Erster Theil

[1] Der Winter war, gegen Ende des Märzmonats, nach kurzem Scheiden, mit verdoppeltem Inngrimm wiedergekehrt; gewaltige Eiszapfen schwebten von allen Dächern herab, und flimmerten im klaren kalten Mondenlicht, kristallnen Girandolen vergleichbar. Der alles überkleidende Schnee blitzte, wie mit Diamanten übersäet, unter dem knisternden Fußtritt einzelner Wanderer, die, Pelz, Bart und Haar mit Reif bepudert, ihrer Wohnung zueilten. Öde und vereinsamt lagen Moskaus sonst so lebensreiche Straßen wie ausgestorben da, denn Menschen und Thiere drängten, von grimmiger Kälte getrieben, im Innern der Gebäude, zwischen den wärmenden[1] vier Wänden sich zusammen, die Keiner verließ, den Nothwendigkeit nicht hinaustrieb.

In der Vorhalle der großen, aus der Asche wieder aufgestiegenen Kaserne, welche zur Militairschule gehört, standen indessen dennoch zwei junge Männer, ohne die große Kälte anscheinend zu bemerken, in eifrigem Gespräch lange bei einander. Der eine derselben, vom Kopfe bis zum Fuß in reiche Pelze gehüllt, vermochte zwar wohl der rauhen Winterluft Trotz zu bieten, doch nicht so der Andere, eine jugendlich zarte schlanke Gestalt, in der leichten Uniform der Lanzenreiter vom Bug; und doch war es gerade dieser, der, als ob er die Kälte gar nicht empfände, seinen wohl bepelzten Freund festhielt, und immer wieder – und immer fester an die Brust drückte.

Nun, so gehe denn, weil es nicht anders sein kann! sprach er endlich, indem er sich nicht ohne Anstrengung zusammennahm: mein Freund, mein Bruder, mein Eugen! gehe zurück zu den[2] Deinen, zurück zum Palast Deines Vaters! gehe, aber verlaß mich nicht ganz. Reiche mir zuweilen die Freundeshand über die Kluft hin, welche der heutige Abend zwischen uns öffnet, – damit ich nicht ganz verstoßen mich fühle! setzte er, unwillkürlich sehr weich werdend, hinzu; und wandte unmuthig sich ab, vielleicht um eine aufsteigende Thräne in seinem Auge zu verbergen.

Eugen trat ein Paar Schritte zurück und sah ernst und forschend ihm ins Gesicht. Du bist krank! rief er, gewiß Richard, Du bist wieder krank, denn mit gesunden fünf Sinnen kannst Du auf solche ganz absurde Gedanken nicht verfallen. Nun, so steige nur gleich in den Schlitten, und fahre mit mir wieder nach Hause; ich will es bei Deinem Rittmeister schon verantworten.

Mein Gemüth, meine Seele sind voll trüber Gedanken und Trennungsweh', doch körperlich[3] krank bin ich nicht: erwiederte Richard, wehmüthig lächelnd.

Ob Du wunderlich bist! rief Eugen; warum geberdest Du Dich denn so? spricht der Mensch nicht von Kluft! von Verlassensein! von lauter Jammer und Noth, als ob Gott weiß was für ein großes Unheil über ihn hereingebrochen wäre! Kannst Du denn wirklich befürchten, weil Du in der Kaserne jetzt wohnst und nicht mehr bei uns, würde Dir es an irgend etwas mangeln? recht wie ein Muttersöhnchen, das von Mama weg auf die Hochschule soll, und nun meint es wäre aus mit allem irdischen Glück.

Für solch ein Jammerbild wirst Du mich doch nicht halten, rief Richard bitter lächelnd.

Freilich nicht, erwiederte ebenfalls lachend Eugen, aber, nimm's nicht übel, seit einer Stunde ist dieses das erste vernünftige Wort, das ich von Dir höre. Soll ich Dich abermals daran erinnern, daß Keiner dieser Prüfungszeit, die[4] Du jetzt antrittst, beim Anfange seiner militairischen Carrière sich entziehen kann? und auch daß es Mittel giebt, sie in gewissen Fällen sehr abzukürzen? Du kennst meinen Vater, an seiner herzlichen Liebe zu Dir kannst Du nicht zweifeln, also – fasse Muth, sei vernünftig und hoffe das Beste.

Ein schwerer Seufzer, der hörbar den tiefsten Tiefen seiner Brust sich entwand, war Richards Antwort. Eugen sah zweifelnd ihn an, und blieb still und gedankenvoll vor ihm stehen.

Richard, sprach er nach kurzem Schweigen sehr sanft, beinahe verlegen, es muß heraus, was ich auf dem Herzen habe; bereuest Du gerade diese Bahn zu Deinem ferneren Fortkommen Dir erwählt zu haben? Ist dem so, wie eine leise Ahnung in meiner Seele behaupten will? Warum solltest Du Dich scheuen, es Deinem Freunde schnell und offen zu gestehen. Es war Deine eigne Wahl, Niemand hat versucht[5] sie leiten zu wollen. Aber in der Ferne sehen die Dinge anders aus als in der Nähe, und man mißversteht oft sich selbst und das eigne Herz.

Nein, nein, und Tausendmal nein! rief Richard mit großer Heftigkeit; ich bin kein wankelmüthiger Knabe, kein schwankendes Rohr. Ich habe alles wohl durchdacht, geprüft, überlegt, als ich den einzigen Weg einschlug, der mir, dem Namenlosen, dem Armen, eine entfernte Möglichkeit bot, ihn dem hohen Fürstenhause einigermaßen zu nähern, dem Du, dem die Deinen angehören, zu dem auch ich einst durch meine seltsame Stellung verleitet – –. Ach! laß jene qualvollen Tage mich vergessen! Laß mich hoffen, Zeit und Glück werden mir günstig sein. Und wahrlich, fuhr er, sich plötzlich hochaufrichtend, mit warmer Begeisterung fort: wahrlich, stellt sich mir die Gelegenheit, stellt sie sich mir, in welcher Gestalt es sei, ich werde nicht schwachmüthig[6] sie mir entschlüpfen lassen. Bei der Stirnlocke will ich die Flüchtige schon zu fassen und zu halten wissen. Ich erreiche das Ziel, das ich mir gesetzt, oder gehe unter im Streben danach.

Bravo! bravo! so ist es Recht, so gefällst Du mir; erwiederte Eugen und schüttelte ihm kräftig die Hand. In kurzen flüchtigen Worten ermahnte er ihn nochmals, so guten Muthes zu beharren; erinnerte, daß er Morgen zur Mittagstafel erwartet werde, um selbst zu berichten wie seine neue Wohnung ihm gefalle, und daß Helene fest darauf rechne, noch vorher die gewohnte musikalische Übungsstunde mit ihm zu halten. Dann warf Eugen sich in den schon längst seiner harrenden Schlitten, und jagte wie auf Sturmesflügeln davon.

Richard starrte in die kalte schweigsame Mondnacht hinein, bis seinem Auge die flüchtige Freundesgestalt entschwunden, und auch der letzte Ton des silbernen Schellengeläutes verhallt war. Dann[7] wandte er sich, und stieg langsam die zu seinem Zimmer führende Treppe hinan.

Auf alles, was in demselben zu seiner Bequemlichkeit beitragen konnte, war mit liebender Sorgfalt Rücksicht genommen. Zwischen Schlaf und Wachen harrte im Vorsaal der alte Paul seiner Befehle, ein treuer Diener, der schon seiner Kindheit gepflegt hatte, und ihm jetzt zur Bedienung zugegeben worden war. Vom großen Ofen ging eine überall gleichverbreitete wohlthätige Wärme aus, wohlverwahrte Doppelfenster hielten das Eindringen der rauhen Winterluft ab, und ein dicker Teppich deckte den Fußboden. Auch fehlte es weder an einem mit seinen Lieblingsschriftstellern wohl besetzten Bücherschranke, noch an einem bequemen Schreibtische.

Richard wollte der thätigen Theilnahme sich freuen, mit der hier für ihn, den dunkeln Fremdling, gesorgt worden war; aber das sonst so warme, jedem frohen Gefühl offne Herz lag[8] für jetzt wie todt und erstarrt ihm in der Brust. Mit einer gewissen Ängstlichkeit suchte er nach irgend etwas, das ihn lebhaft genug anregen könne, um die innere Trostlosigkeit zu bekämpfen, die immer mächtiger werdend, sich seiner ganz zu bemeistern drohte; da fiel in einer etwas dunkeln Ecke des Zimmers eine schön gearbeitete Schatulle ihm auf, die er bis dahin übersehen, und zugleich erinnerte er sich eines Schlüssels, den Eugen, ehe er von ihm ging, ihm übergeben und zu sichrer Aufbewahrung anempfohlen hatte.

Unbeschreiblich freudig überrascht, erkannte er in dem zierlichen Behältniß ein sonst hochgehaltenes Eigenthum der Fürstin Eudoxia, der Mutter Eugens. Es war das Meisterstück eines jungen Ebenisten, der unter dem Schutze ihres Gemahls sich kürzlich in Moskau niedergelassen hatte; ein Kästchen von Ebenholz, mit einem gleich Diamanten blitzenden stählernen Netze überzogen. Aus jedem der hellpolirten Stahlplättchen leuchtete,[9] wie aus so vielen freundlichen Augen, ein Strahl jener sonnenhellen Tage seiner Jugendzeit ihm entgegen, die er in banger Vorahnung mit dem heutigen geschlossen gewähnt, und eine Thräne der reinsten gefühltesten Freude umdunkelte sein Auge, als er vor dem Inhalte des Kästchens stand, beinahe laut aufjauchzend, wie ein glückliches Kind vor der unerwartet reichen Weihnachtsbescheerung.

Im kleinen Raum lag hier seine ganze glückliche Knaben- und Jünglingszeit ausgebreitet vor ihm; von den mit mühseliger Künstlichkeit aus Rennthierknochen geschnitzten Figürchen der Lappländer an, die er einst als vortreffliche Meisterstücke bewundert hatte, bis zu den glänzenden Terzerolen des Fürsten Alexis, Eugens älterem Bruder, zu denen er oft in kindischer Sehnsucht seufzend hinaufgeblickt, und dem prächtigen, mit Rubinen und Smaragden besetzten Türkendolch, sonst Eugens liebstes Eigenthum,[10] das ohne seine Erlaubniß Niemand zu berühren, kaum anzublicken wagte. Dicht daneben kauerten auch die kleinen glattköpfigen Chinesen von Speckstein in einer Ecke beisammen, die viele Jahre lang auf einem Ecktischchen im Zimmer der Fürstin Eudoxia ihren Platz gehabt hatten, und wurden von ihm als kleine stumme Gesellen seiner glücklichsten Stunden mit einer Art von Rührung begrüßt. Denn nur wenn er ganz ausgezeichnet folgsam und fleißig gewesen war, wurde es ihm erlaubt, zu den Füßen seiner hohen Pflegemutter damit zu spielen.

Nichts von Allem fehlte, was in früher Jugend ihm besonders werth oder bedeutend erschienen. Da war die eigne Uhr des väterlichen Beschützers seiner Kindheit, des Fürsten Andreas; wie oft hatte dieser sie geöffnet, um dem auf seinem Knie sich schaukelnden Knaben das feine innere Räderwerk derselben bewundern zu lassen! Auch das einfache Taschenbuch, das er täglich in[11] dessen Händen gesehen; Richard war in diesem Augenblicke zu bewegt, um den reichen Inhalt desselben zu bemerken. Da war auch noch eine kunstreiche Stickerei von den eignen Händen der Fürstin Eudoxia, eine von der Fürstin Natalie, der ältesten Tochter jenes edlen Paares, gezeichnete Landschaft, ein silberner Becher vom Fürsten Konstantin, ihrem verlobten Bräutigam; Richard hatte einst bei diesem den Becher gesehen, und die schöne getriebene Arbeit daran bewundert.

Sogar keines der entfernteren Mitglieder der Familie hatte sich davon ausgeschlossen, ihn, der so lange in ihrer Mitte gelebt hatte, durch ein Andenken an vergangne Tage zu erfreuen. Der Tisch war bald mit einer Menge jener eben so zierlichen, als größtentheils unbrauchbaren kleinen Geräthschaften aus Bronze und Vermeille bedeckt; glänzendes Spielzeug für große Kinder, das die Mode überall, besonders aber in Rußland[12] eingeführt hat. Denn ungeachtet der unglaublichen Fortschritte, die dieses, die erste Grenze höherer Kultur erst vor kurzem überschritten habende Volk während des Laufes der letzten hundert Jahre gemacht hat, neigt sein Geschmack sich noch immer mit einer Art kindlicher Naivität dem zu, was die alten Griechen barbarisch zu nennen pflegten.

So suchen nur Eltern ihren Sohn, Geschwister ihren Bruder, über eine nothwendig gewordene Entfernung aus dem väterlichen Hause zu trösten und zugleich ihr Andenken in ihm lebendig zu erhalten: rief es laut in seinem Herzen. Seit über seine wahre Lage ihm die Augen aufgegangen waren, konnte er es sich leider nicht mehr verhehlen, daß er ein Fremdling unter Fremden aufgewachsen sei; doch diese traurige Wahrheit drückte ihn nicht mehr zu Boden; er hatte die Überzeugung gewonnen, geliebt zu sein, und diese erhob ihn wieder; sie tröstete ihn über[13] Alles, was er früher entbehrt hatte, ohne es zu empfinden.

