nähe zu wissen. Ich ehre und liebe meinen Vater, wie es die Pflicht dem Kinde gebeut, aber ich kenne ihn wenig; ich habe mich nie in meinem Leben vertrauend ihm genaht. Sein ernstes, Ehrfurcht und Gehorsam gebietendes Ansehen schreckte mich stets von ihm zurück, und dieser Eindruck ist bleibend. Aber deshalb rührt es mich eben so unbeschreiblich, daß er gerade jetzt, da ein Unheil ihn traf, sich meiner erinnert und meine Gegenwart verlangt. Wenn ich mir denke, daß er gestorben seyn[349] könnte, ohne mich wieder gesehen zu haben, dann, Ernesto! dann fühle ich erst lebendig das Glück, noch für ihn thätig seyn zu können, ich erkaufe es mit keinem Opfer zu theuer. Das Gefühl eines Kindes, welches nicht mit dem Bewußtseyn am Grabe der Eltern steht, nach Kräften alles für sie gethan zu haben, muß entsetzlich seyn.«

Schweigend reichte Ernesto ihr die Hand, um sich mit ihr dem Eisenhammer wieder zuzuwenden, wo schon alles zu ihrer Abfahrt bereit war.


Zu Gabrielens großer Verwunderung war der neu gefundne Vetter, Moritz von Aarheim, der Erste, der ihr in der dunkeln Vorhalle ihres väterlichen Schlosses entgegen kam. Er bewillkommte sie mit einem Wortschwall, der sich sogar beim babylonischen Thurmbau hätte füglich hören lassen können; auch Ernesto ward mit ungeheuchelter Freude von ihm empfangen, und überhaupt zeigte sein ganzes Benehmen, wie höchst erwünscht[350] ihm die endliche Ankunft der Erwarteten sey. Dennoch fiel es deshalb diesen nicht weniger auf, ihn hier, und zwar in der Eigenschaft eines gebietenden Herrn zu finden. Als solcher beeiferte er sich, Ernesto ein Zimmer anzuweisen und lud ihn dringend ein, doch ja recht lange zu verweilen. Besonders setzte er Frau Dalling, die ihn gar nicht kannte, in Erstaunen und in Verlegenheit.

Seine Gegenwart im Schlosse des Barons war indessen auf sehr gewöhnlichem Wege herbeigeführt worden. Nächst seiner Vorliebe für fremde Sprachen und neue Erfindungen, beschäftigte er sich sehr gern mit Nachforschungen über die ursprüngliche Bildung der Erde, und besaß in der That nicht gemeine geologische Kenntnisse. Er hatte sich längst vorgenommen, das Gebirge, in dessen Mitte Schloß Aarheim liegt, mit Hinsicht auf dieses sein Lieblingsfach zu bereisen, und wollte auch bei der Gelegenheit seinen Verwandten einen Besuch abstatten; das zufällige Zusammentreffen mit Gabrielen in Karlsbad bestimmte ihn, diesen Plan sogleich auszuführen. Nach einem[351] Aufenthalt von nur wenigen Stunden in Eger, eilte er, sich in die Nähe von Schloß Aarheim zu begeben, und sein wissenschaftliches Forschen hatte ihn in nicht gar zu große Entfernung von der Burg seiner Ahnen geführt, als ihm die Kunde von dem Brande daselbst zu Ohren kam, und zwar durch das Gerücht bis ins Ungeheure vergrößert. Er mußte fürchten, dort keinen Stein mehr auf dem andern zu finden, es war also ganz natürlich, daß er so schnell als möglich sich hinbegab, theils um dem Baron beizustehen, theils um zu retten, was noch zu retten sey, und wenigstens raubbegierigen Händen das zu entreißen, was die Flammen übrig gelassen haben mochten.

Frau Dalling war schon auf dem Wege nach Karlsbad, als Moritz von Aarheim im Schlosse anlangte. Er fand die Zugbrücke heruntergelassen, das äußere Thor, so wie auch alle innre Thüren des Gebäudes, standen weit offen, und ein Schwall von Menschen drängte sich durch dieselben und auf den Treppen, hinaus und hinein, hinauf und hinab. Niemand schien den Neuangekommnen zu bemerken, er folgte dem Schwarm der Hineinströmenden[352] und gelangte so in das Zimmer des Barons.

Schweigend saß dort die hohe düstre Greisengestalt auf einem großen altvätrischen Lehnstuhl dicht am Fenster, den starren Blick auf die Brandstätte fest geheftet, kaum noch einem lebenden Wesen mehr ähnlich. Ein paar alte Diener, schweigend wie ihr Gebieter, schienen bei ihm Wache zu halten. Der Baron bemerkte Moritzens Eintritt eben so wenig, als er die Menge unverschämter Neugieriger zu bemerken schien, die unablässig bei ihm aus- und eingingen. Er saß immer gleich finster und gleich regungslos da, wie die alten grauen Standbilder auf den Gräbern seiner Ahnen.

Des Barons nächster Verwandter mußte bei diesem Anblick die Verbindlichkeit fühlen, hier thätig einzutreten. Sein erstes Thun war, sich dessen Dienern zu erkennen zu geben; mit ihrer Hülfe die fremden Zudringlichen auszutreiben, einen Boten nach einem geschickten Arzt in das nächste Städtchen zu senden, und dann die Thore zu schließen. Dieses vollbracht, begann er, sich[353] der Pflege und Wartung des Barons selbst eifrig anzunehmen, wobei seine Vorliebe für neue Erfindungen wieder eine glänzende Gelegenheit fand, sich zu zeigen. Diese, und seine den Bedienten beinahe ganz unverständliche Art sich auszudrücken, führten freilich manchen Mißgriff, manches lächerliche Mißverständniß herbei, doch die baldige Ankunft des Arztes verhinderte wenigstens jedes Unheil, welches hätte entstehen können.

Ruhe, Stille und stärkende Mittel verhalfen dem Baron in unglaublich kurzer Zeit zur völligen Besonnenheit. Verwundert erblickte er bei seinem Erwachen den ihm so lange ganz unbekannt gebliebenen Verwandten, und obendrein mit einer Art Autorität um ihn geschäftig, welche sich von selbst auf dessen früheres Nichtbemerktwerden gegründet hatte.

Der Baron fand in dem sonst so bitter Gehaßten jetzt den einzigen Menschen, welcher sich seiner angenommen hatte, während er unfähig war, sich selbst zu helfen. Alle seine übrigen Umgebungen waren ihm fast nicht minder fremd als dieser neue Ankömmling, denn seit Jahren[354] hatte er mit keinem von seinen Dienern gesprochen, ausgenommen mit Frau Dalling und Franz. Jene war abwesend, dieser todt. Moritz von Aarheim überhob ihn jeder Nothwendigkeit irgend eines Verkehrs mit andern Menschen, der Baron fühlte dieß als wohlthätig und bequem; gern, wenn gleich nicht dankbar, ließ er es sich schweigend gefallen, und sein Agnat behielt die Freiheit von ihm ungestört alles im Hause einstweilen nach eigner Ansicht zu ordnen. Nur als dieser, durch schweigende Nachsicht dreist gemacht, einst dem Baron einen Plan zum Wiederaufbau des zerstörten Flügels vorlegen wollte, da gerieth der Greis in eine furchtbare Aufwallung. Seine zürnenden Augen schienen Feuer zu sprühen, seine grauen Locken sich zu sträuben, seine ohnehin sehr hohe Gestalt dehnte sich zu fast übermenschlicher Größe, während er laut und mit donnernder Stimme in ganz unverständliche Flüche und Verwünschungen ausbrach. Halb todt vor Schrecken, vor Angst, packte Moritz seine Pläne zusammen, suchte den Baron durch das Versprechen zu beruhigen, diesen Punkt nie wieder zu berühren,[355] und tröstete sich im Stillen mit der sichern Aussicht, spätstens in wenigen Jahren hier bauen und einreißen zu können, ohne irgend jemand darum zuvor befragen zu müssen.

Während Moritz sogleich nach der Ankunft der Reisenden den armen Ernesto mit einem unerträglichen Wortschwall in dem ihm angewiesnen Zimmer peinigte, schlich die zitternde Gabriele am Arm ihrer Dalling bis an die Thüre des Gemachs, in welchem ihr Vater sich befand. Frau Dalling trat allein zu dem Baron herein, um vom Erfolg der Reise ihm Rechenschaft abzulegen und ihn auf Gabrielens Ankunft vorzubereiten, doch er ließ sie nicht zum Worte kommen. »Gabriele!« rief er mit gebietendem Ton, »Gabriele!« Bebend, mit ausgebreiteten Armen, überschritt diese auf den Ruf die Schwelle. Ein gräßlicher Schrei des Barons fesselte sie an der Stelle, auf welcher sie stand. »Du!« rief er, »du! was willst du von mir!« »Sie befahlen ja das Fräulein Gabriele,« sprach leise und zitternd Frau Dalling. Der Baron athmete tief auf; »es ist Gabriele,« sprach er, sich selbst beruhigend, und[356] blickte nach der Thüre, wo diese noch immer bleich und bebend in höchster Unentschlossenheit stand. Aber sein Blick war scheu, die Hand zitterte, mit der er ihr winkte näher zu treten, und seine Lippe bebte, indem er sie zu sich rief. Gabriele eilte herbei und kniete neben ihm hin. »Steh auf! du bist wohl erschrocken?« sprach der Baron, und bemühte sich, mild zu erscheinen. »Steh auf, ich erkannte dich nicht gleich. Ich glaubte, du wärst – ich hielt dich für – für etwas – für jemand anders. Steh auf, gieb mir die Hand. – Du bist gewachsen, wie es mir scheint, du bist – du gleichst sehr deiner Mutter! ruhe aus, geh zu Bette, morgen, wenn ich aufgestanden bin, gleich nach dem Frühstück lasse ich dich rufen. Dann sprechen wir uns, jetzt geh. Geh mein Kind,« sprach er endlich und wollte lächeln, aber die starren Muskeln versagten ihm den Dienst, und sein Gesicht verzog sich wunderlich.
[357]

Am andern Tage war Gabriele schon mit Sonnenaufgang bereit, vor ihrem Vater zu erscheinen, aber der Nachmittag ging vorüber, der Abend näherte sich, und noch immer ward sie nicht zu ihm gerufen. Seit er wieder zum Bewußtseyn gekommen war, blieb er älterer Gewohnheit getreu, und lebte nur in der Nacht.