Ungeachtet der vor ihm ausgebreiteten Reichthümer schien Richard aber doch noch etwas zu vermissen; er suchte und suchte mit steigender Ängstlichkeit, bis er endlich auf dem Grunde der Schatulle ein ziemlich zerlesenes Büchelchen fand, eine englische Taschenausgabe des Vicar of Wakefield, und in demselben als Buchzeichen ein Stückchen blaues Silberband. Alles übrige war nun vor seinen Augen ver schwunden; die auf dem Tische ausgebreiteten Herrlichkeiten mochten liegen bleiben wie sie lagen, er warf mit seinem Funde sich in den nächsten Sessel, und schien eifrig die unscheinbaren Blätter zu studiren. Ob er wirklich darin las? wer mag das sagen.

Nun, Bruderherz, spielst Du auch hier noch immer den Gelehrten? rief eine tiefe sonore Stimme neben ihm, und ein leichter Schlag auf die Achsel begleitete die Frage. Richard blickte auf;[14] Iwan Yakuchin, Unteroffizier des Regiments, zu welchem auch er von heute an gehörte, stand vor ihm, ein ihm sehr lieber, wenn gleich nicht alter Bekannter; denn Iwan war erst seit wenigen Monaten aus dem südlichern Rußland nach Moskau gekommen.

Er war an Leib und Seele ein roher Diamant, dieser Iwan; ein treues, tapfres, redliches Gemüth, dessen seltnen Werth Richard auf den ersten Blick erkannt hatte; obgleich er weit davon entfernt war, ihn seinem weit höher gebildeten Freunde Eugen gleichzustellen, dessen ganzes Wesen durch die zartesten, innigsten Bande dem Seinigen auf das unzertrennlichste verzweigt war. Iwan aber hatte mit seinem heißen, liebebedürfenden, durch die erste Trennung vom väterlichen Heerde schmerzlich verletzten Herzen, sich an die Brust des Jünglings geworfen, dessen milde edle Erscheinung ihn unwiderstehlich anzog; er war nicht gewohnt, das was in seinem Gemüthe vorging, bis auf gelegenere Zeit weltklug zu verbergen,[15] und Richard war eben so wenig dazu geeignet, eine ihm entgegenstrebende Neigung hart und kalt von sich abzuweisen.

Nicht nur als Kamerad, auch als Nachbar komme ich in dieser späten Stunde Dich zu begrüßen; denn wenn gleich weite Hallen, lange Korridors und einige Höfe zwischen uns liegen, so wohnen wir doch eigentlich unter einem Dach, sprach Iwan und schüttelte treuherzig dem Freunde die Hand. Was bin ich froh, Dich der parfümirten, vornehmen Atmosphäre endlich entronnen zu sehen, in welcher ein geheimes Etwas unser Einem, mir wenigstens, immer den Athem versetzt! fuhr er fort. Jetzt erst, Herzensbrüderchen, wirst Du recht aufleben, wenn Du fühlst und einsiehst, was es sagen will, sich selbst angehören, sich nach eigner Willkür regen und bewegen, frei von den tausend Banden, mit welchen jene Kneesen, Fürsten, oder wie man sie nennen will ...[16]

Vater und Mutter, Brüder und Schwestern, sind, die Du meinst, mir gewesen; sie sind es mir noch, und werden es bleiben, und ich will auf keine Weise sie schelten hören: fiel Richard heftig mit zornblitzenden Augen ihm ein. Und wenn ich sie nie wiedersähe, und wenn sie ihre Hand ganz von mir abzögen, sie bleiben das Kleinod meines Herzens, an dem ich hänge, fester als am eigenen Leben. Habe ich nicht, außer diesem, ihnen alles zu verdanken? und ich will sie nicht verunglimpfen hören, nicht durch den Schatten eines sie herabsetzenden Gedankens.

Nun nun! nun nun! erwiederte Iwan sehr gutmüthig, ereifre Dich nicht, ich meine es ja nicht böse. Ich will mich ja gern fügen, wenn man mir nur das Verständniß öffnet. Ich kenne ja nichts, bin hier noch nagelneu, weiß noch von gar nichts; nicht einmal wer Du eigentlich bist. Als ich auf der Reitbahn zum erstenmale[17] Dich sah, hätte ich Dich beinahe auch für so ein Fürstenkind gehalten. Und vielleicht bist Du es auch, denn hier sieht es doch gewaltig fürstlich aus! rief er plötzlich, indem er jetzt erst den mit glänzenden Geschenken bedeckten Tisch gewahr wurde. Was für Reichthümer! Hilf Gott, dergleichen kommt mir nicht einmal im Traume vor.

Richard, in der noch nicht verklungenen Freude seines Herzens, und zugleich froh dem Gespräch dadurch eine andre Wendung geben zu können, beeiferte sich seinem Freunde mit der größten Gefälligkeit jedes Stück einzeln zu zeigen, und ihm den Gebrauch von manchem derselben zu erklären. Denn der gute Iwan war ein ebenso großer Neuling in Hinsicht dessen, was die elegante Welt unentbehrlich nennt, als des Lebens in und mit ihr. Zugleich nannte Richard bei jedem der Geschenke ihm den Namen des Gebers, und suchte bei einigen derselben ihm[18] begreiflich zu machen, durch welche Nebenbedeutung diese einen unschätzbaren Werth für ihn erhielten. Iwan sah und hörte alles mit der größten Aufmerksamkeit an: Brave Leute, gute Leute, vornehm aber gut, murmelte er dabei in abgebrochnen Sätzen vor sich hin; ja wohl Eltern und Brüder für Dich, mußt sie ehren und lieben, Du kannst nicht anders. Nachdem Iwan alles sattsam betrachtet und bewundert hatte, ausgenommen den Vicar of Wakefield, der ihm nicht gezeigt worden war, und dem er auch wohl kein Interesse abgewonnen hätte, setzten beide Freunde in immer traulicher werdendem Gespräch sich zu einander hin. Iwan erzählte von seinen früheren Verhältnissen; von seinem alten Vater, einem wackern Landmanne am Fuße des Kaukasus, von seiner fleißigen, noch im höheren Alter im Haushalte rührigen Mutter; von seinen vielen Schwestern und Brüdern, sogar von seinen vielen Hunden, die er alle[19] hatte daheim lassen müssen, und nur einen mitnehmen dürfen. Er war so jung, so einfach auferzogen, hatte so weniges erlebt, daß ihm alles bedeutend erschien. Auch Richarden ging, in der Stille der Nacht, das ohnehin sehr bewegte Herz auf; auch er ergoß sich in offnem Vertrauen gegen seinen Freund; und als Iwan zu später Nachtzeit ihn verließ, konnte er nicht mehr darüber klagen, daß er nicht wisse, wer Richard eigentlich sei.


Sally! mach' endlich Feierabend: setz' Dich zu mir, und lass' uns unser Butterbrod und unsern Krug Porter gemüthlich mit einander verzehren, ich habe viel Neues Dir mitzutheilen, und mich über mancherlei mit Dir zu berathen.

So ungefähr hatte zwölf oder dreizehn Jahre vor jenem Abende in dem kleinen englischen Fabrikstädtchen Nottingham, Master Wood, ein[20] guter ehrlicher Strumpf-Fabrikant, seiner noch in ihrem Haushalt beschäftigten Ehefrau zugerufen.

Ohne diesen letzten Zusatz hätte Mißtreß Wood ihren lieben Herrn und Gebieter wohl noch ein halbes Stündchen warten lassen. Zwar waren die Kinder schon zu Bette gebracht, die Taubenpastete für den morgenden Sabbath, dieses größte Festtagsgericht der englischen Kleinbürger, war bis zum Abbacken fertig, die Rhabarber-Torte ebenfalls, die Keine so trefflich zu bereiten wußte als sie: es war jedoch Sonnabend, am folgenden Tage wurden einige Gäste aus der Nachbarschaft erwartet, und die ordnungsliebende Hausfrau hätte gar zu gern vor Schlafengehen noch dieses und jenes besorgt.

Aber Master Wood hatte ihr Neues zu erzählen, und verlangte obendrein ihren Rath, ein Fall der sich nicht oft ereignete; was in aller Welt konnte das bedeuten! dieser Gedanke besiegte[21] jede ihrer Bedenklichkeiten. In aller Geschwindigkeit warf sie noch eine Hand voll Cayenne-Pfeffer in die Pastete, band ihre Küchenschürze ab, rückte vor dem Spiegel ihre Haube zurecht, und saß nach zwei Minuten mit dem allerfreundlichsten erwartungsvollsten Gesicht neben ihrem Mann, an dem bereits gedeckten Abendtisch.

Beide befanden sich in jener heitern zufriednen Stimmung, wie sie der in England dem stillen Genusse häuslichen Wohlbefindens besonders geweihte Samstagabend erfordert, dieser freundliche Vorläufer des ernsteren, halb dem Gottesdienst, halb der Langenweile gewidmeten Sonntags. Master Wood hatte, wie der pünktliche Geschäftsmann an diesem Tage immer that, seinen Arbeitern ihren Lohn ausgezahlt, seine Wochenrechnungen abgeschlossen, und war mit dem Ertrage derselben zufrieden. Mißtreß Wood freute sich auf die einer arbeitsvollen[22] Woche folgende Sonntagsruhe, auf den morgen zu erwartenden Besuch ihrer Verwandten, auf das neue Bonnet, mit welchem sie in der Kirche zu erscheinen gedachte. Mann und Frau waren gute, redliche, fleißige Leute, denen es, bei ziemlich beschränkten Mitteln, nicht leicht wurde, sich und ihre vierzehn Kinder anständig und ehrlich durch die Welt zu bringen, von denen das älteste achtzehn, das jüngste anderthalb Jahre alt war.

Solche zahlreiche Familien sind indessen in Großbritannien, besonders beim Mittelstande, nichts Ungewöhnliches; und das Ehepaar war mit seiner Lage ganz zufrieden. Der Hausvater hätte freilich gern, durch einige Vermehrung seines Kapitals, seinem Geschäft eine größere Ausdehnung gegeben; war aber doch herzlich froh, wenn bei möglichstem Fleiß von seiner, bei möglichster Sparsamkeit von seiner Frau Seite, es am Ende des Jahres ihm gelang, beide[23] Enden zusammenzubringen, wie er es nannte; das heißt, wenn seine Ausgaben seine Einnahme nicht überstiegen. War er aber vollends so glücklich gewesen eine kleine Summe erübrigt zu haben, die er zu seinem Kapital schlagen konnte, so hätte er in dem Augenblicke gewiß nicht mit dem Lord Mayor von London getauscht.

Nach Beendigung des frugalen Mahles zog Master Wood, mit einiger Umständlichkeit, einen dicken Brief hervor, und machte Anstalt ihn seiner Frau vorzulesen; denn kein Engländer wird während der Mahlzeit von Geschäften sprechen; auch hatte Mißtreß Wood äußerlich ganz gelassen, wenn gleich vor innerer Ungeduld brennend, diesen Zeitpunkt abgewartet. Das Schreiben war von einem bedeutenden Correspondenten ihres Mannes, dem reichen und angesehenen Strumpfhändler Smith in London und der Anfang desselben kam der guten Frau zwar ganz angenehm, aber keinesweges besonders merkwürdig[24] oder interessant vor. Es enthielt einige Bestellungen im Fache ihres Gatten, deren Ausführung freilich einen ziemlich bedeutenden Vortheil abzuwerfen versprach.

Jetzt, Sally, gieb Acht, nun kommt das Beste, rief Master Wood, indem er das Blatt umschlug, und zugleich seine Frau bemerken ließ, wie bis dahin der Brief von dem Handlungsdiener seines geehrten Gönners und Freundes, der nun folgende Zusatz aber von ihm selbst eigenhändig geschrieben sei; dann las er:

»Seit unsrer ersten kommerziellen Verbindung, werther Sir, besonders aber seit ich Sie und Ihre Familie persönlich kennen lernte und von Ihnen eingeladen wurde, bei einem Ihrer Söhne Pathenstelle zu vertreten, habe ich mir immer gewünscht, durch mehr als bloße Worte mein aufrichtiges Wohlwollen und meine Theilnahme Ihnen zu beweisen, und die Gelegenheit dazu hat sich gestern ganz unerwartet gefunden.[25]

Sir John Murray, mein sehr ehrenwerther Freund, dessen großes Übergewicht an der Londoner Börse Ihnen gewiß nicht unbekannt ist, und mit dem ich zuweilen von Ihnen und der zahlreichen Familie gesprochen, mit welcher es dem Herrn gefallen Sie zu segnen, hat mir, in Hinsicht auf Sie, einen Vorschlag gethan, der mir zu annehmbar scheint, als daß man vernünftiger Weise nicht darauf eingehen dürfe.

Ein sehr vornehmer russischer Großer, ungefähr das, was man in unserm Lande einen Lord und Pair des Reiches nennen würde, hat durch den berühmten Banquier Groß in St. Petersburg an unsern Sir John den Auftrag ergehen lassen, ihm einen acht bis zehnjährigen englischen Knaben, von guter ehrbarer Familie, herüberzuschicken, den er mit seinen eigenen, ungefähr im nämlichen Alter stehenden Kindern erziehen lassen will, damit diese, gleichsam spielend, auf leichte Weise von ihm englisch reden lernen.[26] Denn Sie müssen wissen, werther Sir, unsre Sprache wird auf dem Kontinente, besonders aber in Rußland, mit jedem Jahre beliebter, und es ist dort in großen Häusern gebräuchlich, junge Ausländer, besonders englische oder deutsche Knaben, zu dem nämlichen Zwecke in ihren Familien aufzunehmen.