Gabriele hatte volle Muße, an Ernestos Hand das ganze Schloß zu durchwandern, und auch außer demselben alle die Plätze im Garten und Wald aufzusuchen, von welchen ihr vor kaum Jahresfrist das Scheiden so schmerzlich gewesen. Alles war wie damals. Die Blätter der Bäume begannen, sich roth, gelb und braun zu färben, ihre wohlgepflegten Blumen blühten in bunter, herbstlicher Pracht. Ihr zahmes Reh sprang ihr entgegen, sie fand ihre Tauben, ihre Vögel, ihre Hündchen, alle ihre freundlichen lieben Thiere wieder; die treue Anhänglichkeit der Leute im Schlosse hatte für sie alles gepflegt und ihr aufbewahrt. Alles war wie damals, nur sie selbst war es nicht. Ihr waren die Freuden ihrer Kindheit im Gewirre des Lebens verloren gegangen;[358] abgeschiedne Geister mögen so in Wehmuth den Schauplatz ihres irdischen Lebens betrachten, wie Gabriele den ihres viel zu früh entschwundenen Frühlings. Auch Ernesto wandelte stumm und in sich gekehrt an ihrer Seite, trübe Erinnerungen drückten auch ihn nieder.

»Am besten ist es, ich gehe heute, ich gehe jetzt gleich und suche meine Einsiedelei zwischen den Felsen auf,« sprach plötzlich Ernesto, indem er mit Gabrielen vor der Schloßbrücke stand. »Ich bedarf der Ruhe,« fuhr er fort, »ich bedarf der Arbeit; hier komme ich zu keinem von beiden. Auch kann ich es nicht läugnen, dieser Vetter Moritz wird mir allmählig so lästig, daß ich fürchte, mich einst gegen ihn auf eine Art zu vergessen, die dieses, bei aller Lächerlichkeit doch höchst gutmüthige Wesen nicht verdient. Und so leben Sie wohl, Gabriele! gedenken Sie Ihres Versprechens. Ich verlasse Sie jetzt unbesorgt, denn meine Entfernung von Ihnen ist zu gering, um irgend einer Befürchtung Raum zu geben. Auch werde ich schwerlich einen Tag vorübergehen lassen, ohne Sie zu sehen.«[359]

Eine unbeschreibliche Traurigkeit ergriff Gabrielen, indem Ernesto sich zum Weggehen wandte, obgleich sie gewiß war, ihn morgen wieder zu sehen. In ihm verlor sie den letzten ihrer Freunde, gleichsam den Repräsentanten aller ihrer Lieben. Ohne je Ottokars Namen vor ihm ausgesprochen zu haben, wußte sie doch, daß sie durch ihn, und allein durch ihn, von dem Fernen Kunde erhalten könne, sobald sie es wolle. Die furchtbare Macht des Augenblicks, die sie in ihrem kurzen Leben schon mehrmals erfahren hatte, fiel ihr schwer aufs Herz, indem sie Ernesto schon tiefer unten am Schloßberge wandeln sah.

»Wenn ich ihn nie wieder sähe! wenn er diese Nacht stürbe, und mit ihm jede Hoffnung, von Ottokar Kunde zu erhalten!« Kaum in Worte gefaßt, erfüllte sie dieser Gedanke mit unaussprechlicher Angst; von einer unsichtbaren Gewalt getrieben, rief sie, winkte sie. Ernesto sah noch einmal sich nach ihr um, sie flog den Felsen hinab, er eilte wieder hinauf ihr entgegen, und beide trafen an einem uralten steinernen Ruhesitz[360] auf der Hälfte des Schloßberges wieder zusammen.

»Ich möchte in meiner Einsamkeit gern aller meiner Freunde recht lebhaft gedenken,« sprach athemlos und tief erröthend Gabriele. »Die Tante,« fuhr sie in großer Verwirrung fort, »Aurelia, – und – Ernesto! haben Sie keine Nachricht aus Rom?«

»Den Tag, ehe wir Karlsbad verließen, erhielt ich Briefe von dort,« erwiederte Ernesto und vermied es, Gabrielen anzusehen, um ihre Verwirrung nicht zu steigern. »Aurelia kränkelt oder glaubt zu kränkeln, die Luft in Rom sagt ihr nicht zu. Sie wird mit ihrer Mutter den Winter in Neapel zubringen, wo es freilich lustiger hergeht als in jenem, der Nemesis und der Vergangenheit geweihten großen Tempel, in der heiligen Roma, deren Andenken mich noch immer schmerzlich und freudig bewegt. Ottokar führt dort ein schönes, ernstes, der Erinnerung geweihtes Leben, unter den Trümmern versunkner Größe, unter den Wundern der Kunst. Ihn umgeben die ausgezeichnetsten Künstler, welche er[361] gastfrei um sich zu versammlen weiß. Für jetzt hindern ihn Geschäfte daran, die Damen zu begleiten, vielleicht folgt er ihnen später nach, wenn das neue Jahr in jenen glücklichen Zonen den Frühling weckt.

Annettens Stimme erscholl jetzt sehr ängstlich, sie rufte Gabrielen zu dem Vater und ersparte dieser dadurch die Verlegenheit einer Antwort auf Ernestos Erzählung. Den widerstrebendsten Gefühlen hingegeben, stieg sie, auf Annettens Arm gestützt, stumm und langsam den Felsen hinauf, während Ernesto sich gedankenvoll abwärts wandte.

Noch schüchterner beklommen als in der ersten Zeit ihres Aufenthaltes bei der Gräfin Rosenberg, betrat Gabriele das Zimmer, in welchem ihr Vater sie erwartete. Zu ihrem Erstaunen fand sie ihn von allen ihren Mappen umgeben. Ihre Stickereien, ihre Zeichnungen, ihre geschriebnen Auszüge aus Büchern, ihre Musikalien, alles lag auf einem großen Tische ausgebreitet vor ihm da. Auch ihre Laute, ihre Harfe, und ein schönes Fortepiano, welches einst ihrer Mutter angehörte,[362] waren gestimmt und bereit. Auf des Barons Befehl hatte Frau Dalling alle diese Dinge müssen herbei schaffen lassen, während Gabriele mit Ernesto sich außer dem Schlosse befand.

Jetzt begann ein förmliches Examen, in welchem der Baron mit großer Aufmerksamkeit und Sachkenntniß Gabrielen prüfte. Von allem, was sie früher und später erlernt hatte, mußte sie ihm Rechenschaft ablegen, von allem verlangte er Proben. Sie mußte auf sein Geheiß in fremden Sprachen ihm vorlesen und mit ihm sprechen, sie mußte singen, und auf den verschiednen Instrumenten sich hören lassen, welche eben zur Hand waren. Ihre Zeichnungen und andre künstliche Arbeiten betrachtete und beurtheilte er sehr verständig, und erforschte auch, wie weit ihr Unterricht in andrer wissenschaftlicher Hinsicht gereicht haben mochte.

Zuerst wagte es Gabriele nur zitternd, auf seine Fragen zu antworten, doch allmählig gewann sie mehr Muth. Der Baron äußerte zwar keineswegs durch Worte seine Zufriedenheit mit[363] dem, was sie leisten konnte, aber der Eifer, mit welchem er sie prüfte, die Aufmerksamkeit, deren er sie würdigte, bewiesen ihr solche.

Vier Stunden waren auf diese Weise hingebracht worden, Mitternacht war nicht mehr fern, und Gabriele konnte sich vor Erschöpfung kaum noch aufrecht erhalten oder die Lippen regen, während ihr Vater noch immer unermüdet schien. »Nun ist es genug,« sprach er endlich, und machte mit der Hand eine verabschiedende Bewegung. »Ich weiß jetzt, daß du deine Zeit in der Stadt nicht schlecht angewendet hast, du hast viel und vieles gelernt. Ich bin zufrieden mit dir. Ruhe aus, morgen um die nehmliche Stunde lasse ich dich wieder rufen, bis dahin thue, was dir gefällt.«

Gabriele vermochte es nicht, sich sogleich zu entfernen; sie blieb stehen, als erwarte sie von ihm noch ein freundliches Wort, während er, in Gedanken verloren, vor sich hinstarrte. Auf ein kleines Geräusch vor der Thüre sah er sich um und ward Gabrielen gewahr, die mit bittendem Blicke noch dastand. »Warum gehst du nicht?«[364] fragte er, »du mußt die Nächte schlafen, deine Jugend verlangt dieß, meine Zeitordnung ist nicht für dich. Und nun genug,« sprach er nochmals mit gebietendem Ton, und winkte wieder mit der Hand, so daß Gabriele sich auf das schnellste entfernte, um ihm nicht widerspenstig zu erscheinen. An der Thüre begegnete ihr Moritz von Aarheim, der auf des Barons Einladung kam, um jetzt gegen Mitternacht bei dessen Mittagsessen gegenwärtig zu seyn.