Sir John, dem meine Vorliebe für Sie und die Ihrigen nicht unbekannt ist, kam gleich nachdem er diesen Auftrag erhalten zu mir, um sich zu erkundigen, ob einer Ihrer Söhne sich vielleicht zur Erfüllung desselben eignen möchte, fügte aber hinzu, daß kein langes Bedenken hier statt finden könne, sondern im Gegentheil der Entschluß gleich auf der Stelle gefaßt werden müsse. Die schon weit vorgerückte Jahreszeit möchte einer so bedeutenden Seereise nicht lange mehr günstig genug bleiben, um sie mit vollkommner Ruhe und Sicherheit unternehmen zu können; überdem liegt das nach Petersburg bestimmte[27] gute Schiff, der Delphin, in diesem Augenblicke segelfertig auf der Themse, dessen Kapitain, der mir und Sir John wohlbekannte Simon Hill, ganz der Mann dazu ist, das Kind unterwegs wohl zu verpflegen, und ungefährdet an Ort und Stelle zu bringen.

Vor Allem bitte ich Sie, werther Freund, bei diesem Vorschlage, auch nicht auf die allerentfernteste Weise, an entehrende Dienstbarkeit zu denken. Ihr Sohn wird gewiß nicht den jungen russischen Lords zur Aufwartung beigegeben; er soll weder ihr Tiger, wie unsre Dandys das nennen, noch ihr Jokey werden, sondern, in allen Stücken ihnen gleich gehalten, alle Vortheile einer liberalen Erziehung mit ihnen zugleich genießen, wie nur sehr reiche und vornehme Eltern sie ihren Kindern zu gewähren vermögen. Hat er dereinst das dazu gehörige Alter erreicht, so kann er fest darauf rechnen, im dortigen Lande durch die edle Familie, in[28] welcher er aufgewachsen, eine anständige, seinen Wünschen und Talenten angemessene Versorgung zu erhalten, oder für seine Zukunft wohl ausgestattet, in sein Vaterland zurück gesandt zu werden wenn er, als ächter Britte, dieses vorziehen sollte.

Die einleuchtend großen Vortheile dieses Anerbietens können Ihrem guten soliden Verstande unmöglich entgehen. Nicht nur daß Sie dadurch den mit jedem Jahre zunehmenden Ausgaben für die Erziehung eines ihrer Söhne überhoben werden; was bei einer so zahlreichen Familie keinesweges unbedeutend ist; ihr Sohn gewinnt dadurch auch eine Aussicht für sein ferneres Fortkommen in der Welt, wie Sie ihm solche, auf dem gewöhnlichen Wege, schwerlich gewähren könnten.

Daher schmeichle ich mir mit der Hoffnung in Ihrem Sinne gehandelt zu haben, indem ich auf das Anerbieten Sir Johns, der auf[29] augenblickliche Entscheidung drang, in Ihrem Namen eingegangen bin, und alles Weitere mit ihm verabredet und festgestellt habe.

Da mir wohlbekannt ist, wie sehr jede Entfernung von Hause durch Ihre Geschäfte Ihnen erschwert wird, so soll mein Ihnen wohlbekannter Handlungsdiener, James Cox, nächste Mittwoch mit der Mailkutsche bei Ihnen eintreffen, um meinen Pathen Richard abzuholen, und zu mir nach London zu bringen. Er steht gerade in dem gewünschten Alter von circa acht Jahren, und möchte vermöge seiner hübschen Gestalt, seines aufgeweckten Wesens, und seiner übrigen guten Anlagen, für unsern Plan am besten sich eignen. Für die Garderobe des kleinen Reisenden werde ich Sorge tragen; ich werde mit allem, was er für die Reise nöthig haben wird, ihn versehen. Ist er einmal am Orte seiner Bestimmung angelangt, so muß er[30] ohnehin nach dortigem Landesgebrauche gekleidet werden.

Ungeachtet der in die Augen springenden großen Vortheile, welche die Annahme meines Vorschlags Ihnen gewähren muß, versichre ich Sie dennoch, werther Freund, daß ich dieselbe als einen, mir persönlich gewährten Beweis Ihres Vertrauens und Ihrer Achtung ansehen und zu schätzen wissen werde. Zum Zeichen dieser meiner guten Gesinnung erbiete ich mich jetzt aus eignem Antriebe, Ihnen einen Kredit auf die volle Summe auszustellen, deren Sie, wie Sie bei unsrer letzten Zusammenkunft äußerten, bedürfen würden, um Ihrem Geschäft eine größere Ausdehnung zu geben, und durch Erwerbung eines bedeutenden Vermögens zu Ehren und Ansehen gelangend, es binnen kurzem Ihrem hochmüthigen Nachbar Bird wenigstens gleich zu thun. Auch Sir John beauftraget mich Ihnen zu melden, daß er von nun an sich gern[31] bereitwillig zeigen werde, Ihnen bei vorkommenden Gelegenheiten nützlich und hülfreich zu sein.

Das Nähere hierüber mögen Sie vorläufig mit unserm James Cox besprechen, der nicht ermangeln wird, sich nächste Mittwoch mit der Mailkutsche bei Ihnen einzustellen. Sollten Sie aber, freilich ganz gegen mein Erwarten, für gut finden, meine für Sie gethanen Schritte zu mißbilligen, und mein und Sir Johns Anerbieten von sich abzuweisen, so ist es nothwendig, daß Sie in der nämlichen Stunde, in welcher Sie dieses Schreiben erhalten, eine Staffette mit Ihrer abschlägigen Antwort an mich abfertigen; der nächste Tag wäre dazu schon zu spät. Auch kann ich nicht umhin Ihnen offen zu gestehen, daß von Ihrer Seite ein solches Verkennen meines guten Willens mir höchst empfindlich und unangenehm wäre, und obendrein mich, von Seiten Sir Johns, mancherlei Verdrießlichkeiten aussetzen würde.«[32]

Das freundliche Gesicht, mit welchem Mißtreß Wood anfangs zuhörte, wurde immer länger und länger, je weiter Herr Wood las; die arme Frau wurde feuerroth, dann blaß, dann todtenbleich, und saß zuletzt an allen Gliedern zitternd, unfähig ein Wort aufzubringen, wie versteinert da.

Nun, Sally, Liebste, was sagst Du dazu? fragte Master Wood, als er mit dem Briefe fertig war. Sally erwiederte keine Sylbe. Nun? fragte er nochmals und bückte sich, um in das abgewendete Gesicht ihr zu sehen. Sally sprang auf, trocknete mit konvulsivischer Hast die in Thränen schwimmenden Augen, und sah nach der Uhr.

Noch nicht eilf Uhr, Gottlob! sprach sie mit seltsam bedrücktem Ton: im Posthause sind sie noch wach, auch Jemmy kann noch nicht zu Bette sein; ich rufe ihn während Du schreibst, und wäre er schon eingeschlafen, so laufe ich selbst[33] mit unsrer Magd die Paar Schritte hinüber. Schreib nur geschwind, guter Mann; um Nein zu sagen, brauchts nicht vieler Worte. Damit wollte sie zur Thüre hinaus.

Mißtreß Wood! Sally! wo willst Du hin? rief der erschrockne Gatte.

Ich sagte es ja schon, war die entschlossene Antwort: zur Post will ich, das Pferd, die Stafette bestellen; es ist die höchste Zeit, wir haben keinen Augenblick zu verlieren, die Stafette muß gleich fort, mit Sonnenaufgang wäre es schon zu spät; so steht es ja in dem unglücklichen Briefe.

Aber Mißtreß Wood, aber Sally, aber theures Weib, aber so überlege, so bedenke doch nur! stotterte Master Wood in großer Angst, hielt aber doch die sich heftig sträubende Frau von der Thüre entfernt.

Bedenken? rief sie: giebt es da noch etwas zu bedenken? Ihre weit geöffneten Augen wurden[34] vor Schrecken starr, wie die einer Leiche, indem sie ihm jetzt ins Gesicht sah; heftig schlug sie die Hände über ihrem Haupte zusammen. Wood! Mann! Vater! rief sie völlig außer sich: wie! wäre es möglich? Du wolltest? Du könntest über das Herz es bringen? meinen Richard! meinen süßen Liebling, meinen armen Knaben, weit weg von Alt-England, zu Kannibalen, in das wilde Kosakenland, zu Heiden, zu Mohamedanern oder gar zu Papisten! Nein, nein, nein; nicht nur ich die Mutter, nein, auch Dein eignes Gewissen kann nimmermehr eine solche That zugeben. Aber es ist nicht Dein Ernst, Du scherzest, aber das solltest Du so nicht mit mir, Du weißt wie schwach und furchtsam ich bin, setzte sie mit erzwungener Gelassenheit hinzu, und ein ängstliches Lächeln glitt über ihre verstörten Züge.

Wood war indessen doch zu einiger Fassung gelangt. Schmeichelnd, bittend, sie liebkosend, zog[35] er die arme Mutter aufs Sopha und hielt sie dort fest, indem er durch Zureden und Vernunftgründe sie zu beschwichtigen suchte. Fürs erste bemühte er sich, ihr Vorurtheil gegen Rußland und dessen Bewohner zu bekämpfen, dann setzte er alle Vortheile des an sie beide ergangenen Vorschlages auf das weitläuftigste ihr auseinander. Er wollte mit Hülfe ihres wirklich sehr gesunden Verstandes ihr Mutterherz übertäuben; es gelang ihm nicht; in allem was er vorbrachte, hörte und verstand sie nur, daß er Willens sei ihr Kind aus ihren Armen zu reißen, um es nach einem fernen wilden Lande, zu fremden Leuten zu schicken.

Angst und Schmerz überwältigten endlich ihre physische Kraft. Fürchterlich aufkreischend glitt sie, ehe ihr Mann sich dessen versah, aus seinen Armen auf den Fußboden hin; dort lag sie zu seinen Füßen, konvulsivisch schluchzend, gräßlich lachend, das Gesicht bis zum unkenntlichen[36] durch fürchterliche Zuckungen entstellt, in einem jener hysterischen Anfälle, denen bei heftigen Gemüthsbewegungen die Engländerinnen weit mehr und häufiger, als andre Frauen unterworfen sind.

Dem ehrlichen Wood geschähe himmelschreiendes Unrecht, wenn man ihn hier theilnahmloser Gleichgültigkeit beschuldigen wollte. Im Gegentheil versuchte er alles Erdenkliche, um den traurigen Zustand seiner Frau zu mildern, und als keines der sonst in solchen Fällen gewöhnlichen Hausmittel anschlagen wollte, lief er selbst den Apotheker aus dem Bette zu holen, der überall beim Mittelstande in England die Stelle eines Arztes vertritt.

Aber auch die stärksten Mittel, welche der Stiefsohn Äskulaps anwandte, versagten diesmal ihre Wirkung. Die nächtlichen Stunden vergingen, ohne daß die Leidende zu völligem Bewußtsein gelangte. Und als endlich der Tag darüber[37] anbrach, während der Apotheker den besorgten Ehemann fortwährend durch Versicherungen des völlig gefahrlosen Zustandes seiner Frau zu beruhigen suchte, da, es läßt sich nicht abläugnen, da überkam den guten Master Wood doch eine Art innerer Zufriedenheit darüber, jedes weiteren Kampfes mit seiner Sally durch diesen Zufall überhoben zu sein.

Die Sonne stand schon hoch am Himmel, als Mißtreß Wood aus todtenähnlichem Schlummer erwachte. Das Geläute der nahen Kirche rief die Gemeine zum Gottesdienst, und tanzende Sonnenstäubchen spielten in dem, durch eine Öffnung der Gardinen, auf ihr Bette schräg hinfallenden Sonnenstrahle; es war eilf Uhr.

Zu spät, zu spät! rief die arme Frau, und ein Strom von Thränen machte ihrem verzweifelnden Gefühle Luft, indem er sie wahrscheinlich zugleich vor einem neuen Anfalle von Krämpfen bewahrte.[38]

Das Ende von diesem Allen ist leicht abzusehen. Ungeachtet des tapfersten, bis zu der verhängnißvollen Mittwoche fortgesetzten Widerstandes, mußte Mißtreß Wood sich doch dem Willen ihres Herrn und Gebieters endlich ergeben. Freilich hatte auch er mit dem eignen Vaterherzen einigen Kampf zu bestehen; der hübsche muntre Richard war sein und des ganzen Hauses Liebling; doch mit Eigennutz verknüpfte Rücksichten bilden eine Kette, deren Glieder alle auf das engste ineinander greifen, und die in allen Ständen das gesellige Leben in allen seinen Nüancen durchzieht und umschlingt.

Eines entsteht aus dem Andern; dem Petersburger Banquier Groß lag alles daran, sich in der Gunst eines der mächtigsten Fürsten des Reichs dadurch immer fester zu stellen, daß er jeden Auftrag desselben auf das pünktlichste und schnellste ausführte.

Der englische Banquier, Sir John Murray,[39] war nicht weniger dabei interessirt, die Wünsche eines so bedeutenden Handelsfreundes, wie Herr Groß ihm war, zu erfüllen, und die zwischen ihnen beiden bestehende Connexion dadurch immer fester zu knüpfen. Daß er sein großes Übergewicht über den zwar ebenfalls reichen, aber doch, als Ladenhändler in der City, tief unter dem zum Ritter erhobenen Wechsler stehenden Strumpfhändler dabei in Anwendung brachte, kann man ihm schwerlich verargen; und daß Master Smith, abgesehen von andern noch solidern Gründen zur Gefälligkeit, durch die herablassende Freundlichkeit eines so vornehmen Mannes zu geschmeichelt sich fühlte, um nicht seinen demüthigen Gevatter und Freund, den kleinen geldarmen aber kinderreichen Strumpf-Fabrikanten durch die lockendsten Verheißungen zu seinem Willen zu bringen, liegt nun einmal in der menschlichen Natur.

Leid, sehr leid thut es uns, daß wir die[40] gute Sally, mit ihrem warmen Mutterherzen, noch gewissermaßen dem Ende dieser Kette anhängen müssen; aber abläugnen läßt es sich nicht, daß nur einer von allen Trostgründen, mit denen ihr Ehegemahl sie überschüttete, des gewünschten Eindrucks nicht ganz verfehlte.

Und wenn wir nun, vielleicht noch ehe Jahr und Tag verstreichen, mit Hülfe des von Sir John Murray und Smith & Compagnie uns verheißnen Credits, es dem stolzen Narren Bird und seinem aufgeblasenen Weibe gleich thun können? fragte er, ihr listig lächelnd ins Gesicht schauend; oder wenn, denn man kann nicht immer wissen wie alles kommt, wenn nun gar Mißtreß Wood, in ihrem eleganten neuen Landauer voll geputzter Kinder, an dem magern Einspänner der Mißtreß Bird vorüberrollend, mit einem kaum sichtbaren Kopfnicken sie begrüßt? Sally! Du kleine Hexe, was sagst Du dazu? He?[41]

Sally sagte kein Wort. Sie weinte immer hin, aber sie lächelte doch ein klein, klein wenig, ganz heimlich und verschämt, mitten in ihren Thränen.

Wolle doch Keiner den ehrlichen Wood zu hart verdammen, oder wohl gar des Kinderhandels ihn beschuldigen, ohne vorher die große Gewalt eines von Jugend auf gesehenen Beispiels zu bedenken. In England, dem Markte der Welt, wie Schiller es sehr treffend nennt, ist vieles auf eine, uns Bewohnern des festen Landes unbegreifliche, ja empörende Weise verkäuflich. Offiziersstellen bei der Armee haben, bis zu einem gewissen Grade, ihren Preiß, um den jeder sie erhandeln, und wenn er sie aufzugeben geneigt ist, auch wieder verkaufen darf. Wie viel Gold und Goldeswerth ein Sitz im Parlamente kostet, ist allbekannt. Der Glückliche, der, wenn er auch nur ganz oberflächlich Theologie studirt hätte, durch Familienverbindungen oder[42] Protection, einer bedeutenden Stelle im Dienste der englischen Kirche sich erfreut, darf frei und öffentlich um geringen Sold einen ärmeren Geistlichen sich erkaufen, der alle Pflichten und Arbeiten seines Standes für ihn übernimmt, während der sehr ehrwürdige Herr, ganz mühelos, eines Einkommens von mehreren Tausenden sich erfreut.

Um die für ihn unerschwinglichen Kosten einer Klage auf Ehescheidung zu ersparen, bindet der englische Tagelöhner, durch einen uralten Gebrauch dazu berechtiget, seinem untreuen Weibe einen Strick um den Hals, und verkauft es an seinen begünstigten Nebenbuhler um wenige Schillinge auf öffentlichem Markte.

Der feine honorable Gentleman aber trägt in ähnlichem Falle die Schande seines Namens, seines Hauses, seiner Kinder vor Gericht, breitet sie dort vor den Augen der Richter auf die widerwärtigste Weise weitläuftig aus, duldet es[43] gelassen, wenn freche Zeitungsschreiber die scandalöse Geschichte zu einem pikanten Artikel in ihren Blättern benutzen, und klagt nicht auf Ehescheidung, sondern auf Schadenersatz durch Geld für den erlittenen Verlust; der denn auch von den Richtern gehörig gewürdigt und taxirt wird, ehe man die gebührende Summe ihm zuerkennt, die er auch ohne Erröthen sich richtig auszahlen läßt.

Möge denn auch der vom täglichen Beispiele verleitete Wood für seine Speculation einige Entschuldigung hier finden, von der sich doch nicht voraussagen ließ, ob sie nicht für den dabei am meisten betheiligten Richard am vortheilhaftesten ausfallen möchte.


Unter Thränen, Klagen und häuslichem Jammer aller Art, kam die verhängnißvolle Mittwoche heran. Wenn die Mutter in der Zwischenzeit[44] von Trennung sprach, so weinte Richard mit ihr, und versicherte schluchzend, daß er lieber sterben wolle, als sie verlassen; wenn aber der Vater von der Kutsche und dem prächtigen Schiffe erzählte, auf welchem Richard fahren sollte, so gerieth der kaum achtjährige Knabe in eine ganz andre Stimmung, und schien den Tag der Abreise kaum erwarten zu können. Richard war eben ein Kind, wie alle an Leib und Seele gesunde Kinder sind, der Gegenwart lebend, und immer das Allererwünschteste von der Zukunft erwartend.

Als er das Vaterhaus verlassen sollte, hing er unter lautem Geschrei am Halse der trostlos jammernden Mutter; als man von ihr ihn gewaltsam entfernte, klammerte er sich an den Fuß eines nahe an der Hausthüre stehenden Tisches an. Aber der Anblick der vier stattlichen Pferde vor der ihn erwartenden Kutsche milderte, sobald er auf der Straße war, seinen Schmerz. Die ihm[45] neue Freude des Fahrens, nebst einer Schachtel voll Confect, mit welcher James Cox sich in London zu diesem Zwecke versehen, trockneten völlig seine Thränen. Er langte ganz wohlgemuth bei seinem Pathen an, ließ all' die guten Dinge, die ihn dort erwarteten, sich wohlgefallen, weinte ein wenig, als er beim Zubettegehen die Mutter vermißte, schlief aber, reisemüde, bald ein. Er jauchzte vor Freuden, als er auf das bunt bewimpelte Schiff gebracht wurde, legte die Seereise gesund und munter zurück, und als er landete, war über die vielen neuen fremden Gegenstände, die sich ihm entgegen drängten, die Heimath so gut als vergessen.


Fürst Andreas, in dessen glänzenden Palast der kleine Fremdling sich, wie durch einen Zauberschlag, aus der engen Häuslichkeit versetzt sah, in welcher er bis dahin vegetirt hatte, war ein[46] stattlicher, vornehm aussehender Mann, in den sogenannten besten Jahren, das heißt zwischen vierzig und funfzig. Die stolze Haltung, der ernste Blick, bezeichneten in ihm das mächtige Oberhaupt einer, in vielfachen Verzweigungen durch das ganze russische Reich verbreiteten, und sowohl am Hofe als im Volke in hohem Ansehen stehenden Familie. Es lag in seiner Persönlichkeit ein gewisses Etwas, das sich ganz dazu eignete, denen, die zum erstenmal in seine Nähe kamen, ehrerbietige, oder auch, je nachdem die Leute waren, furchtsam-ängstliche Scheu einzuflößen; doch das wahrhaft menschenfreundliche milde Betragen des Fürsten, wandelte diese gar bald in Vertrauen um, das aber nie in Vertraulichkeit ausarten durfte.

Den hohen Rang, die vielen, über Tausende ihn erhebenden Vorzüge, zu welchen sein Geschick ihn geboren werden ließ, wußte Niemand mit mehr Würde und Anstand zu tragen, als Er.[47] In seinem ganzen Wesen zeigte sich keine Spur jener, fast wie Ironie aussehenden, populär sein wollenden Höflichkeit gegen Geringere, die diese nur in ängstigende Verlegenheit setzt, weil sie, aus ihrer Sphäre gehoben, den Maßstab verlieren, nach welchem sie, ohne beklemmende Besorgniß, zu viel oder zu wenig zu thun, ihr eignes Betragen einrichten könnten. Jede Ehrenbezeugung, die seinem hohen Stande gebührte, ließ er gelassen und ohne einen besondern Werth darauf zu legen, sich gefallen. Dadurch erleichterte er Jedem, auch dem Geringsten, den Umgang mit sich, ohne jemals sich selbst etwas zu vergeben.

In seiner Jugend hatte Fürst Andreas mehrere Jahre im Auslande zugebracht, hatte England, Frankreich, Italien und einen großen Theil von Deutschland mit Nutzen bereiset, und mit dem seinem Volke eignen Talente die verschiedenen Sprachen dieser Nationen sich angeeignet,[48] und war dann mit bereichertem Geiste und erweiterten Weltansichten in seine Heimath zurückgekehrt.

Glühende Vaterlandsliebe war der Grundton seines Wesens, und das Bestreben, die Kenntnisse, die er im Auslande sich erworben, zur höheren Kultur seines Volkes zu verwenden, um es mit der Zeit den gebildetesten Völkern Europas gleichzustellen, ward zum Hauptzweck seines Lebens. Dieser innigste Wunsch steigerte mit zunehmenden Jahren sich bis zur Leidenschaft, und verleitete ihn bisweilen zu manchem bedeutenden Mißgriffe; denn er verlor oft, über seine allzugroße Vorliebe für alles Ausländische, die von der Existenz seiner Landsleute unzertrennlichen, durchaus charakteristischen Eigenheiten derselben aus den Augen, und verletzte beim besten Willen, wo er ganz das Gegentheil beabsichtigte.

Seine, an Alter ihm fast gleiche Gemahlin, Eudoxia, war das mildeste Gemüth von der Welt,[49] das Mann und Kinder wie sich selbst liebte, und gleich einer segenspendenden Gottheit, und auch so verehrt, über allen den viel tausend Seelen schwebte, deren große Zahl, nach russischem Gebrauche, den überschwänglichen Reichthum des fürstlichen Hauses bezeichnete. Sie half jeder Noth ab, deren Kenntniß bis zu ihr gelangte; einem menschlichen Wesen wehe zu thun, oder auch nur es leiden zu sehen, wenn man helfen konnte, dünkte ihr unmöglich. Sie hörte es sehr gern, wenn ihre Leibeignen, nach dem naiven Gebrauche des russischen Volkes, sie Mütterchen nannten; was übrigens in jenem Lande ein Ehrenname im Munde desselben ist, dem ein geneigtes Ohr zu leihen, selbst die Kaiserin aller Reußen nicht verschmäht.

Die Fürstin Eudoxia hatte übrigens alle Ansichten ihres Gemahls sich dermaßen angeeignet, daß man wohl von ihr sagen konnte, sie sah nur mit seinen Augen, und dachte nur seine[50] Gedanken. Daß auch er menschlich irren könne, kam ihr eben so wenig in den Sinn, als daß jemals ein ihr nicht gleich Geborner die zwischen ihrer Hoheit und seiner Niedrigkeit bestehenden Schranken übersteigen wollen könne. Aufgewachsen in allen verjährten Vorurtheilen ihres hohen Standes, kannte sie nur Adlige und Leibeigne, und war, mit ächt orientalischer Ruhe, von dem in der Natur gegründeten Unterschiede dieser beiden Menschenracen fest überzeugt, ohne weiter darüber nachzudenken. Doch gerade deshalb trieb die ihr angeborne Güte des Gemüthes sie zum innigsten Mitleide mit den Unglücklichen, denen von der Natur alle innern und äußern Vorzüge schon bei ihrem Eintritte in das Leben versagt worden waren, welche die ihr Ebengebornen gleich einer Glorie umstrahlten.

Um für das ihnen angeborne Elend sie gleichsam zu entschädigen, und es ihnen dadurch[51] minder fühlbar zu machen, entsagte Eudoxia im gewöhnlichen Leben, aus ächter Barmherzigkeit, den ihrer Geburt gebührenden Ehrenbezeugungen. Sie forderte nichts, was Ihrem Gefühl nach jene Armen noch tiefer beugen konnte; aber wehe dem unter ihnen, der tactlos genug gewesen wäre, diese Äusserlichkeiten zu vergessen, ohne von der Fürstin ausdrücklich und besonders dazu aufgefordert und berechtigt worden zu sein. Es giebt keine Worte, um ihr Erstaunen über eine solche, die Möglichkeit überschreitende, an Sakrilegium gränzende Unthat, gehörig zu schildern. Glücklicherweise hatte sie bis jetzt nur selten eine solche Erfahrung gemacht, denn sie ward allgemein, von Hohen und Niedern, geliebt und verehrt.

Auch war Fürstin Eudoxia wirklich eine gute Dame, mit der es sich ganz leicht leben ließ; denn auch sie liebte die Menschen, auch die niedriggebornen, aber freilich ungefähr so, wie[52] wir Andern unsre Lieblingspferde oder Hunde lieben. Wer unter uns hat nicht schon mit mitleidigem Erbarmen auf seinen Hund niedergeblickt, wenn das treue Thier mit klugen Augen uns ansieht, und durch leises Winseln andeutet, daß es gern antworten möchte, wenn die arme stumme Kreatur nur reden könnte.

Isidor, der älteste Sohn des fürstlichen Paares, war bei Richards Ankunft schon funfzehn Jahre alt, und einem deutschen Hofmeister übergeben, unter dessen Leitung er für die diplomatische Carrière sich vorbereitete, für welche er bestimmt war. Alexis, sein um zwei Jahre jüngerer Bruder, wurde für den Militairdienst erzogen, und Eugen, der jüngste der drei Söhne, hatte so eben das siebente Jahr erst erreicht.

Von den beiden Töchtern des Hauses war Natalie, die älteste, ein sehr niedliches sechsjähriges Prinzeßchen, das unter den Händen der, übrigens sehr vorzüglichen Gouvernante, Mademoiselle[53] Duprés, schon eine ziemlich französische Tournüre erhalten hatte, und für ein Muster von Artigkeit galt. Die kleine Helena aber, ein ächtes Kind der Natur, hübsch wie ein Engelsköpfchen, frisch und blühend wie ein Mairöschen, stand noch unter der Aufsicht ihrer Amme, und war die Lust und Freude der Eltern, wie des ganzen Hauses.