Ohnerachtet seines unruhigen Hanges zur Thätigkeit und seiner unermüdlichen Sprechlust, saß Moritz von Aarheim dennoch während der ganzen Mahlzeit schweigend und stumm dem Baron gegenüber und wartete nur auf eine Frage von diesem, um alsdann durch Antworten ein Gespräch herbei zu führen, das er so ohne alle Veranlassung nicht zu beginnen wagte. Des Barons gespenstisches, finsteres Wesen kam ihm[365] unbeschreiblich grauenvoll vor. Und besonders seit jener heftigen Scene, die er bei Erwähnung eines künftigen Schloßbaues mit ihm gehabt hatte, ging er ihm gern überall aus dem Wege. Längst wäre er abgereist, wenn er nicht Gabrielens Ankunft hätte abwarten wollen, um das Eigenthum seines Verwandten doch nicht wieder ohne alle Aufsicht der Willkühr der Bedienten zu überlassen. Seit Gabriele und Frau Dalling in dieser Hinsicht seine Gegenwart überflüssig machten, hatte er nur auf eine Gelegenheit geharrt, sich beim Baron zu beurlauben, um dann sogleich abzureisen. Er hoffte, die Einladung für diesen Abend, die erste die er erhielt, dazu zu benutzen, und war fest entschlossen, gleich am andern Tage einem Aufenthalt zu entfliehen, der ihm höchst peinlich zu werden begann.

Unter gegenseitigem Schweigen ward die Mahlzeit sehr schnell beendet. Der Baron stand auf, ein Wink von ihm entfernte auf das eiligste die Bedienten. Auch Moritz erhob sich und nahte sich dem Baron, um Abschied zu nehmen, aber dieser schritt feierlich dem Fenster zu, nahm wieder[366] in seinem thronartigen Lehnsessel Platz und heftete, wie gewöhnlich, den starren Blick auf die dunkeln, ihm gegenüberliegenden Trümmer der Brandstätte. Der Mond war hinter ihnen aufgegangen, sein Licht blinkte durch die hohlen, ausgebrannten Fensterlücken, während die in Schatten gehüllten halb zerstörten Mauern scharf und schwarz sich auf dem von leichten Silberwölkchen überzognen Himmel zeichneten.

In höchster Verlegenheit stand Moritz da, und wußte nicht, wie er es anfangen solle, um die Aufmerksamkeit des Barons auf sich zu ziehen, als dieser von selbst sich nach ihm umwandte. »Bleibt!« rief er ihm zu, indem er gewahrte, daß jener sich abschiednehmend verbeugte! »bleibt, ich habe mit Euch zu reden, Vetter! setzt Euch zu mir. Ich will mein Haus bestellen und dann zur Ruhe, denn ich bin müde.« Moritz setzte sich erwartungsvoll auf ein Taburett, dem Baron gegenüber, das jener ihm anwies.

»Ihr seyd mein erster Agnat, darum muß ich an Euch mich wenden,« sprach der Baron weiter. »Unterbrecht mich nicht, ich habe mit Euch zu[367] reden, Ihr könnt mir nichts zu sagen haben, antwortet nur, wenn ich frage. Ihr seht dort die Brandstätte; das weite Grab! Wißt Ihr, was dort begraben liegt? wißt Ihr es? Schweigt! Antwortet nicht. Wie kämt Ihr zu dieser Wissenschaft! – Doch was Ihr fassen könnt, sollt Ihr erfahren. – Wenn ich todt bin, sind diese Burg, diese Güter Euer Eigenthum. Ich hinterlasse nichts weiter. Was sonst noch mein war, liegt auch dort unter jenem Schutthaufen begraben, begraben; Gabriele behält nichts.«

Mit hastiger Gutmüthigkeit und einem Schwall ein- und ausländischer Worte beeilte sich Moritz von Aarheim, den Baron über das künftige Schicksal seiner Tochter zu beruhigen, versprach, wie ein liebender Bruder für sie zu sorgen, sie in Schloß Aarheim, oder wo sie sonst wolle, wohnen zu lassen, und würde noch lange fortgesprochen haben, wenn nicht ein Blick auf den Baron ihm plötzlich die Zunge gelähmt hätte. Schrecklich, wie damals, als Moritz des Schloßbaues erwähnt hatte, stand der Alte vor ihm da, sichtbar kämpfend mit innerlichem Zorn, der konvulsivisch[368] seine Gesichtszüge verzog und ihm die Sprache hemmte.

»Frecher, eingebildeter Thor!« brach endlich der Baron mit donnernder Stimme los. »Meint Ihr, der Freiherr Aarheim von Schloß Aarheim bettle bei Euch für seine Tochter? Meint Ihr, der letzte echte Sproß des uralten Hauptstamms, zu dessen Nebenzweigen Ihr die Ehre habt Euch rechnen zu dürfen, könne von Euch Almosen nehmen?«

Bleich und zitternd stand Moritz von seinem Sitze auf; der Baron war in dieser Minute wirklich furchtbar, doch schien er sich bald wieder zu besänftigen. »Ich sehe,« sprach er gelaßner, »Ihr habt nicht bedacht, was und zu wem Ihr redetet; auch habe ich nicht mehr Zeit zum Zorn.« Mit diesen Worten nahm er wieder seinen Lehnstuhl ein und deutete mit einer Bewegung der Hand dem immer noch bebenden Moritz an, sich ebenfalls wieder zu setzen.

»Ihr wißt jetzt, daß ich Euch nicht zu mir forderte, um von Euch etwas zu bitten. Ihr habt begriffen, daß dieß nie der Fall seyn kann?«[369] fragte der Baron. Moritz bejahete es mit einer stummen Verbeugung. » Ich bin es, der Euch beschenken will,« fuhr der Baron fort, »ich biete Euch eine köstlich hohe Gabe, vor wenigen Wochen noch hielt ich sie wohl der Hand eines Fürsten werth, und eigentlich ist sie es noch. Ich biete Euch Gabrielen, sie sey Eure Gemahlin. Antwortet noch nicht. Hört mich aus, ehe Ihr redet. Gleich vielen deutschen Fürstentöchtern, bringt Gabriele ihrem Gemahl keine Aussteuer. Mögen Krämer die bequeme Versorgung ihrer Töchter mit Golde aufwiegen, das reine edle Blut, das in Gabrielens Adern fließt, überhebt sie und ihres gleichen diesem elenden Zoll.«

Jetzt schwieg der Baron und gab seinem Verwandten ein Zeichen, nun ebenfalls das Wort zu nehmen.

Moritz versuchte es, in allen Sprachen Gabrielens Reize, ihre Talente und sein Glück bis zu den Sternen zu erheben. Dann aber wagte er es auch, einige bescheidne Zweifel über sich selbst und sein Werthseyn eines solchen Glücks zu äußern. Er erwähnte mit der größten Gutmüthigkeit[370] sein Alter und seine Gestalt, als welche zu solchen Hoffnungen ihn keinesweges berechtigen könnten, und ermuthigte sich endlich sogar zu der Erklärung, das ihm dargebotne Glück, so reizend es sey, dennoch dem Zwange nicht verdanken zu wollen.

»Niemand wird gezwungen, nicht Ihr, nicht Gabriele,« erwiederte der Baron. »Daß Gabriele schön ist, weiß ich; ich sah in der Welt wenige, die in dieser Hinsicht mit ihr sich messen dürften, keine sah ich, die an Geist, Talent, Bildung ihr nahe käme. Jetzt, nach vierzig Jahren, bei eurer hochgepriesnen Kultur, mag das nun wohl anders seyn. Auch gebe ich Euch Gabrielens Hand nur als Ersatz für etwas, das ich von Euch fordern will; die Freiherren von Aarheim waren immer gewohnt, kleine Leistungen groß zu lohnen. Gabriele wird nur unter der Bedingung die Eure, daß Ihr mir bei Eurer Ehre versprecht, das zu erfüllen, was ich im Moment, da sie für Euch sich erklärt, verlangen werde. Ihr dürft es ohne Sorgen. Unrechtes, Entehrendes forderte noch kein Freiherr von Aarheim. Wollt[371] Ihr diese Bedingung eingehen?« Moritz verbeugte sich abermals schweigend, denn aus Furcht, zu beleidigen, wagte er es nicht, den Mund zu öffnen.

Der Baron ward jetzt sichtbarlich heitrer, es war, als beginne die Eisrinde um seine Brust sich zu lösen. »Vetter, von Euch kann ich nichts bitten und nichts annehmen, das seht Ihr wohl ein, und doch muß mein Wunsch erfüllt werden,« sprach er gewissermaßen mit behaglichem Zutrauen. »Es liegt mir mehr daran, als Ihr und die Welt zu fassen vermögen. Darum biete ich Euch den höchsten Lohn, den ich zu gewähren habe. Ihr werdet mein Sohn, und unser alter Stamm blüht vielleicht glorreich wieder auf. Um Gabrielens Versorgung willen thue ich nichts, für sie wäre auch ohne Euch gesorgt, selbst wenn sie Euch verschmäht, selbst dann!« Hier versank der Baron aufs neue in tiefes Nachsinnen, er blickte unverwandt auf die jetzt vom Monde hell beleuchtete Brandstätte, und ward wieder zusehends düstrer.

»Habt Ihr nie vom Virginius gehört? vom Römer Virginius?« fragte er nach einer ziemlich[372] langen Pause plötzlich mit wunderlich heimlichem Ton.

Moritz von Aarheim eilte, auf diese Frage bejahend zu antworten, und verbreitete sich darauf sehr weitläuftig in Lobpreisungen der Heldenthat des Römers, die er höchlich bewunderte1. »Ultimo pegno d' amor ricevi – libertade e morte,« rief er endlich aus.