Mitten in diesen Familienkreis, zu welchem noch eine bedeutende Anzahl dem fürstlichen Hause anverwandter Kinder gehörte, der auch noch täglich durch demüthigere Gespielen, Söhne und Töchter der vornehmern Dienerschaft erweitert wurde, sah der kleine Insulaner, wie ein fremdes Wunderthier, sehr unvorbereitet sich hingestellt. Befangen, blöde, daneben etwas verblüfft, sah er nach der Reihe alle die fremden Leute sich an, und das Weinen mochte ihm näher sein als das Lachen.

Doch als Fürst Andreas, in recht verständlichem,[54] wenn gleich etwas fremdartig ausgesprochnem Englisch ihn freundlich anredete, Herr Müller, Isidors Hofmeister, ebenfalls in seiner Muttersprache, ihn aufforderte guten Muthes zu sein, weil es in diesem Hause ihm nicht anders als wohl ergehen könne, und endlich sogar der sonst ziemlich zurückhaltende Isidor die paar englischen Worte, die er von Herrn Müller erlernt hatte, zusammensuchte, um den kleinen Fremdling willkommen zu heißen, da wurde diesem schon leichter um das Herz.

Das Beste dazu aber that Eugen, der kein Wort englisch wußte. Er nahm den neuen Gespielen, der seiner Meinung nach eigens für ihn verschrieben worden war, beim Kopf, fuhr mit linder loser Hand ihm liebkosend durch die lichtblonden Locken, sah ihm lächelnd in die großen blauen Augen, streichelte ihm die feuerroth glühenden Wangen, faßte ihn dann mit beiden Armen an, und sprang mit ihm ein paar Mal[55] durch das Zimmer, daß der Fußboden dröhnte, und die kleine Helena, die sich in das Spiel mischen wollte, von ihrem Bruder beinah umgerannt wurde. Doch Richard nahm noch im rechten Augenblicke sie gewandt auf, und brachte sie zu ihrer Amme; denn er war an Aufmerksamkeiten dieser Art noch von zu Hause her bei seinen kleinen Geschwistern gewöhnt.

Die Nacht mußte Richard, auf Eugens ausdrückliches Verlangen, in der nächsten Nähe seines kleinen Beschützers schlafen; am folgenden Tage wurde der Insulaner mit seinen Umgebungen schon bekannter, und fing an, sich ein Herz zu fassen; nach vier Wochen waren sämmtliche Kinder im Stande, halb in russischer halb in englischer, und wo diese nicht ausreichten, durch Zeichen und Geberden sich unter einander recht leidlich zu verständigen. Es ging freilich ein wenig wie beim babylonischen Thurmbau dabei her, aber die Lust war deshalb nur um[56] so größer, und des Lachens und Jauchzens kein Ende.


Richard wurde wirklich im Hause des Fürsten Andreas den Kindern desselben in jeder Hinsicht völlig gleich gestellt; gekleidet und bedient wie sie, theilte er Unterricht und Vergnügen mit ihnen. Ein alter freundlicher Diener war ihm, mehr zur Aufsicht als zur Bedienung beigegeben, der bei seinen kindischen Einfällen und Spielen ihm redlich half; Eugen, zu welchem Richard der Gleichheit ihres Alters wegen sich vorzugsweise hielt, bekam ein kleines Pferd zum Reiten, und am nämlichen Tage wurde auch Richard mit einem nicht minder hübschen beschenkt; lauter Dinge, an die nur zu denken, ihm daheim auch nicht im Traume eingefallen wäre.

Alle im Hause gaben sich gern und freundlich mit ihm ab, jeder Tag brachte ihm etwas[57] Neues, das ihn erfreute, und so war es denn nicht zu verwundern, wenn die Sehnsucht nach Eltern, Geschwistern, und der fernen Heimath, wo es ihm lange nicht so gut ergangen war als hier, gar bald aus seinem Gemüthe völlig schwand. Richard war kaum acht Jahre alt, ein lebhaftes glückliches Kind; möge dieses zu seiner Entschuldigung dienen, wenn er nach einem kurzen Jahre sich der vorigen Zeit kaum noch erinnerte und ihm bedünkte, wirklich zu sein, was er doch eigentlich nur zu sein schien. An was gewöhnte der Mensch sich leichter als an Wohlleben und Pracht! und was entschwindet schneller und spurloser aus der Seele, als Erinnerung an frühere Armuth und Niedrigkeit.

Aber auch von Seiten der Eltern geschah leider wenig, um ihr Andenken im Gemüthe ihres Kindes lebendig und warm zu erhalten. Gleich nach seiner Ankunft in Petersburg hatte Richard an Vater und Mutter geschrieben, baldige[58] Antwort war darauf erfolgt, doch auf einen zweiten Brief blieb diese mehrere Monate aus, und endlich erhielt er gar keine mehr. Richard gab nun ebenfalls das Schreiben auf, und die Folge davon war, daß er weder an Eltern noch Vaterland weiter dachte, und sich da, wo es ihm so wohl erging, so ganz daheim fühlte, daß ihm zu Muthe war, als sei es immer so gewesen.

Master Wood war aber auch wirklich in Nottingham vom Morgen bis zum Abend dermaßen mit Arbeit belastet, daß er kaum zu sich selbst kommen konnte. Seine Londoner Freunde hatten ihm ihr Versprechen gehalten; mit ihrer Hülfe war es ihm gelungen, sein Fabrikgeschäft um mehr als das doppelte zu erweitern, und den mit ihm rivalisirenden Nachbar Bird völlig zu überflügeln; aber nun gab es auch doppelt zu thun. Es gab so viele Geschäftsbriefe zu schreiben, daß für andre, die[59] ihm ohnehin nie sonderlich aus der Feder fließen wollten, weder Zeit noch Lust übrig blieb.

Zeit, Gewöhnung, häusliche Leiden und Freuden, hatten auch die Thränen der Mutter früher getrocknet, als sie selbst es gedacht, und über die Trennung von ihrem Lieblinge sie getröstet. Freilich hätte sie anfangs ihm gern geschrieben, wäre sie nur in Behandlung der Feder etwas geübter gewesen; als nun aber, mit dem steigenden Wohlstande ihres Hauses, auch ihr Haushalt sich bedeutend vergrößerte, und späterhin sogar ein neuer kleiner Ankömmling die Lücke wieder ausfüllte, welche Richards Entfernung in die Reihe ihrer Kinder gebracht, so daß sie deren wieder vierzehn um sich sah, da begnügte die gute Frau sich ganz gelassen mit den Nachrichten von ihrem abwesenden Sohne, die sie zuweilen durch Vermittelung der Londoner Geschäftsfreunde ihres Mannes aus der dritten Hand erhielt. Sie waren bis jetzt noch[60] immer erfreulich ausgefallen; Master Wood versäumte nie, den Richard betreffenden Punkt aus Sir Johns oder Master Smith's Briefen ihr vorzulesen. Ist es nicht vernünftig, für etwas das man ohne Mühe und Kosten erlangen kann, sich unnütze Schreibereien, und obendrein das theure Postgeld zu ersparen? pflegte er gewöhnlich nach einer solchen Vorlesung zu seiner Frau zu sprechen; und Sally nickte ihm beifällig zu, und wiegte ihr Neugebornes.


Früher noch als man es gehofft stieg Moskau, gleich dem Vogel Phönix verjüngt und verschönert, aus der Asche jenes weltgeschichtlichen Brandes wieder auf, dessen unabsehbare Folgen kommenden Beschreibern unsrer merkwürdigen Zeit noch nach Jahrhunderten Stoff zu Hypothesen liefern werden. Die reichen und vornehmen Bewohner der uralten Stadt, welche,[61] um den Schrecken jener furchtbaren Katastrophe zu entgehen, sich bei Zeiten aus derselben entfernt hatten, kehrten nach und nach in ihre wieder hergestellten Paläste zurück, und auch Fürst Andreas beeilte sich, Petersburg, wohin er damals mit den Seinen sich geflüchtet hatte, wieder zu verlassen, um bei der Vollendung seines prachtvollen Baues in Moskau selbst gegenwärtig zu sein, und die innre Einrichtung und Ausschmückung desselben, nach seinem im Auslande geläutertem Geschmacke, unter seinen eignen Augen besorgen zu lassen.

Sobald alles zu ihrem Empfange eingerichtet war, folgte die Fürstin ihrem Gemahl. Nur ihre beiden Töchter und der jetzt neunjährige Eugen nebst seinem von ihm unzertrennlichen Gefährten Richard begleiteten sie. Der älteste ihrer Söhne, Prinz Isidor, blieb mit seinem Hofmeister zurück, um seine Vorbereitung zur Universität Dorpat, die er im nächsten Jahre[62] beziehen sollte, zu vollenden. Alexis, der zweite Sohn, wurde einer der kaiserlichen Anstalten für die Bildung zur Marine übergeben; denn diesen beschwerlichen Dienst hatte er aus freiem Antriebe sich erwählt.

Das ewig heitre, mitunter wilde Treiben der beiden Knaben, die sie einen wie den andern ihre Söhne nannte, belustigte die Fürstin ungemein. Die von einem so bedeutenden Umzuge unzertrennliche Unruhe, das Hin- und Herlaufen der Arbeitsleute und Bedienten, das Packen und Hämmern, das Rufen und Lärmen vor der Abreise, und endlich die Reise selbst, beschäftigte die Kinder so angenehm und anhaltend, daß sie gar nicht dazu gelangen konnten, sich über den Abschied von ihren Petersburger Spielkameraden gehörig zu betrüben. Während der Reise, vorzüglich aber in Moskau selbst, gefiel ihnen alles ganz unendlich, denn alles war ihnen neu; der mildere Himmel, die schönere[63] Natur rings um Moskau, verfehlten späterhin nicht, diesen Eindruck bleibend zu machen.

Prinzeßchen Natalie war schon zu wohlgezogen, um mit den beiden wilden Knaben sich viel abzugeben, die sie zwar recht lieb hatte, deren lärmende Spiele ihr aber oft Unlust und Mißvergnügen erregten. Die kleine Helena hingegen, die indessen jetzt fest genug auf ihren Füßchen stand, um sich nicht so leicht umrennen zu lassen, war und blieb ihre treue Spielgefährtin, lief, kletterte, sprang mit ihren beiden Brüdern, wie sie sie nannte, um die Wette. Zwar war auch sie einer Gouvernante, und zwar einer Deutschen jetzt übergeben, doch ihre Amme Elisabeth war, von der Fürstin Eudoxia dazu berechtigt, dennoch in Rang und Würden bei ihr geblieben. Sobald es nicht dem eigentlichen Unterrichte galt, den sie freilich ihr nicht ertheilen konnte, hatte Elisabeth die specielle Aufsicht über das Kind ihres Herzens sich nicht nehmen lassen.[64]

Nach alter, ächt orientalischer Sitte, spielen überhaupt in den Familien der russischen Großen die Ammen eine sehr bedeutende Rolle. Frauen aus den höchsten Ständen hängen lebenslänglich mit unverbrüchlicher Liebe an der treuen Pflegerin ihrer hülflosen Kindheit; sie bleibt ihre Rathgeberin, die Vertraute ihrer Leiden und Freuden, und behält bei jeder großen oder kleinen Angelegenheit ihres Lebens eine oft entscheidende, nie unbeachtete Stimme.


Alle vier Kinder wuchsen im geselligsten Familienleben mit einander heran. Mit der Zeit wurden der Spielstunden weniger, der Stunden des Unterrichts hingegen mehr, und manche der letzteren wurden ihnen allen gemeinschaftlich ertheilt. In freien Stunden suchte die kleine Helena, soviel dieses anging, den beiden Knaben fortwährend zur Seite zu bleiben, und das immer[65] frohe, freundliche Kind wurde auch von ihnen als ein lieber willkommner Spielkamerad betrachtet, dem sie, weil er jünger und schwächer war, manches nachsahen und alles zu Gefallen thaten. Richard, als der älteste und stärkste, bestrebte sich besonders, Helenen überall zu vertreten und sie ritterlich in seinen Schutz zu nehmen, wenn Gefahr oder Unbill ihr drohten.

Lebte der gute August Lafontaine noch, und wären seine, fast in der Wiege aufflammenden, jetzt schon halb vergeßnen Kinderlieben noch Mode, welchen Stoff zu den rührendsten und naivesten Liebesscenen hätten die kleine russische Prinzessin und der englische Strumpfwebersbube ihm geboten! Was könnte romantischer erdacht werden, um ihn zum Ausspinnen einer höchst zart empfundenen Novelle zu verleiten. Doch Richard und Helene waren, die Wahrheit zu gestehen, zu gesunde, zu unverschrobene, zu wahrhaft kindliche, mitunter auch, selbst als sie schon ziemlich[66] herangewachsen waren, zu kindische Kinder, als daß so etwas bei ihnen nur denkbar gewesen wäre; sie nannten einander Bruder und Schwester, und liebten sich als solche recht ehrlich und offenbar.