»Ich sehe, Vetter! Ihr habt Euren Alfieri recht gut inne,« sprach der Baron, pegno d' amor – libertade e morte. Freiheit und Tod: haltet Ihr die wirklich für Liebespfänder, wie Alfieri es dem Virginius in den Mund legt?« Mit diesen Worten zog der Baron ein ganz kleines, hermetisch versiegeltes Fläschchen hervor, das er an einer goldnen Kette um den Hals hangen hatte. »Libertade e morte!« rief er, und hielt das Fläschchen von geschliffnem Krystall hoch gegen das Licht, so daß es in bunten Farben blitzte[373] und funkelte. »Kennt Ihr den diesen Gottheiten geweihten Lorbeer? hier seht Ihr ihn, die Gelehrsamkeit verleumdet ihn zwar und nennt ihn falsch. Er ist der echte! wer ihn errungen hat und ihn zu brauchen weiß, kümmert sich weder um Kronen noch Kränze, und trotzt dem Geschick wie den Gebietern der Welt. Virginius war ein Thor, sein blutiger Dolch erregt Entsetzen. Hier bedarf es nur eines balsamisch duftenden Hauches, und Gabriele tritt schmerzlos mit mir die Reise nach jenem Lande der Freiheit an. Nicht blutig, nicht entstellt, ihre Hülle bleibt die Zierde der Welt, so lange das Licht des Tages sie bescheint, die Oberfläche der Erde sie trägt.«

Mit einem Schrei des Entsetzens warf Moritz von Aarheim sich unwillkürlich auf den Baron und strebte das Fläschchen ihm zu entreißen, doch dieser hielt ihn mit starkem Arm ferne von sich.

»Was wollt Ihr?« sprach er mit blitzenden Augen, »Ihr habt es ja selbst ausgesprochen, Libertade c morte, ultimo pegno d' amor! O ihr armen Thoren! Was steht Ihr denn entzückt[374] vor Bildern? was preist ihr Thaten? was prahlt Ihr mit Gesinnungen, die Euch mit Entsetzen erfüllen, wenn Ihr sie ins wirkliche Leben treten seht? Seyd ruhig, ich gäbe Euch gern dieses Fläschchen, denn ich habe mehr dergleichen, wenn so etwas Euch nur anvertraut werden dürfte. Seyd ruhig! Eure Person ist sicher, mit Euch hat kein Lorbeer etwas zu schaffen. Erfüllt meinen Willen, Gabriele wird die Eure, obgleich es mir leid um sie thut. Ihr wäre besser, sie ginge mit mir, ohne zu wissen, wohin die Hand des Vaters sie führt. Ein Hauch, und es wäre vorbei mit aller Noth und aller Langenweile, die sie bei Euch erwarten. Doch lebt wohl, beruhigt Euch, wir sehn uns morgen wieder, und nun geht!«


Bleich wie ein Todter, bebend vor innerem Grausen, durcheilte Moritz von Aarheim die langen düstern Gänge, welche zu seinem Zimmer[375] führten. Kein Schlaf kam die ganze lange Nacht hindurch in seine Augen. Er blieb angekleidet. Unruhig wandelte er auf und ab und trat jeden Augenblick an das Fenster, um zu sehen, ob der Tag noch nicht zu grauen beginne. In dieser Minute blickte er auf zu Gabrielens Zimmer, und sah, wie der ruhige Schimmer ihrer Nachtlampe das Fenster schwach erhellte; in der nächsten horchte er wieder hinaus, ob nicht etwa das Verderben herumschleiche, ob nicht leise Tritte hörbar würden; doch alles blieb stille und ruhig.

Endlich begann der Himmel, sich zu röthen. Moritz schlich sich auf die andre Seite des Schlosses und sah nach den Zimmern des Barons. Dort erloschen nach und nach alle Lichter, zum Zeichen, daß für jenen jetzt auch die Zeit der Ruhe herbei käme. Nochmals lauschte Moritz, und da alles immerwährend ruhig blieb, eilte er in den Stall, sattelte selbst sein Pferd und pochte schon beim Aufgang der Sonne an die Thüre von Ernesto's bescheidener Wohnung.

Ernestos erstes Empfinden beim Anblick des frühen Besuchs war Zorn über die Zudringlichkeit[376] des Lästigen, doch als er ihn näher betrachtete und Unruhe und banges Entsetzen in seinen entstellten bleichen Zügen las, fühlte er sich selbst von gleichem Gefühle vorahnend ergriffen.

Moritz begann sogleich, das zwischen ihm und dem Baron Vorgegangne zu erzählen, aber so verworren, so weitschweifig, so seltsam in Form und Ausdruck, daß Ernesto dabei in tödtlicher Ungeduld zu vergehen glaubte. Und doch mußte er sich fast jeden Umstand des Gesprächs zwischen Moritzen und dem Baron mehreremale wiederholen lassen, denn was er vernahm, schien ihm so unglaublich, daß er immer meinte, den Erzähler falsch verstanden zu haben.

Recht ehrlich und treuherzig bat Moritz ihn endlich, nach vollendeter Erzählung, um Beistand mit Rath und That, zu Gabrielens Errettung. »Ich wäre der glücklichste Mensch, wenn sie mich heirathen wollte,« setzte er in seiner gewöhnlichen Art zu reden hinzu. »Ich wollte sie recht gut halten, alles wollte ich aufbieten, was ihr Vergnügen machen könnte. Sie ist es werth, sie ist wie Miltons Eva, all softness and sweet attractive[377] grace. Ich will auch nicht, daß sie mich wie einen jungen amoroso lieben soll, ils sont passé ces jours de fêtes, wo ich dergleichen Prätensionen machen konnte, ich weiß es wohl. Aber gut seyn müßte sie mir, und mir vor allen. Ich könnte es nicht ertragen, wenn sie als meine Frau jemanden lieber hätte als mich. Auch müßte ich sie zufrieden und heiter sehen. Eine empfindsame Dame mit ewigen Thränen in den Augen, eine pleureuse éternelle, will ich nicht um mich haben. Sagen Sie ihr das alles, Signor Ernesto, und fühlt sie dann keine Abneigung gegen mich, so biete ich ihr mit wahrer Liebe die Hand. Unglücklich aber will ich uns beide nicht machen. Schlägt sie mich aus – Eh bien, je m' en consolerai – Doch will ich auch dann für sie noch wie für eine nahe werthe Verwandte sorgen, sie soll nicht Noth leiden. Aber wie retten wir sie vor der Wuth ihres Vaters, wenn sie mich ausschlägt? Comment la sauver des mains d'un fanatique cruel, qui l'immolera a ses fantaisies? Wollen wir Gabrielen die grausame Gefahr entdecken, in welcher sie von Seiten des[378] eignen Vaters schwebt? Signor Ernesto, reden Sie, schaffen Sie Rath, ich vergehe vor Angst.«

»Lassen Sie mir Zeit, das ganz Unerwartete nur zu fassen,« sprach Ernesto, »ich hoffe einen Ausweg zu finden.«

»What shall we do! What shall we do! was fangen wir an!« rief Moritz in höchster Angst und lief, die Hände ringend, auf und ab. »Ich bitte, sprechen Sie, ich muß zu Hause, der Baron könnte erwachen und – oh Dio! ich will gleich fort, ich will sie hüten, ihre Thüre, sie selbst nicht aus den Augen lassen. Sagen Sie mir nur noch mit einem einzigen Wort, was ich thun soll!«

»Halten Sie zu jeder Stunde Pferde und Wagen bereit, und nun eilen Sie. Ich folge Ihnen sogleich, und gelange auf dem Fußsteige vielleicht noch früher hin als Sie,« sprach endlich Ernesto. »Eilen Sie, und hüten Sie sich, Gabrielen etwas zu verrathen, am besten ist es, Sie vermeiden es sogar, mit ihr zu sprechen. Sie können sie und die Zugänge zu ihr doch im Auge behalten.«[379]

»Addio!« rief Moritz, und eilte in vollem Galopp davon, von Herzen froh, einen Auftrag erhalten zu haben, der ihn in Thätigkeit setzte, und seinem ängstlichen fruchtlosen Sinnen ein Ende machte. Während dessen durchwanderte Ernesto nachdenkend und langsam sein dunkles Thal, um den Felsensteig zu erreichen, welcher in gerader Linie zum Schlosse hinaufführt.

Unwillkürlich verweilte er einige Minuten an der alten moosbedeckten Bank, wo er beim ersten Eintritt in diese düstre Einöde mit Gabrielen gesessen hatte. Alles, was damals in schweren, trüben Ahnungen vor seinem Geiste schwebte, und ihn so ungewöhnlich niederdrückte, lag jetzt im hellsten Licht der nahen Wirklichkeit vor ihm, und weit furchtbarer, als er es sich hatte denken können. Frau von Willnangens Worte: »Sie ist verloren sich, verloren uns,« tönten unaufhörlich in seinem Innern, während er doch mit aller Anstrengung seines Geistes darauf sinnen mußte, Gabrielen wo möglich noch zu retten. Die Gefahr, welche ihrem Leben drohte, schien ihm bei weitem nicht so nah und nicht so groß, als Moritz im[380] ersten Schrecken sie ihm geschildert hatte. Ihm kam sogar der Gedanke nicht unwahrscheinlich vor, daß der halb wahnsinnige Greis in einer bei seiner Gemüthsstimmung nicht ungewöhnlichen, boshaft-fröhlichen Laune, sich eine Lust daraus gemacht haben könne, den armen Moritz auf diese Weise in Angst zu setzen. Desto entsetzlicher aber war ihm die Gefahr, Gabrielen mit einem bei manchen achtenswerthen Eigenschaften, dennoch höchst widrigen, lächerlichen Wesen, auf lebenslang verbunden zu sehen. Und doch begriff er nicht, wie sie dieser Verbindung würde entgehen können. Woher sollte ihr frommes Gemüth die Kraft gewinnen, dem Befehle, vielleicht gar dem Bitten eines Vaters zu widerstehen, den sie von jeher gewohnt war als den unumschränkten Gebieter ihres Daseyns zu betrachten? Keine Hoffnung, sogar kein Wunsch einer glücklichen Zukunft konnten ihren Muth dazu stählen, sie achtete ihre Rechnung mit dem irdischen Leben für geschlossen, denn sie hatte geliebt. Ernesto hatte Gabrielen zu genau beobachtet, um an dieser ihrer Ueberzeugung zu zweifeln. Der Gedanke, daß[381] es mit Bitten, Rathen, Warnen ihm doch vielleicht gelingen könne, sie zur bessern Ansicht des wirklich Rechten und Wahren zu bringen und sie dadurch zur standhaften Weigerung zu ermuthigen, gewährte ihm ebenfalls wenig Trost, denn wie schauderhaft wurde alsdann doch vielleicht vom eignen Vater ihr Leben bedroht!

Flucht, schnelle Flucht, blieb der einzige Weg. Aber wie die Tochter bewegen, ihren alten Vater wider seinen Willen zu verlassen, und vielleicht seinen Fluch auf sich zu laden! Sollte Erneste ihr entdecken, in welcher entsetzlichen Gefahr ihr Leben bei ihm schwebte? Wahrscheinlich würde sie ihm nicht Glauben beimessen, und gelänge es ihm, sie von der traurigen Wahrheit zu überzeugen, so mußte der Gedanke an solche Gräuel ihre ganze Zukunft trüben. Wer bürgte ihm dafür, daß Gabriele nicht in einem, durch das Gefühl ihres Unglücks exaltirten Augenblick, den Tod von Vatershänden ohne Widerstreben annähme! Ernesto kannte den Geist unsrer, jedem überspannten Gefühl günstigen Zeit, welcher der Jugend statt froher Thätigkeit, bloß leidende schmerzliche Sehnsucht[382] als Zweck eines Daseyns zeigt, dem das innige Wohlbehagen, die reine Freude am Leben mit jedem Tage sich mehr entfremden.

In diese Ueberlegungen vertieft, war Ernesto dem Schlosse schon ganz nahe gekommen, ohne eine andre Auskunft gefunden zu haben, als die, welche sich im ersten Augenblick ihm dargeboten hatte, die er als zu eigenmächtig verwarf, und welche zuletzt doch ergreifen zu müssen er jetzt befürchtete. Er nahm sich indessen vor, erst die Ueberzeugung zu gewinnen, daß alles wirklich so sey, wie Moritz es ihm vorgestellt hatte, ehe er Anstalten traf, Gabrielen im äußersten Nothfall ohne ihr Vorwissen und ihre Einwilligung vom väterlichen Schlosse fortzubringen. Moritzen sollte alsdann die Sorge bleiben, den Wahnsinn seines Verwandten gesetzlich anerkennen zu lassen und ihn dadurch unschädlich zu machen.

Ernesto konnte und mochte es sich nicht verbergen, wie viel er durch diesen Eingriff in Gabrielens Schicksal auf das Spiel setzte, aber er sah keine andre Möglichkeit, ihr zu helfen, und[383] mußte sogar davor zittern, daß Zufälligkeiten ihm auch diese vereiteln könnten.


Moritz von Aarheim war bei Ernestos Ankunft noch eifrig bemüht, sein dampfendes Pferd im Schloßhofe herumführen zu lassen, und dem Jokei dabei in eigner Person unter lautem Demonstriren zu zeigen, wie man in England diesen Thieren nach jeder Erhitzung den Kopf und die Ohren mit einem Tuche abreibe. »Sie sehen, wie beschäftigt ich bin,« flüsterte er geheimnißvoll dem eben Angekommnen zu, »sobald ich nur eine Minute Zeit gewinne, besorge ich die verlangten Pferde und Wagen. Uebrigens schläft der Baron hoffentlich noch mehrere Stunden, und die Kusine finden Sie mit ihrer Cameriera im Blumengarten.«

Schön und heiter wie der Morgen trat Gabriele schon an der Thüre des Gartens ihrem Freunde entgegen. Sie trug eine Vase voll malerisch[384] geordneter bunter Herbstblumen. Mit der Linken drückte sie die Vase fester an sich, um sie nicht fallen zu lassen, während sie ihm die Rechte zum Willkommen freundlich entgegen reichte. Die frische Herbstluft hatte ihre Wangen höher geröthet, ihr Auge strahlte glänzender, Ernesto glaubte, sie noch nie so reizend gesehen zu haben. Beim Anblick des holden Geschöpfs, das arglos wie ein Kind am Rande des Verderbens noch lächelnd mit Blumen spielte, ergriff ihn ein unaussprechlich mitleidiges Gefühl. Woher sollte er Muth gewinnen, den rührenden Frieden dieses schuldlosen Wesens durch seine Warnung zu stören, den milden Glanz dieses hellen Auges zu trüben? Es ward ihm, als sey er selbst im Begriff, eine frevelhafte That zu üben, als würde er mitschuldig an ihrem Untergange, wenn er jetzt spräche. Vor ihrem ruhig schönen Anblick verlor er selbst für den Moment den Glauben an die obwaltende Gefahr, und seine sonst so klare Besonnenheit mußte der mächtigen Sprache seines Herzens einstweilen weichen.

Seit sie von Frau von Willnangen sich getrennt[385] hatte, war Gabriele noch nicht so fröhlich gewesen. Ihr Herz schwamm in Wonne bei der Erinnerung an die theilnehmende Art, mit der ihr Vater am gestrigen Abend sich mit ihr beschäftigt hatte. Sie war entzückt, wenn sie seiner deutlich ausgesprochnen Zufriedenheit mit ihrem bisherigen Streben gedachte. Freude macht geschwätzig; wortreicher als jemals erzählte daher Gabriele ihrem Freunde jeden kleinen Umstand des vergangnen Abends, und suchte auch ihm ihre eigne Ueberzeugung mitzutheilen, daß sie von nun an immer höher in der Gunst ihres Vaters steigen, ihm immer nothwendiger werden müsse und würde.

Ernesto hingegen ward immer muthloser, immer unfähiger, ihr das Entsetzliche zu verkünden, je länger er den fröhlichen Ergießungen ihres reinen Herzens zuhörte. Er litt unbeschreibliche Qual bei dem Gedanken, sie aus ihren Träumen von einem heißersehnten Glücke zum Elend erwecken zu müssen. Schonend sie und sich, verschob er es von Stunde zu Stunde, denn jede Minute, während welcher er noch schwieg, war,[386] seiner Ueberzeugung nach, ihrer künftigen traurigen Zukunft abgewonnen.

So kam die Zeit des Mittagsmahls heran. Der Gerichtsdirektor war dießmal dabei gegenwärtig, denn der Baron hatte ihn zum heutigen Abend auf das Schloß einladen lassen. Und auch ohne diesen würde das Beiseyn der Bedienten und selbst Moritzens Gegenwart jede freie Mittheilung während der Mahlzeit unmöglich gemacht haben.

So ganz widerwärtig, wie heute an dem kleinen Tische dicht neben Gabrielen, war Moritz noch nie ihrem Freunde erschienen; sein läppisches verstecktes Winken, sein geheimnißvoll seyn sollendes Fragen, seine Anspielungen, mit denen er Ernesto, so lange die Mahlzeit währte, zu verfolgen nicht aufhörte, machten ihn ganz unerträglich, und dieser war deshalb herzlich froh, als endlich die Tafel aufgehoben ward, und er mit Gabrielen sich wieder allein sah.

Die herbstliche Sonne senkte sich schon dem Felsen zu, die Stunde der früh eintretenden Dämmerung nahte heran, und Ernesto fühlte mit[387] bitterm Schmerz, daß es jetzt nicht möglich sey, länger zu schweigen. Um Gabrielen zu schonen, auch wohl um selbst Muth zu gewinnen, wendete er zuerst das Gespräch auf Gabrielens Verhältniß zu Moritz von Aarheim, als Lehnerbe ihres Vaters, und machte gleich die Entdeckung, daß sie durchaus keinen Begriff davon habe. Alles, was er ihr darüber zu sagen für gut fand, machte auch weiter keinen Eindruck auf sie, als daß es sie an die Zeit erinnerte, in welcher ihr Vater nicht mehr seyn würde, und sie deshalb ernster und trüber stimmte.

»Behalte ich doch Sie, meine Willnangen und meine Auguste, wenn Gott meinen Vater zu sich ruft, dazu Genügsamkeit und Freude an wohlgeordneter Thätigkeit, diese Güter kann kein Gesetz mir rauben,« sprach endlich Gabriele. »Möge mir das Glück, meinen Vater zu pflegen, recht lange gegönnt werden! kommt aber die Zeit, wo ich ihn zu verlieren bestimmt bin, so weiß ich, daß meine Freunde sich um mein künftiges Fortkommen auf dem Lebenswege weit mehr kümmern werden als ich selbst.«[388]

»Auch ich wäre um Ihre Zukunft unbesorgt, theure Gabriele! wenn nicht die Pläne Ihres Vaters mich beängstigten,« erwiederte Ernesto; »vielleicht entdeckt er sie Ihnen heute noch« – Ein eintretender Diener unterbrach ihn mit der Nachricht, daß der Baron Gabrielen sogleich zu sprechen verlange. Ernesto ward bleich wie ein Sterbender.

»Beinahe zwei Stunden früher als gestern! Sehen Sie wie er allmählig meine Gesellschaft lieb gewinnt?« rief frohlockend Gabriele, und bemerkte nicht, in welcher Todesangst ihr Freund vor ihr stand, bis sie im Forteilen sich von ihm fest gehalten fühlte.