So vergingen mehrere Jahre; Richard blieb, was er vom ersten Tage seines Eintritts in dieses Haus gewesen, der Liebling Aller, vom fürstlichen Ehepaar an bis zum Ofenheizer herab; vor allem aber Eugens innigster unzertrennlichster Freund. Wer beide, ohne sie genauer zu kennen, zusammen sah, mußte für Brüder sie halten; sie selbst hatten gänzlich vergessen, daß nur Wahlverwandtschaft, nicht Bande des Blutes sie verbänden. Alles hatten sie mit einander gemein, die Liebe der Eltern, die Vortheile welche Reichthum, Stand und Geburt, den Söhnen des Glückes gewähren; jeden Unterricht, nicht nur im Gebiete der Kunst und Wissenschaft, auch in ritterlichen Übungen, und[67] in Allem was Jünglinge aus den höhern Ständen bedürfen können, um sowohl in den bedeutendsten Stellungen des öffentlichen Lebens, als auf dem glatten Parkette der Salons, mit Anstand und Sicherheit aufzutreten.

Daß der arme Richard durch alles dieses viel zu hoch über die bescheidne Sphäre erhoben werde, welche sein Geschick beim Eintritt in das Leben ihm angewiesen hatte, daran dachte Keiner, am wenigsten er selbst; sogar das Fürstenpaar schien die zwischen dem in Dunkelheit gebornen Fremdling, und den Sprößlingen seines erlauchten Hauses bestehende Scheidelinie, ganz aus den Augen verloren zu haben.

Die Fürstin wünschte ihre Kinder, besonders ihre Töchter, das ächte Frühlingsleben der Jugend so lange als möglich genießen zu lassen; sie führte sie daher später, als sonst wohl geschieht, in die Gesellschaft der großen Welt ein; versagte ihnen aber, als sie heranwuchsen, keine[68] ihrem Alter angemessne Freude. Sogenannte Kinderbälle, musikalische Übungen, Spazierfahrten im Sommer, Schlittenpartieen an leidlichen Wintertagen, gewährten ihnen Abwechselung und Vergnügen im Überfluß; sogar ein kleines Theater wurde ihnen im Palast errichtet, auf welchem, anfangs an Geburtstagen und bei ähnlichen festlichen Gelegenheiten, kleine dramatische Vorstellungen von ihnen gegeben wurden, die sich zuletzt zu einem förmlichen Liebhabertheater gestalteten.

Alles dieses bot Gelegenheit zu mannigfaltigen Verbindungen mit andern jungen Leuten ihres Standes und Alters. Ganz unbefangen nahm Richard an allen Festen und Vergnügungen thätigen Antheil, und spielte dabei, durch seine persönlichen Vorzüge dazu berechtigt, keinesweges eine untergeordnete, sondern vielmehr eine sehr ausgezeichnete Rolle. Eltern und Heimath wurden über das alles völlig vergessen;[69] darf man ihn deshalb verdammen? Doch mitten in diesem Freudentaumel wurde er ganz unerwartet an beide erinnert, und zwar, sonderbarer Weise, von der Fürstin Eudoxia selbst.


Die Fürstin liebte es, in müßigen Stunden sich von ihrem Pflegesohne die neuesten Erzeugnisse der französischen Literatur in ihrem Kabinette vorlesen zu lassen, welche aber damals, gegen den romantisch wilden Schwung, den sie in unsern Tagen gewonnen haben, noch ziemlich nüchtern sich ausnahmen. Das neueste Werk des damals noch sehr bewunderten Herrn von Arlincourt war, zu Richards großer Freude, eines Tages beendet, und er, innerlich noch gähnend, eben im Begriff das Buch an seinen Platz zu bringen, als die heute besonders gütig gestimmte Fürstin plötzlich auf den, ihr nie zuvor gekommenen Einfall gerieth, nach seiner Familie sich[70] zu erkundigen. Sie fragte ihn, wie alt seine Mutter sei, wollte die Anzahl seiner Geschwister, Namen und Alter eines jeden derselben von ihm erfahren, lauter Fragen, die Richard nicht zu beantworten im Stande war, und die ihn beängstigten und verwirrten, weil er, nach langem Besinnen, doch nichts fand, was er darauf erwiedern könne. Durch eine schnell ersonnene Antwort rasch aus der Verlegenheit sich zu ziehen, war seinem redlichen Sinne nicht möglich, und doch war ihm nicht unbekannt, mit welcher Innigkeit alle Russen, vom Höchsten bis zum Geringsten, an den Ihrigen hangen, und mit welcher religiösen Pietät sie besonders ihre Eltern und das Andenken derselben ehrfurchtsvoll hochhalten. In diesem Augenblicke erschien das gänzliche Vergessen der Seinigen ihm beinahe wie ein Verbrechen.

Ich wurde so jung von den Meinigen getrennt – ich erhalte so selten Nachricht von ihnen,[71] stotterte er endlich, erglühend im ganzen Gesicht; Thränen traten ihm in die Augen, als er bemerkte, daß der Fürstin seine Verlegenheit nicht entging. Doch sie mochte dieselbe anders sich deuten, als er in seiner tiefen Beschämung es fürchtete; vermuthlich weil der wahre Grund derselben ihr undenkbar war; denn sie sah mitleidig lächelnd ihn an.

Guter Sohn, sprach sie, freilich liegen mehr als zehn lange Jahre, und Meere und Länder zwischen Dir und den Deinen. Aber was Du dort verlorest, hast Du hier wiedergefunden, und sollst es nie wieder verlieren.

Tief bewegt küßte Richard die ihm gebotene schöne Hand. Ich bin Willens Dir und den Deinen eine kleine Freude zu bereiten, fuhr die gütige Frau fort, Du sollst Deine Mutter und auch Deine Schwestern beschenken. Ein armenischer Kaufmann war heute Morgen bei mir, unter dessen Waarenvorrathe ich allerlei Kleinigkeiten[72] auswählte, die einer englischen Lady vielleicht gefallen können, weil sie in ihrem Lande etwas Seltenes sind.

Schwer beladen mit wirklich fürstlichen Geschenken mannigfaltiger Art, eilte Richard von der Fürstin in sein Zimmer. Seine Freude war gränzenlos; wer ihm in den Weg kam, wurde um Rath und Hülfe angegangen, wie das alles auf das sicherste und sorgfältigste einzupacken wäre. Er gönnte weder sich noch andern Ruhe, bis er seine Kostbarkeiten zur weitern Beförderung auf dem Wege nach Petersburg wußte, und sah hernach täglich nach der Windfahne, bis er Nachricht von der glücklichen Ankunft seiner Sendung aus England erhielt.


Seit Nottingham steht, hat wohl kein außerpolitisches Ereigniß in dem Städtchen mehr[73] Lärm gemacht, größeres Aufsehen erregt, als die Ankunft von Richards Sendung. Alle Bekannten, ja die halbe Stadt strömte herbei, Mißtreß Wood zu besuchen, und die nordischen Schätze zu bewundern, deren Gleichen dort nie gesehen worden waren. Die Dose von ächtem sibirischen Malachit, deren Werth Master Wood fast unermeßlich taxirte, die in Gold gefaßten türkischen Pastillen und mit wunderlichen Schriftzügen bedeckten Amulette, die blinkenden Fläschchen mit Rosenöl, die reichen Stoffe, die trefflich gearbeiteten Erzeugnisse russischer Fabriken in Stahl, Krystall und vor allem in Saffian, erregten die höchste, mit etwas Neid untermischte Bewunderung; der zu mannigfaltigem Schmucke gefaßten farbigen Edelsteine nicht einmal zu gedenken; und wenn Mißtreß Wood in ihren ächt türkischen Kaschmir-Shawl gewickelt durch die Straßen stolzierte, füllten sich alle Fenster mit ihr nachschauenden Gesichtern. Sogar die[74] Straßenbuben ließen Ball- und Reifenspiel im Stich, und zogen bewundernd ihr nach.


Richard hatte abermals von England und seinen Eltern seit längerer Zeit keine Nachricht erhalten; der dorthin abgesandten Geschenke wurde nicht weiter gedacht, und er fing eben wieder an, sich in Hinsicht auf seine Familie seiner gewohnten Gleichgültigkeit hinzugeben, als ein von dorther an ihn abgesandtes Kästchen, nebst dem Auftrage, im Namen seines Vaters, als schwachen Beweis von dessen Dankbarkeit, es der Fürstin zu überreichen, ihn sehr angenehm überraschte. Freudig eilte er es ihr selbst hinzutragen; es fand freundliche Aufnahme, und wurde sogleich geöffnet, um den Inhalt desselben zu untersuchen.

Strümpfe kamen zum Vorschein, nichts als baumwollne Strümpfe, viele, viele Dutzende,[75] für die Fürstin selbst, und für die Prinzessinnen; aber was für Strümpfe! Strümpfe wie die Welt sie nie gesehen. Wie aus Sommerfäden, von Elfenhänden gewoben, durchsichtigklar, wie der feinste Spitzengrund, an Muster und Gewebe den kostbarsten Brabanter Kanten zu vergleichen.

Eigne Maschinerien hatten zu ihrer Verfertigung erfunden werden müssen; mit unendlichen Weitläufigkeiten und großem Aufwande hatte Master Wood die geschicktesten Arbeiter in diesem Fache aus ganz England herbeigezogen, um mit ihrer Hülfe ein Meisterwerk hervorzubringen, dessen Ausführung in den Annalen des englischen Manufakturwesens seinen Namen verewigen wird.

Das Erstaunen, welches diese Sendung im fürstlichen Palaste zu Moskau erregte, war dem, in welches die gute Stadt Nottingham über die russischen Geschenke gerathen war, zu vergleichen.[76] Die Prinzessinnen, ihre Gouvernanten, die Amme Elisabeth, sogar die Kammerfrauen, wurden auf der Fürstin Geheiß herbei gerufen, um bewundern zu helfen. Des Lobens, des Außersichkommens über die unbegreifliche Feinheit, über die geschmackvolle Arbeit der Strümpfe, war kein Ende, bis der Fürst Andreas selbst zufälliger Weise in das Zimmer trat.

Auch er würdigte den Gegenstand allgemeiner Bewunderung seiner Aufmerksamkeit, und ließ über die hohe Vollendung, zu welcher Fleiß und Industrie die englischen Fabrikate hinaufgetrieben haben, sich weitläuftig aus. Dieses brachte ihn auf seine Lieblings-Idee, auf die Möglichkeit, auch in Rußland durch gehörige Leitung und Unterstützung der arbeitenden Volksklasse ähnliches zu erreichen.

Warum wäre es nicht möglich, einen geschickten Arbeiter aus dieser Fabrik nach Rußland[77] zu ziehen? rief er im Verfolg seiner Gedanken; Richard, sind die Namen des Orts, wo diese Strümpfe gemacht werden, und des Fabrikanten Dir bekannt?

Richard war eben beschäftigt, Helenas Stickrahmen aufzuspannen: Mein Vater hat sie gemacht: war seine nachlässig hingeworfene Antwort.

Die Fürstin erschrak und wurde bald bleich, bald roth.

Dein Vater? rief sie: Richard das hoffe ich nicht. Ist Dein Vater? – macht Dein Vater? – ist Dein Vater denn ein Strumpfwirker? stotterte sie sehr verlegen.

Richard war noch immer neben Helenen mit dem Stickrahmen eifrig beschäftigt.

Ich meine ja: erwiederte er gedankenlos: ich kann mich dessen zwar kaum noch erinnern, aber gewiß muß es so sein. Denn es wurden in unserm Hause immer viel Strümpfe gemacht,[78] soviel weiß ich ganz deutlich: setzte er sich bestimmend hinzu.

Eudoxia verstummte, sah aber mit einem ganz unbeschreiblichen Blicke ihn an, den Richard indessen nicht bemerkte, denn er mußte jetzt Helenen beim Durchzeichnen ihres Musters helfen. Bald darauf entfernte er sich mit den Übrigen. Helene nahm mit ihrer Arbeit hinter den tief herabhängenden Draperien eines Fensters ihren gewohnten Platz ein. Wahrscheinlich ohne ihrer gewahr zu werden, blieben der Fürst und seine Gemahlin übrigens mit einander allein.

Nun? fragte Fürst Andreas, nachdem er einige Augenblicke mit untergeschlagenen Armen vor seiner schmollenden, ihm keinen Blick gönnenden Gemahlin gestanden: nun? was zieht diese sonst immer so glatte Stirne in so krause Falten? was hat es denn gegeben, das Euer Gnaden verdrießt?

Ach Andreas Andreas! seufzte sie: das hättest[79] Du an mir nicht thun sollen! hättest Du Richards niedre Herkunft mir nicht verhehlt, wie hätte ich jemals! – nein dergleichen thut nie gut; Du weißt ich behaupte, es geht wider die Natur.

Seltsames Geschlecht! den will ich sehen der Dir alles recht machen kann! rief herzlich lachend der Fürst. Gute Eudoxia, hast Du denn jemals um Richards Herkommen mich befragt? hast Du wirklich gemeint, ein englischer Herzog oder Lord würde uns seinen Sohn für unsre Kinder herschicken?

So albern bin ich nicht, daß ich einen jungen Lord zum Gesellschafter für unsre Kinder fordern sollte: erwiederte sie, ziemlich gereizt; aber ein Handwerksbursch? – der Abstand ist zu ungeheuer! ich wollte ich hätte den unglücklichen Richard nie gesehen! ich möchte über ihn weinen.

Helena, in ihrer Fensterecke mit ihrer Stickerei[80] beschäftigt, hatte bis dahin auf das Gespräch ihrer Eltern nicht sonderlich geachtet. Jetzt ward sie aufmerksam; die Nadel entfiel ihrer Hand; sie hob sie nicht wieder auf, sondern näherte sich vorsichtig dem sie verdeckenden Vorhange, der von dem hohen Fensterbogen herabschwebte.