»O Gabriele!« rief er, »Sie wissen nicht! armes, unglückliches Kind! Sie wissen nicht, wem Sie entgegen gehn, was Sie erwartet! Worauf ich langsam Sie vorbereiten wollte, muß ich jetzt Ihnen ohne Milderung eilend zurufen. Ihr Vater will Sie vermählen, er will das Unglaublichste, er will an Moritz von Aarheim Sie vermählen, gerade wegen jener Familienverhältnisse, die ich eben Ihnen zu erklären begann. Moritz selbst[389] entdeckte mir dieß, er gab mir den Auftrag, Sie vorzubereiten, er ist zu gutmüthig, um Sie dem Zwange verdanken zu wollen.«

Gabriele ward bleich, sie zitterte, sie verstummte einige Minuten lang, doch wußte sie sich bald wieder zu fassen. »Dank! Dank Ihnen, Ernesto, für Ihre Warnung!« sprach sie, »jetzt aber lassen Sie mich, ich darf meinen Vater nicht länger auf mich warten lassen. Ich hoffe, diese Gefahr soll an mir vorüber gehen, ich werde meinen Vater gewinnen, er soll ohne mich nicht leben können, er soll mich lieben lernen, dann wird er mich nicht verstoßen wollen.« »Gabriele!« rief Ernesto in höchster Angst, und eilte neben ihr her, die schnell die langen Gallerieen durchstreifte, um zu den Zimmern ihres Vaters zu gelangen. – »Gabriele! nur einige Worte noch. Gedenken Sie Ihres Versprechens im Felsenthal, ehren Sie dießmal meinen Rath. Erzürnen Sie Ihren Vater nicht durch Weigerung, wenn er Ihnen seinen Willen kund thut, um Gotteswillen nicht. Bitten Sie um Bedenkzeit, hören Sie mich? um Bedenkzeit. Geloben Sie es mir,[390] um Bedenkzeit zu bitten, ohne irgend eine Abneigung gegen seinen Willen zu äußern, oder ich dringe mit Ihnen in sein Zimmer, werde dann weiter daraus was da wolle;« setzte er wie ausser sich hinzu.

»Ernesto, wie fürchterlich sind Sie!« rief Gabriele, und stand einen Augenblick still, ihn betrachtend. Sie sah Thränen in seinen Augen glänzen, sie gewahrte den Ausdruck des ängstlichsten Mitleids, der höchsten Unruhe in allen seinen Zügen. »Ich sehe es,« sprach sie tief bewegt, »ich sehe es, Ihrer Angst um mich liegt noch ein Geheimniß zum Grunde, das Sie mir nicht entdecken wollen. So bleibe es mir dann verborgen, ich ehre Ihre Gründe, es mir zu verschweigen und traue Ihrer Freundschaft. Ich gelobe, Ihrem Rathe zu folgen, meinen Vater nicht durch Widerspruch zu reizen, ihn um Bedenkzeit zu bitten. Darf ich nun hoffen, Sie beruhigt zu haben?«

Ernesto vermochte vor innrer Bewegung nicht ihr zu antworten. Die dunkeln Mauern von Schloß Aarheim übten ohnehin an ihm eine Zaubermacht aus, welche seine Geisteskraft lähmte.[391] Er wähnte dort noch Augustens Seufzer zu athmen, die einst ungehört hier verwehten; ferne Töne umschwirrten ihn wie der Wiederhall ihrer längst verklungnen Stimme, und ihre holde Gestalt schien ihm aus jeder Ecke entgegentreten zu wollen. Bei dem schwachen Schimmer einer einsamen Lampe in der hochgewölbten düstern Gallerie, in welcher Gabriele mit ihm sich befand, war es ihm, als sähe er plötzlich neben ihr den Geist ihrer Mutter; er bebte ergriffen zurück, im nehmlichen Augenblick öffnete sich die Thüre vom Vorzimmer des Barons, in deren Nähe sich beide befanden, und schlug klingend hinter Gabrielen zu, sobald diese die Schwelle überschritten hatte.

Ernesto wollte ihr nach, um wenigstens, wenn auch durch eine zweite Thüre von ihr getrennt, in ihrer Nähe zu bleiben, aber er hörte die Stimme des Barons, der seiner Tochter gebot, ihm in sein Zimmer zu folgen, und dann den innern Riegel vorschob. Auf Flügeln der Angst durcheilte Ernesto jetzt wieder die Gallerieen, um Frau Dalling aufzusuchen, ihr alles zu entdecken und dann wo möglich mit ihrer Hülfe ein Mittel zu[392] finden, der gefürchteten Unterredung zwischen Vater und Tochter ungesehen beizuwohnen.


Festlich gekleidet, geschmückt mit allen Zeichen ehemaliger Würden und Ehren, war der Baron seiner Tochter bis an die Thüre des Vorzimmers entgegen gekommen, die er, wie schon erwähnt ward, hinter ihr verriegelte. Dann schritt er feierlich vor ihr her, nahm seinen gewöhnlichen Platz im Lehnstuhl am Fenster ein, und winkte ihr schweigend, sich auf ein Taburet ihm gegenüber zu setzen.

Der Eindruck, welchen seine ganze Gestalt auf sie machte, war heute noch imponirender als ehemals, der Baron schien sogar größer als sonst, und der versteinerte Ernst aller seiner Züge beklemmte ihre Brust und raubte ihr den Athem.

»Ich wiederhole die schon gestern dir ertheilte Zusicherung meiner Zufriedenheit mit deinen in der Stadt erworbnen Kenntnissen,« hob der Baron[393] nach einer ziemlich langen Pause an, »sie haben mein Erwarten übertroffen. Wer so fleißig war wie du, hatte wahrscheinlich nicht Zeit, Thorheiten zu begehen. Daher hoffe ich, daß kein innres Hinderniß dich abhalten wird, meine Wünsche zu erfüllen, und daß du auch neben so vielem anderm gelernt hast, kindlichen Gehorsam zu üben. Ich bin entschlossen, dich meinem Lehnserben, Moritz von Aarheim, zu vermählen, doch habe ich ihm versprechen müssen, es dir frei zu stellen, seine Hand auszuschlagen. Entscheide also ohne Zwang: ob du meinem Willen folgen willst oder nicht, so wie du glaubst, daß es recht sey.«

Der Baron schwieg, und Gabriele strebte vergebens, ihre zitternden Lippen zur Antwort zu bewegen. Einige Minuten vergingen im schweigenden Kampf mit ihrer innern Angst. »Entscheide!« – rief endlich der Baron mit flammenden Augen, und richtete sich hoch in die Höhe.

»Mein Vater,« stammelte Gabriele, »wie kann ich so schnell – ich flehe nur um Bedenkzeit.«

»Bedenkzeit!« wiederholte der Baron, und[394] ließ sich langsam wieder nieder, »Bedenkzeit! Thoren, Schwächlinge bedenken sich. Der Tapfre, der Weise, wissen gleich, was sie wollen oder müssen. Doch du bist ein Mädchen, und diese Alfanzerei war schon vor vierzig Jahren unter euch Mode, wunderbarbar, daß sie in der langen Zeit nicht wieder abkam. Nun, es sey – du hast Bedenkzeit, bleib sitzen, bedenke dich.«

Seiner Gewohnheit gemäß wandte sich der Baron nach der Brandstätte, eine bange Viertelstunde verging, während welcher Gabriele es nicht wagte, sich zu regen. Endlich kehrte sich der Baron mit fragendem ernstem Blick ihr wieder zu.

»Vater!« rief sie und hob flehend die Augen voll erstarrter Thränen zu ihm auf, »Vater, ich brauche keine Bedenkzeit. Bei Ihnen will ich bleiben! Ihnen allein widme ich mein Leben, Sie pflegen will ich, Ihnen dienen, keine andre Pflicht erkennen, als jedem Ihrer Wünsche zuvorzukommen!«

»Und weigerst dich dennoch, den ersten, welchen ich aussprach, zu erfüllen?« erwiederte der[395] Baron und durchbohrte sie fast mit seinen glühenden Augen.

»Nein, o nein, mein Vater!« erwiederte schnell Gabriele, »ich bitte Sie nur, mich nicht zu verstoßen. So lange ich lebe, ist Ihnen mein Daseyn geweiht. Ich kann mich nicht entschließen, einem Andern anzugehören als meinem Vater, ich fühle einzig den Beruf, um Sie zu seyn, so lange mir Gott Ihr Leben erhält; was später aus mir wird, macht mir keine Sorge.«

»Auch mir sollte es keine machen – besser wäre es, wenn« – murmelte der Baron nur halb hörbar vor sich hin, dann versank er wieder in tiefes Nachdenken. Abermals vergingen einige stumme Minuten, dann wandte er sich plötzlich wieder zu Gabrielen.

»Höre mir aufmerksam zu,« sprach er. »So viel du davon zu fassen vermagst, will ich dir die Gründe entwickeln, welche mich bestimmen, diese Verbindung zu wünschen. Hernach entscheide. Forderst du dann noch längere Bedenkzeit, so sey sie dir im Voraus gewährt. Höre mich jetzt.