Aber gute theure Eudoxia, wie kannst Du mit so barmherzigen Gesinnungen Dich quälen wollen, die hier gar nicht am rechten Orte angebracht sind! erwiederte der Fürst, und faßte liebkosend seiner Gemahlin nur schwach widerstrebende Hand. Wie würde Richard über Dein unverdientes Mitleid sich verwundern, dessen Veranlassung ihm ganz unerklärlich scheinen müßte! Er ist ja nichts weniger als unglücklich oder bedauernswerth, fuhr der Fürst fort; zwar ist er kein Prinz, aber eben so wenig ein Handwerksbursche zu nennen. Richards Vater ist ein Mitglied jener höchst achtungswerthen[81] Klasse von Bürgern, welcher Großbritannien seinen Reichthum und dadurch seine Größe verdankt. So viel ich durch Herrn Groß erfahren, ist er Besitzer einer Fabrik in einem englischen Mittelstädtchen; hat viele Kinder, bei nicht sehr bedeutendem Vermögen; und entschloß sich deshalb, einen seiner jüngern Söhne im Auslande zu versorgen. Was liegt denn darin so Entsetzliches? Gewiß wird er noch obendrein in kurzer Zeit sehr reich werden, wenn er es nicht schon geworden ist. Denn diese Probe seiner Fabrikate ist ein Beweis, daß er durch Erfindungsgeist und Industrie sich vor vielen andern auszeichnet, und sich auf dem rechten Wege befindet, sein Glück zu machen.

Was liegt daran? klagte Eudoxia; und wenn er Millionen erwürbe, das ändert nichts. Die Geburt entscheidet; ein geborner Leibeigner bleibt es ewig.

Aber es giebt keine Leibeigenen in jenem Lande,[82] wo selbst der an der Küste von Guinea für baares Geld erkaufte Neger ein Freier wird, sobald er den Fuß auf englischen Boden setzt: erwiederte etwas ungeduldig der Fürst.

Das alles habe auch ich in Büchern gelesen, antwortete Eudoxia im nämlichen Tone; aber wenn dem auch so ist – wenn das gemeine Volk, Arbeitsleute, Diener, Handwerker, und jene Manufakturisten, die sich nur dadurch von diesen letzteren unterscheiden, daß sie das Handwerk mehr ins Große treiben, wenn das alles auch dort nicht leibeigen genannt wird, es gehört doch zu einer Klasse – genug, es ist ebenso von uns verschieden, als das armselige Haidekraut von der Rose, die doch auch alle beide zum Pflanzenreiche gezählt werden.

Deine Klagen werden wirklich poetisch: rief der Fürst gutmüthig spottend.

Wie bedauernswürdig ist der arme Richard! fuhr Eudoxia fort; warum mußte er von der[83] Natur für ein weit höheres Loos ausgestattet werden, als das ist, wozu sie ihn bestimmte! Ich meinte er sei wenigstens der Sohn eines Kaufmanns, wie Herr Groß in Petersburg und Andre, die zuweilen Zutritt zu uns haben, weil sie gewissermaßen den Übergang zu den niedrigen Volksklassen bilden, zu denen sie nur halb gezählt werden können. Ich habe gehört, daß der jüngere Bruder eines Lords sich in England oft dem Kaufmannsstande widmen muß, weil nur der älteste Erbe der Familiengüter und des mit diesen verbundenen Adels werden kann. Ich habe das oft gehört und gelesen, und konnte, nach Richards vortheilhaftem Äußern zu urtheilen, nur denken, daß er Abkömmling eines solchen edeln Stammes sei; und nun muß ich heute erfahren, daß er im niedrigsten Stande, aus unedlem Blute – –

Halt, halt, rief lachend der Fürst: machst Du doch aus lauter Liebe und reinem Mitleid den armen[84] Jungen vollends zum Paria. Dann setzte er zu ihr sich hin, und gab, ernster werdend, sich alle ersinnliche Mühe, ihre Ideen über diesen Punkt zu berichtigen.

Seine Reden und Gründe glitten an dem unbeugsamen Glauben der Fürstin ganz wirkungslos ab; desto größern Eindruck aber machten sie auf Helenen, die bis dahin mit gespannter Aufmerksamkeit dem Gespräche ihrer Eltern zugehört hatte. Sie fing schon an sich mit ihrer Mutter über Richards, ihr freilich ganz unverständliches Unglück, recht von Herzen zu betrüben, und die Thränen traten ihr darüber in die Augen; aber die Worte ihres Vaters, dem sie gewöhnt war unbedingt zu vertrauen, ermuthigten und trösteten sie wieder. Sie kehrte leichteren Herzens zu ihrem Stickrahmen zurück, als das Gespräch Familienangelegenheiten sich zuwandte, die sie wenig interessirten; doch als sie im Verlaufe desselben ihren eignen Namen nennen[85] hörte, mußte sie wider Willen abermals darauf achten.

Wahr ist es, hörte sie die Mutter sagen, Helenen kann man beinahe ganz erwachsen nennen; das ist so gekommen, ohne daß ich es recht gewahr worden bin. Die Jahre vergehen so unbemerkt und schnell, die Veränderungen, die sie mit sich bringen, treten so leise, so allmälig ein, daß man nur zufällig, zu eigner großer Überraschung sie entdeckt, als wären sie durch ein Wunder im nämlichen Augenblicke erst entstanden. Die liebe kleine Helena! wenn wir kommenden Winter die Verlobung ihrer Schwester mit dem Fürsten Konstantin feiern, werde ich es schwerlich vermeiden können, auch sie in die Welt zu führen, und doch hätte ich es gern, wenigstens noch um ein Jahr verschoben. Ich möchte die frohe Jugendzeit ihr noch lange erhalten; sie lebt jetzt ihre glücklichsten Tage; diese vergehen schnell und kehren nie wieder.[86]

Wohl wahr, erwiederte der Fürst, doch diese Tage, so schön sie auch sein mögen, müssen, wie jeder andre Tag im Leben, endlich andern Tagen weichen. Helena wird sich endlich doch bequemen müssen, auch scheinen zu wollen was sie ist, ein erwachsenes Mädchen. Mich dünkt es wäre endlich Zeit, daß sie die Spielkameraden ihrem Bruder überließe, und sich mit Gespielinnen begnügte. Mag diese Veränderung ihrer Lebensweise immer einige Monate früher eintreten, ehe sie nothwendig wird, damit sie sich daran gewöhnt, ehe sie den Fesseln sich beugen muß, welche Konvenienz, Geschlecht und Stand, ihr wie jedem jungen Mädchen ihres Alters anlegen. Ich muß Dir gestehen, Eudoxia, ich habe in der letzten Zeit, nicht ohne stille Besorgniß, sie so ganz unbefangen und zwanglos mit Eugens Freunden umgehen sehen; wie leicht könnte sich da etwas anspinnen,[87] das uns, wenn Helena älter wird, der bösen Tage genug machen würde.

Wo waren meine Sinne! auch daran habe ich nicht gedacht! rief die Fürstin sehr lebhaft. Du hast Recht, vollkommen Recht. Die große wöchentliche Tanzstunde, der musikalische Verein, müssen sobald als möglich abbestellt werden; da ist der, und der, und der, – sie nannte die Namen mehrerer jungen Leute, Söhne vornehmer und angesehener Familien, welche täglich ihr Haus und ihre Kinder besuchten, – es sind Eugens Jugendfreunde, – und mögen sie es immer bleiben, setzte sie hinzu, aber für unsre Tochter – – nun ich hoffe es ist noch nicht zu spät.

Das hoffe ich auch, sprach lächelnd der Fürst. Eudoxia, fuhr er nach einer kleinen Pause ernster werdend fort, Du zweifelst nicht an meinem festen Vertrauen; Du weißt es, ich kenne Dein Gemüth, Deinen klaren Verstand, den nur hier[88] und dort kleine unschädliche, Dir mit der Muttermilch eingeflöste Vorurtheile zuweilen umdunkeln; ich ehre Dein schönes Talent, mit sanfter Hand alles zum Besten zu leiten, ohne durch die Güte Deines Herzens Dich von Deinem Zwecke abführen zu lassen. In allem was unsre Töchter betrifft laß ich Dir freie Hand, denn die Ehre wie der Vortheil unsres Hauses liegen Dir nicht minder am Herzen als mir. Nur suche nie unsern Eugen von den Freunden zu entfernen, mit denen schon die Spiele seiner Kindheit ihn verbanden, das Einzige erbitte ich von Dir. Was ist in späteren Tagen dem Manne von höherem Werthe, als ein treuer Jugendfreund! in Noth und Tod, in Sturm und Gewitter, beut er ihm eine sichre Zuflucht, oder geht Arm in Arm mit ihm zu Grunde. Ach! und es werden Tage kommen, schwere heiße Kämpfe, wo es wohl Noth thun wird fest an[89] einander zu halten! setzte er sehr bewegt, halb leise hinzu.

Die Fürstin war in diesem Augenblicke mit ihren eignen Ideen zu beschäftigt, um diese Andeutungen so zu beachten, als sie es zu andrer Zeit gethan haben würde. In Hinsicht auf Eugen hast Du vollkommen Recht, erwiederte sie, aber unsre Töchter dürfen solche Konnexionen nicht bilden. Sie können ihrem Geschick nicht vorgreifen, sie müssen geduldig abwarten, was Gott und ihre Eltern über ihre Zukunft beschließen. Übrigens will ich noch heute über die ihrem Alter angemessenen Beschäftigungen unsrer jüngsten Tochter, und über die nothwendige Beschränkung ihrer Gesellschaft mit Madame Sommerfeldt mich berathen; Helenas Gouvernante ist eine verständige welterfahrne Frau; sie wird auf meine Ansichten eingehen, und alles dem gemäß anzuordnen wissen.

Und Richard? muß auch er aus Helenas[90] Nähe verbannt werden? fragte ein wenig spottend der Fürst; Helena horchte hoch auf.

Ach, warum quälst Du mich so! Du weißt es ja, von dem kann ja hier gar nicht die Rede sein, das bleibt wie es ist, erwiederte die Fürstin etwas ungeduldig.

Beide verließen das Zimmer, und Helena gewann dadurch Zeit, unbemerkt aus ihrem Verstecke zu entkommen.


Helena war der Pflege ihrer Amme zwar schon längst entwachsen; doch diese ließ es sich dennoch nicht nehmen, die Nachttoilette ihres Lieblinges zu besorgen, wie sie von jeher es gewohnt gewesen war. Obgleich mehr als zwanzig Hände sich herbei drängten, dieses Geschäft, das sie mit mütterlichem Eifer als unerläßliche Pflicht betrieb, ihr abzunehmen, so litt sie doch nie den mindesten Eingriff in ihre Rechte. Das[91] ungemessenste Vertrauen des holdseligen Wesens, das in unbeschreiblicher Anmuth unter ihren pflegenden Händen gleichsam erblühte, lohnte überreichlich ihre treue Anhänglichkeit. Die junge Prinzessin hatte von frühester Kindheit an sich gewöhnt, Abends beim Auskleiden ihrer Elisabeth von allem, was sie den Tag über erfahren oder gethan, ausführlichen Bericht abzustatten; auch die Fürstin Eudoxia pflegte des Morgens, gleich nach ihrem Erwachen, sie zu sich zu berufen, um alles, was in dem unermeßlich großen Haushalte, und selbst in der Familie des fürstlichen Hauses sich ereignete, mit ihr allein zu besprechen. Und so war denn die gute Frau besser als irgend Jemand, die Fürstin selbst nicht ausgenommen, im Stande, alles im Ganzen zu überschauen, und nicht selten durch ihren Rath, oder selbst thätig, in die Leitung desselben einzugreifen.

Auch an jenem Abende versäumte Helena nicht, ihr Herz vor der treuen Amme auszuschütten;[92] es war ihr dieses sogar mehr als sonst ein Bedürfniß; denn sie fühlte das Unrecht, das sie begangen, indem sie, wenn gleich Anfangs unabsichtlich, ihre Eltern belauschte, und sie schämte sich deshalb nicht wenig. Indessen die Beichte wurde abgelegt, und daß Frau Elisabeth, als eine höchst moralische Person, sie darüber sehr ernstlich schalt und ermahnte, war dem guten frommen Kinde, als wohlverdiente Buße, eine Art von Trost. Doch die gute Amme konnte ihrem Lieblinge nicht lange zürnen; als sie die innere Zerknirschung desselben über den begangenen Fehler bemerkte, ging sie zu Beruhigungsgründen über und sprach so lange, so eindringlich, mit so sanft gemilderter Stimme, daß ihre Rede endlich wie ein Wiegenliedchen wirkte. Als Helena am andern Morgen erwachte, waren sowohl das, was sie von dem Gespräche ihrer Eltern vernommen, als die Ermahnungen und Tröstungen[93] der Amme ihr fast ganz aus dem Gedächtniß entschwunden.


Die heimliche Liebe des jungen Fürsten Konstantin und der Prinzessin Natalia war für Helena längst kein Geheimniß mehr gewesen; denn welchem funfzehnjährigen Mädchen wäre ein solches, unter ihren Augen entstehendes Verhältniß jemals entgangen? in dieser Hinsicht hatte sie also aus dem Gespräche ihrer Eltern nichts erfahren, das ihr nicht schon bekannt gewesen wäre. Daß sie selbst ihrem Eintritte in die große Welt so nahe stehe, war ihr allerdings neu; denn mit ihrem Loose völlig zufrieden, hatte sie bis dahin noch gar nicht daran gedacht, und wußte auch jetzt noch nicht recht, ob sie sich darauf freuen, oder davor fürchten solle. Da aber doch erst von kommendem Winter die Rede gewesen war, bis zu welchem noch mehrere Monate vergehen[94] mußten, – in ihrem Alter eine unermeßlich lange Zeit, – so hielt sie es für das Beste, auch jetzt noch nicht weiter darüber nachzudenken, und schlug mit ächt jugendlichem Frohsinne sich die ganze Sache fürs erste aus dem Kopfe.