Unermüdetes Forschen, Streben, Arbeiten[396] war mein Leben, so lange du athmest; die Nacht mir Tag. Ich habe Schrecken getrotzt, Gefahren, bei deren bloßem Namen dein jugendliches Blut in den Adern erstarren müßte. Meine Umgebungen waren – Mein Umgang war – Nein, ich will deine Sinne nicht durch die Namen jener Schrecklichen verwirren, ich will dich nicht dem Wahnsinn zuführen. Ich schweige von dem, was ich that, was ich litt, was ich überwand. Für dich, Gabriele, für dich! dich wollte ich erheben, dich erhöhen zur Glorreichsten unseres alten Geschlechts! hoch über alle jene edlen Frauen deiner Ahnen, deren lange Reihe der edelste Schmuck unsers Hauses ist.«

Hier schwieg der Baron wieder einige Minuten lang, Gabriele wagte es nicht, sich zu regen. Dann fuhr er mit fast tonloser Stimme fort: »Die doppelte schuppige Schlange, deren gekröntes Haupt in rother Erde sich birgt, war mein, die Königin ruhte in ihrer Kammer, der Rabe wandelte sich zum hochfliegenden Aar, und ernährte den in ihrem Schooße schlummernden grünen Löwen, es nahte sich der Alte, der zwischen[397] den Bergen geht, die rothe und die weiße Lilie prangten in seinen Händen. – Da – da – fort mit der Erinnerung, wie alles vernichtet ward,« rief der Baron jetzt laut und fürchterlich, »fort – es ward vernichtet. Weh mir! ich vergaß den Fluch, der auf der fünften Zahl ruht, feindliche dunkle Mächte, auf mein Verderben lauernd, irrten mich. – Freundliche zürnten mir – Verloren – verloren – verloren – ist das große Spiel.«

Mit geschloßnen Augen lehnte sich der Baron jetzt in seinen Lehnstuhl zurück und lag regungslos da. Gabriele war vor ihm auf die Knie hingesunken; sie blickte in sein farbloses Antlitz, auf seine grauen Haare, welche spärlich die eingefallnen Schläfe umgaben, sie sah die tiefliegenden geschloßnen Augen in ihren weiten Höhlen, von den überhängenden schneeweißen Augenbraunen beschattet. Er glich so ganz einem Todten, daß der Gedanke sie grausend überfiel, er könne in diesem Moment gestorben seyn.

»Mein Vater, mein Vater!« rief sie, und wagte es, leise seine Hand zu berühren; da richtete er, gleich einem Erwachenden, sich wieder auf.[398]

»Du weinst?« sprach er, »du zitterst? weißt du warum? wovor?« Dann blickte er sie eine Weile starr an. »Ich lese in deiner Seele,« fuhr er fort, »du glaubst, ich sey wahnsinnig, weil du meine Reden nicht verstehst. Du irrst, hohe Weisheit liegt hinter diesen Bildern, aber ihr hört nur, und vernehmt nicht, eure Sinne hält Wahn befangen. Die Vergangenheit enthüllte ich dir, so weit ich es durfte. Die Gegenwart, – tritt her zu mir ans Fenster, blicke hinaus, dort liegt sie, dort in Trümmern. Was diese decken, bleibe ewig verborgen. Fluch der Hand, die es wagt, diesen Schutthaufen zu berühren!« rief er mit furchtbarem Ton, in hoher aufrechter Stellung, mit flammenden Augen, wie ein Begeisterter. »Fluch dem, der dem Unheil, das dort im dunkeln tiefen Gewölbe sicher ruht, den Weg bahnt zum Licht. Niemand darf dort den Faden finden, ihn wieder aufnehmen, der meiner starken Hand entfiel! denn niemanden darf gelingen, was mir mißlang.«

»Moritz von Aarheim gebietet hier nach meinem Tode,« sprach der Baron nach einer kleinen[399] Pause, während welcher er sich mit Anstrengung zu besänftigen schien. »Sein erstes Thun wird seyn, dort zu graben, zu bauen, zu wühlen, er selbst hat mir es ins Angesicht gestanden. Du allein kannst mir die Sicherheit jenes Heiligthums auf ewige Zeiten erkaufen, und erkauft muß sie werden. Es gilt der Ruhe meiner Todesstunde, es gilt dem ruhigen Schlaf meiner Gebeine im stillen Grabe, weit, weit, auf Jahrhunderte hinaus! Gabriele, du darfst jetzt nicht ohnmächtig werden, fasse dich, du darfst jetzt nicht die Besinnung verlieren, du mußt mich aushören, denn nie darf ich wieder wie in dieser Stunde zu dir reden.«

Mit leisem, wunderlich-heimlichem Tone fuhr der Baron nach kurzem Schweigen in seiner Rede weiter fort. »Kennst du die Geheimnisse der Unterwelt? Wie solltest du! Ich aber wagte es, mit dieser Hand ihren Schleier zu lüften. Nicht alle, meine Tochter, nicht alle, die hier entschliefen, ruhen dort in Frieden. Furchtbare Vorhöfe führen zum finstern Reich, dort in Tophet und Scheol weilen rastlos die Seelen derer, die beunruhigt über die Zukunft dessen hinübergingen,[400] was sie hier erstrebten. Jede Mitternacht ruft sie her auf, gespenstisch umwandern sie den Gegenstand ihrer Sorge in banger Qual, bis der Morgenhauch sie wieder zur kalten düstern Tiefe scheucht – jede Nacht sehe ich dort drüben den alten Franz, Sorge um mich läßt ihn nicht ruhen, er hebt das bleiche Haupt aus der Asche, mit langem Todtenfinger winkt er mir zu sich, zu sich, zur jammervollen Wache um das dort Verborgne.«

»Ich habe vollendet, du weißt jetzt genug. Ruhe oder Verzweiflung deines Vaters in der letzten Stunde und im Grabe sey das Werk deiner freien Wahl. Bedenk es wohl, es gilt nicht einer Hand voll Tage, die ihr ein Leben nennt, es gilt der Ewigkeit. Meine Todesstunde kann jetzt schlagen, in dieser Minute, aber du hast Bedenkzeit. Willige ein, verwirf, bringe durch thörichtes Zögern das Unheil über mich, ich breche mein gegebnes Wort nicht, du bist frei, du hast auch Bedenkzeit.«

»Vater, Vater!« rief Gabriele, »kann denn mein Leben nicht das Opfer seyn?«[401]

Hastig griff der Baron an seine Brust, dann ließ er die Hand wieder sinken. »Nein,« sprach er halb leise, und blickte milder als vorher Gabrielen an.

»Nun denn, ich will nicht ängstlich berechnen, was ich meinem Vater opfre, hier bin ich, Ihr Kind! mein Schicksal lege ich in Ihre Hand und murre nicht.«

Erschöpft an allen Kräften, doch nicht bewußtlos, sank sie mit diesen Worten vor ihm hin.

»Ich danke dir,« sprach der Baron, und ließ einen Moment seine Hand auf ihrem schön gelockten Haupte wie segnend ruhen; dann hob er Gabrielen sorgsam auf, und setzte sie in seinen Lehnstuhl. »Ermanne dich, fasse Muth, du hast entschieden wie es recht war. Uebrigens geschehe gleich, was geschehen muß; alles ist vorbereitet. Zögern ist Qual, ist Gefahr, und ich bin müde und will zur Ruhe.«

Mit diesen Worten zog er die Schelle und ging in das Vorzimmer, um die Thüre zu öffnen. Athemlos stürzte dort Frau Dalling ihm entgegen, ein lauter Schrei des Schreckens, als sie Gabrielen[402] bleich und regungslos im Lehnstuhl erblickte, verrieth, daß Ernesto ihr alles vertraut habe, was er wußte. Der Baron achtete nicht darauf. »Führen Sie Ihr Fräulein auf ihr Zimmer,« sprach er, »schmücken Sie die Braut mit dem Hausschmuck, den seit Jahrhunderten jede Braut von Schloß Aarheim an ihrem Ehrentage trägt,« fügte er hinzu, indem er ihr ein uraltes Kästchen mit einem goldnen Schlüssel übergab. »In einer Stunde kommt der Bräutigam, sie zur Trauung abzuholen.«

Matt zum Tode, aber fromm lächelnd wie ein seliger Engel neigte, sich Gabriele vor ihrem Vater, dann wankte sie am Arm der Frau, die einst an der Schwelle des Lebens sie empfing, still hinaus. Ernesto eilte schon im Vorzimmer ihr entgegen. Ein Strom lindernder Thränen machte beim Anblick des treuen Freundes dem armen gepreßten Herzen Luft. »Sie hatten Recht,« flüsterte Gabriele ihm zu, und lehnte das schöne bleiche Köpfchen auf seine Schulter, indem sie erschöpft auf einen Stuhl sank. Frau Dalling und Ernesto knieten vor ihr hin, sie zu unterstützen.[403]

»Noch ist Rettung möglich!« sprach Ernesto ängstlich und schnell. »Fliehen Sie, alles ist bereit. Frau Dalling begleitet uns, Moritz selbst befördert und beschützt unsre Flucht, er will Sie nicht dem Zwange verdanken. Keine Pflicht bindet Sie, den Willen eines verwirrten Sinnes zu erfüllen, wenn es dem Glücke Ihres ganzen künftigen Lebens gilt. Kommen Sie, verlieren Sie keine Zeit, Pferde und Wagen stehen unten am Schloßberge, jede Minute ist kostbar, Moritz selbst will hier uns vertreten, wir eilen zur Frau von Willnangen.«

»Der Rath kam nicht aus Ihrer Seele, Ernesto,« erwiederte Gabriele sehr ernst und trocknete ihre Thränen. »Wohin könnten Sie mich führen, daß nicht der Fluch meines Vaters mich erreichte? daß nicht die Schrecken der eben durchlebten Stunde mich verfolgten, nicht die Angst um einen sterbenden Vater, dem ich den Trost verweigerte, welchen zu geben in meiner Macht stand? Ernesto,« setzte sie hinzu, und blickte ihn zutrauend an, indem sie seine beiden Hände faßte, »können Sie mir wirklich rathen jetzt zu fliehen?«[404]

»Nein! ich kann es nicht, und du bist verloren,« rief Ernesto, »dort in der Freiheit würde Reue dich verzehren, ich fühle es. So gehe denn gefaßt dem entgegen, was du, reine Seele! als Pflicht anerkennst. Damals, als du diesen fürchterlichen Mauern zueiltest, in denen alles Gute und Schöne untergehen muß, damals hätten wir, deine Freunde, dich zurückhalten, dich nicht so unbedacht der Gewalt eines Wahnsinnigen ausliefern, wir hätten seinen Zustand vorher erkunden sollen. Jetzt ist es zu spät,« setzte er mit verhülltem Gesicht hinzu.


Die zum Schmuck der Braut vom Baron bestimmte Stunde war vorüber. Bleich wie ein Marmorbild, keine Spur von Lebenswärme auf Wangen und Lippen, saß Gabriele auf ihrem Sopha, und schauderte bei jedem Geräusch. Nur ihr schwimmendes Auge, die zitternde Bewegung ihres hochklopfenden Herzens, von welcher der[405] diamantne Blumenstrauß an ihrer Brust erbebte, verriethen innres Leben und innern Kampf. Schweigend, aber vergebens, strebte sie wie sonst dem Unvermeidlichen wenigstens äußerlich gefaßt entgegen zu treten, ihr unwillkürliches Zittern, ihre Unfähigkeit, sich aufrecht zu erhalten, vermochte sie nicht zu überwinden.

Ernesto stand bleich wie sie selbst neben ihr, sein Blick ruhte auf den vor alter Zeit in wunderliche Schnörkel gefaßten Diamanten, die, zum Brautkranz zusammengefügt, Gabrielens blonde Locken niederdrückten. Plötzlich ergriff ihn der Gedanke, daß dieser nehmliche Kranz wahrscheinlich auch an Augustens Opfertage in ihren Haaren geschimmert hatte, und die Ironie des Zufalls, der hier den kalten schweren Stein statt der weichen lieblichen Myrte erwählte, erhöhte den bittern Schmerz, der ihn, den sonst so ruhigen Mann, in diesem Augenblick der Verzweiflung nahe führte.

»Alle Liebe erstirbt in diesen Mauern,« rief er aus, »darum ist auch ihr Symbol daraus verbannt, und spitziger Steine flimmernder Glanz muß dessen[406] Stelle ersetzen. O Gabriele! mögen Sie nie auf Ihrem Lebenswege die Myrte vermissen, die jetzt auch Ihrem Schmucke fehlt, und nie ihr begegnen! Dieß ist der einzige Segen, den ich heute Ihnen geben kann, und es klingt wie ein Fluch.«

»Ich denke Sie zu verstehen, guter Ernesto, und möchte gern Sie trösten, wenn Sie mir nur glauben wollten,« erwiederte sanft und gelassen Gabriele. »Mein Leben ist vorüber, wenn Lieben Leben ist. Andern mag Hoffnung strahlen, mein Stern ist Erinnerung, Erinnerung an eine kurze Stunde voll Wonne und Schmerz, die nie mir wiederkehren kann und dennoch ewig mich beglückt. In meinem Herzen ist der Sturm beschwichtigt, um nie wieder zu erwachen, ich weiß es, seit gestern, da ich es vermochte, vor Ihnen den Namen auszusprechen, den ich nie wieder nennen werde, obgleich ich es dürfte, denn mein Empfinden ist ruhig und schuldlos. Das Opfer, welches ich meinem Vater bringe, ist daher nicht so groß, als Sie es sich wohl denken. Ich opfre keine Hoffnungen, denn ich hatte keine, kein Glück der Zukunft, denn mir blüht keins, als in der[407] Liebe meiner Freunde, und die bleibt mir. Für die Freiheit weniger Jahre gewinne ich meines Vaters Ruhe, seinen Segen, und Frieden mit mir selbst. Es werden der Jahre sehr wenige seyn, mir sagt es mein ahnendes Herz, und warum sollte ich um so hohen Preis mit einer Hand voll Tage noch geizen!«

Die Thüre öffnete sich, Moritz von Aarheim trat herein. Gabriele zuckte bei seinem Anblick krampfhaft zusammen, doch erholte sie bald sich wieder, und ging, gestützt auf ihre Dalling, ihm einige Schritte entgegen. »Haben Sie den Wunsch meines Vaters erfüllt?« fragte sie leise und zitternd.

»Ich habe es. In allen Formen, wie er es verlangte, habe ich gerichtlich mich und meine Nachkommen auf ewige Zeiten verbindlich gemacht, keinen Stein in Schloß Aarheim zu verrücken, weder zu bauen noch einzureißen,« erwiederte Moritz in ungewohnter Kürze, denn innre Bewegung und Gabrielens überirdischer Anblick hemmten den gewohnten Fluß seiner Rede.

»Wollen Sie auch mir eine Bitte gewähren?« fragte Gabriele. Moritz antwortete schweigend[408] mit einer bejahenden Verbeugung. »Nun so versprechen Sie mir, mich nie von meinem Vater zu trennen, solange mir Gott sein Leben erhält,« bat Gabriele, mit unendlich weicher rührender Stimme und Geberde.

»Ich verheiße es Ihnen,« erwiederte Moritz, »gewähren Sie mir dagegen die Versicherung, daß Sie freiwillig und ohne Zwang mir die Hand reichen.«

»Freiwillig, ohne Zwang,« wiederholte Gabriele kaum hörbar.

»Der Baron erwartet uns,« sprach Moritz ebenfalls sehr leise.

Gabriele wankte, indem sie hinausschreiten wollte, Ernesto bot zur rechten Zeit ihr den Arm, um sie vor dem Fall zu schützen; auf ihn gelehnt, betrat sie die an das Zimmer ihres Vaters grenzende Kapelle des Schlosses.

Dort stand der Baron, neben dem Priester am hellerleuchteten Altar, nur die Bewohner des Schlosses und der Gerichtsdirektor waren als Zeugen gegenwärtig, bange Grabesstille herrschte unter allen Anwesenden. Feierlich schritt der[409] Baron dem langsam herannahenden Paare entgegen, er nahm die zitternde Hand der Braut, die so lange auf Ernestos Arm geruht hatte, und schien dabei diesen in der Zerstreuung nicht zu bemerken.

Todesbleiche wechselte mit der Purpurröthe des Zorns in Ernestos Gesicht, während dieses geschah, sein Herz pochte hoch, sein Auge flammte, seine Hand ballte sich wie zum Kampf. Ungehindert hatte indessen die Zeremonie begonnen, welche Gabrielens Schicksal unwiderruflich bestimmte.

Sie ward beendet, alles blieb still, kein fröhliches Getümmel Glückwünschender drängte sich um die Neuvermählten, und wie bewußtlos schwankte Gabriele am Arm ihres Vaters in sein Zimmer. Ernesto folgte mit Moritz von Aarheim, zuletzt Frau Dalling und Annette. Alle übrigen blieben in der Kapelle zurück, die Thüre derselben, welche in des Barons Zimmer führt, ward geschlossen.

Der Baron trat in seinem Zimmer an das Fenster und blickte hinüber zur Brandstätte; wüthender Sturm durchtobte heulend die schwarzen Trümmer. »Dort ist Aufruhr, hier endlich Ruhe,«[410] sprach der Baron, und setzte sich auf seinen gewohnten Platz. Gabriele, unfähig sich aufrecht zu erhalten, kniete vor ihm hin. »Dir danke ich diese Ruhe, Gabriele; auch deine Mutter hat viel für mich gethan,« sprach der Baron. »Ich segne dich nochmals, mein Kind,« setzte er höchst feierlich hinzu, indem er ihre Stirn mit seiner Hand berührte; »auch dich segne ich, mein Sohn Moritz von Aarheim! halte das Kleinod hoch, das ich dir übergab.« Es lag etwas besonders mildes in dem Ton, mit welchem der Baron diese Worte sprach. Ungewohnte Ruhe ebnete die harten Züge seines Gesichts und machte sie fast unkenntlich. »Jetzt ist mein Haus bestellt. Lebt wohl! ich bin müde und gehe zur Ruhe,« sprach er noch, und winkte verabschiedend wie gewöhnlich.

Halb getragen von Annetten und ihrer Dalling, schritt Gabriele langsam der Thüre zu, Moritz und Ernesto folgte ihr; kaum aber hatten sie die Mitte des sehr geräumigen Zimmers erreicht, als Ernesto den Baron in seinem Lehnstuhl zusammensinken sah, zugleich verbreitete sich ein betäubender mandelartiger Geruch. Alle wandten[411] sich plötzlich wieder dem Baron zu. An seinem Halse hing das kristallne Fläschchen erbrochen an der goldnen Kette herab, er selbst lag regungslos in seinem Lehnstuhl, kein Zweifel war möglich. Im Geiste des Kirschlorbeers hatte er den schnellen schmerzlosen Tod eingeathmet, welchen er einst Gabrielen bestimmte, die einzige Frucht seines jahrelangen, mühseligen, alchymistischen Forschens.

In tiefer Ohnmacht sank Gabriele neben der entseelten Hülle ihres Vaters zu Boden.

1

Nimm das letzte Pfand meiner Liebe –

Freiheit und Tod.

Aus Virginia, Trauerspiel von Alfieri.

Quelle:
Johanna Schopenhauer: Gabriele. Theil 1–3, Band 2, Leipzig 1821, S. 1.
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Der grüne Kakadu. Groteske in einem Akt

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In Paris ergötzt sich am 14. Juli 1789 ein adeliges Publikum an einer primitiven Schaupielinszenierung, die ihm suggeriert, »unter dem gefährlichsten Gesindel von Paris zu sitzen«. Als der reale Aufruhr der Revolution die Straßen von Paris erfasst, verschwimmen die Grenzen zwischen Spiel und Wirklichkeit. Für Schnitzler ungewöhnlich montiert der Autor im »grünen Kakadu« die Ebenen von Illusion und Wiklichkeit vor einer historischen Kulisse.

38 Seiten, 3.80 Euro

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