Die Voranstalten zu dieser Hauptepoche in Helenas Jugendleben wurden indessen allmälig getroffen; aber ganz unmerklich langsam und leise; denn Eudoxia war eine zu weltkluge Dame, um nicht alles was sie unternahm mit großer Überlegung auszuführen. Natalias nahe Verlobung blieb fürs erste noch ein öffentliches Geheimniß, aber sie wurde jetzt doch, als eine ganz erwachsene junge Dame, in die Gesellschaft eingeführt. Ihre Erziehung wurde für vollendet erklärt, und dieses bot von selbst Gelegenheit, die große Tanzstunde aufhören zu lassen, die sonst wöchentlich im Palaste des Fürsten Andreas statt fand, und die gar bald in eine Art Gesellschaftsball sich umgewandelt hatte, zu welchem[95] Moskaus heranwachsende brillanteste Jugend beiderlei Geschlechts, beinahe ohne andre Aufsicht als die des Tanzmeisters, sich versammelte.

Die großen musikalischen Übungen hatten aus dem nämlichen Grunde gar bald das nämliche Schicksal; und unter dem Vorwande einiger nothwendig damit vorzunehmender Reparaturen, wurde auch das kleine Haustheater einstweilen zugeschlossen.

So zog der Kreis, welcher Helenen von der fröhlichen blühenden Jugendwelt abschloß, sich immer enger zusammen, während die glänzendsten Feste in dem Hause ihrer Eltern sich mehrten, und Natalie als die Königin derselben glänzte. Madame Sommerfeldt wich ihrem Zöglinge fast nie mehr von der Seite; nur in ihrer Gegenwart durfte Helena die Besuche ihrer jungen Freundinnen annehmen, nur in ihrer, oder in der Fürstin Begleitung, sie erwiedern; Eugens Freunde waren, ohne daß dieses ausgesprochen[96] worden wäre, durch diese neuen Einrichtungen aus ihrer Nähe gänzlich entfernt.

Alle diese Veränderungen wurden, ohne ein Wort darüber zu verlieren, gleichsam eine aus der andern entstehend, so ganz allmälig eingeführt, daß Helena derselben schon gewohnt worden war, ehe sie nur bemerkte, daß sie gegen sonst ein fast klösterliches Leben führe. Ihr heitrer, still zufriedener Sinn blieb dabei völlig unbefangen; war sie doch, vom Morgen bis zum Abend, auf eine Weise beschäftigt, die Langeweile und üble Laune fern von ihr hielt. Um die Zeit, die ihr bis zu ihrem Eintritte in die Welt noch übrig blieb, recht zu benutzen, waren fast alle Stunden ihres Unterrichts verdoppelt worden; sie las, zeichnete, malte, sang und spielte; Richard war nach wie vor bei ihren Übungen ihr zur Hand, so oft sie seiner bedurfte. Der Tag verging, der Morgen wurde zum Abende,[97] ehe sie sich dessen versah; sie war zufrieden, als hätte sie nie anders gelebt.

Natalia, von Bewunderern umgeben, im Wonnetaumel der ersten Liebe, von einem glänzenden Feste zu einem andern eilend, wurde der vereinsamten jüngern Schwester bei dieser ganz verschiedenen Lebensart zwar etwas entfremdet, und mochte selten genug ihrer gedenken; doch Eugen und Richard vergaßen die Verlassene nicht. Auch sie waren jetzt in der Gesellschaft eingeführt, doch Richard entfernte sich aus derselben, sobald es der Anstand erlaubte, um der einsamen Helena ein Paar lange Abendstunden durch gemeinschaftliche Lectüre zu kürzen, und auch Eugen folgte ihm zuweilen. Richard schlich sich nicht heimlich zu ihr; der Fürst, die Fürstin, Alle wußten darum und gönnten ihr gern diese Erheiterung, während das ganze Haus in festlichem Glanze strahlte.

Madame Sommerfeldt war eines Abends zu[98] einer Freundin geladen; eine sehr zahlreiche und brillante Assemblée wogte in den weiten Sälen des Palastes, während Richard sich früher als sonst zu Helena begeben, um mit ihr Walter Scotts Lady of the Lake zu lesen. Die Amme, welche diesmal, wie immer in solchen Fällen, die Stelle der Gouvernante bei der jungen Prinzessin vertrat, war eben im Begriffe, in ihrem weichen bequemen Armstuhle hinter dem großen Ofenschirme in sanften Schlummer zu gerathen, als ebenfalls weit früher als gewöhnlich, und augenscheinlich etwas verdrießlich, Eugen zu ihnen sich gesellte.

Sitzt Ihr doch da, als befändet Ihr Euch selbst auf einer unbewohnten Insel mitten in See, rief er, nachdem er einen Blick auf das Gedicht, welches sie mit einander lasen, geworfen; ist es hier doch so still, so heimlich, so ruhig; und keine funfzig Schritte von Euch tobt der langweiligste Saus und Braus, den man[99] sich denken kann. Arme, kleine Helena, ich habe mich fortgeschlichen, um mich ein Stündchen bei Dir zu erholen, aber hier ist es doch gewaltig einsam und still! setzte er sich dehnend, mit schlecht verhehltem Gähnen hinzu; sage mir nur, was in aller Welt hat seit einiger Zeit unsre Mama bewogen, Dich wieder in die Kinderstube zu versetzen?

Helene versicherte, sich dabei sehr wohl zu befinden, auch Richard meinte, es wäre doch sonst fast zu lebhaft hier zugegangen, Eugen aber wollte das Alles nicht gelten lassen.

Warum müssen denn meine Freunde aus Deiner Gegenwart, Schwester, gänzlich verbannt sein? fragte er: warum treffe ich sogar Deine Freundinnen niemals mehr bei Dir an? warum darfst Du von ihnen nur förmliche Visiten annehmen und erwiedern? Was sind das alles für Neuerungen, und was ist der Grund davon? Sind doch alle Freuden, die sonst hier herrschten,[100] uns wie abgeschnitten! Scherz und Spiel! Lachen und Tanz und Herzenslust! wo seid ihr hin! setzte er mit komischem Pathos, tragirend und deklamirend hinzu.

Das geht nicht mehr so, wie Du es wohl meinst; ich habe keine Zeit zu verlieren, wenn ich noch alles lernen soll, was ich lernen muß. Glaube mir, Bruder, die Langeweile plagt mich nicht, ich habe vom Morgen bis zum Abend vollauf zu arbeiten: erwiederte Helene, und sah ganz allerliebst altklug dazu aus.

Das alles ist wahr und gut; aber man muß doch auch nach der Arbeit seine Erholungsstunden haben: sprach Eugen.

Auch an diesen fehlt es mir nicht, wie Du siehst, erwiederte Helene, indem sie lächelnd auf Richard und das vor ihnen liegende Buch deutete.

Ich seh' es wohl, rief Eugen halb lachend, halb ärgerlich, Richard ist nun einmal der Auserwählte;[101] aber warum können denn wir, ich und meine übrigen Freunde, nicht eben so. gut als er, uns mit Dir erholen?

Ich weiß es wohl und sag' es nicht, erwiederte Helene mit lächelndem Trotz, kreuzte die runden weißen Arme über einander, und lehnte, ein Liedchen summend, im Sofa sich zurück.

Kleines eigensinniges Ding, Du sagst es nicht? aber ich erfahre es doch, lachte Eugen, und holte mit schmeichelnder Gewalt die Amme aus ihrer dunkeln Ecke hinter dem Ofenschirme hervor. Mütterchen, liebe Alte, bat er, komm Du unser alles wissendes Hausorakel; komm, setze Dich hieher zu uns, weise, vielerfahrne Pythia, und beantworte mir die Fragen, auf welche der kleine Trotzkopf nicht antworten will.

Aber so thut doch nur die Augen auf, so könnt Ihr Eure Fragen Euch selbst gar leicht beantworten, sprach lachend die Amme; schaut Euch selbst nur an, und meine junge Gebieterin[102] dazu; seid Ihr aus den beiden kleinen Bübchen, die mir mein Herzenskind oft genug umgerannt haben, nicht ein paar stattliche, junge Herren geworden? und meint Ihr, mein Prinzeßchen wäre hinter Euch zurückgeblieben? Urtheilt selbst, ob es für ein junges erwachsenes Fräulein sich wohl schicken würde, mit Euresgleichen Ball- und Pfänderspiel zu spielen. Oder soll sie etwa auch, wie ihre Schwester Natalie, in der großen Tanzstunde ihr Herzchen verlieren? wer kann wissen ob der, welcher es etwa aufnähme, den Eltern so genehm wäre, als Fürst Konstantin zum Glück es ist; und da hätten wir des Herzeleids genug; setzte die Amme, über ihre eigne Übereilung augenscheinlich erschreckend, hinzu.

Darum also? etwas mag daran sein, erwiederte Eugen langsam gedehnt. Nun, Freund Richard, setzte er hinzu, mache Dich also nur darauf gefaßt, nächster Tage wirst auch Du verbannt.[103]

Das wird er nicht, gewiß nicht; fiel Helene sehr lebhaft ein.

Nicht? und warum er allein nicht? fragte Eugen.

Warum? das ist mir nicht recht klar; aber wäre das auch, ich sagte es doch nicht; übrigens weiß ich es gewiß, antwortete Helene.

Ich weiß es auch, nebst dem Grunde dazu, aber ich sage es ebenfalls nicht; mir ist als hätte ich schon zu viel gesagt; sprach mit bedenklichem Kopfschütteln die Amme.

Der Gouvernante Ankunft beendete dieses Gespräch, und Eugen begab sich mit seinem ziemlich nachdenklich gewordenen Freunde wieder zur Gesellschaft zurück.


Schon am folgenden Tage ließ Richard sein Nicht-Erscheinen an der Tafel mit einem unbedeutenden[104] Unwohlsein entschuldigen; dennoch wieß er alle ärztliche Hülfe von sich ab. Trübe und einsam weilte er mehrere Tage lang in seinem Zimmer, ohne dasselbe zu verlassen; und sogar dem Einzigen, dem er den Zutritt nicht versagte, weil er sich nicht abweisen ließ, sogar seinem Freunde Eugen gelang es nicht, ihm ordentlich Rede abzugewinnen. Mit allen Bitten und Fragen war nichts weiter aus Richard herauszubringen, als fast ängstliches Flehen, Geduld mit ihm zu haben, ihn nur noch wenige Tage sich selbst zu überlassen, und Versicherungen, daß er gewiß sehr bald gesunden werde, wenn man ihm nur erlauben wolle, kurze Zeit ganz einsam zu bleiben.

Eugen verkannte den Ausdruck tiefen innern Leidens an seinem Freunde nicht, aber er sah auch, daß nicht eigentliches Kranksein, kein physischer Schmerz, diesem Leiden zum Grunde liege. An Verzweiflung gränzender Gram, namenloses[105] Seelenleiden, furchtbarer Kampf sich widerstrebender Gefühle, tobten im innersten Gemüthe des Unglückseligen. Eugen sah es wohl, aber er wußte den Grund dazu auf keine Weise sich zu erklären.

Er gab es auf, den Freund, dessen täglich mehr verfallende Gestalt mit banger Besorgniß ihn erfüllte, mit Fragen länger zu quälen, die immer nur mit rührenden Bitten um Nachsicht, um Geduld, um Einsamkeit, erwiedert wurden; aber er fing an, ihn mit scharfer Aufmerksamkeit zu beobachten, um zu errathen, was man ihm nicht bekennen wollte. Oft überfiel er ihn in seinem Zimmer, wenn Richard sich dessen am wenigsten versah, und wenn er in später Nacht vom Balle oder von andern Festen zurückkehrte, blieb er lauschend an Richards Thüre stehen. Gewöhnlich hörte er ihn dann noch mit unruhigen Schritten im Zimmer auf und abgehen, oft sogar laut und vernehmlich mit sich selbst[106] sprechen, eine Gewohnheit, welche Richard von seiner Kindheit an gehabt hatte. Ein verborgner Sinn lag in Richards Worten, das ließ sich nicht ableugnen, aber wie diesen heraus finden? Zuweilen brach er auch in halb ersticktes bittres Lachen aus, und der Gedanke, irgend ein großes unbekanntes Unheil sei über seinen Freund hereingebrochen, das bei dieser ängstlichen Art es zu verhehlen ihn dem Wahnsinne zuführen könne, erfüllte den lauschenden Eugen mit unbeschreiblichem Grauen.

Thor, blinder erbärmlicher Thor! die sprechendsten Beweise unbegränzter Verachtung treffen dich, und du nimmst sie für Auszeichnung, für Gunstbezeigungen, und triumphirst darüber innerlich! ist es nicht zum Todtlachen? sprach Richard einst heftig bewegt zu sich selbst. Willst du es denn wirklich abwarten, daß man in den Sumpf dich zurückwirft, aus welchem man zu augenblicklichem Gebrauche dich gezogen? setzte[107] er nach einigem Schweigen, mit gedämpfter Stimme, fast flüsternd hinzu.

Der Schooshund darf in der vornehmsten Gesellschaft am Ofen liegen bleiben, die Hauskatze darf in allen Winkeln herumschnurren, und an die Füße der Herrin sich vertraulich schmiegen, was thut es? was ist an solchen Hausthieren gelegen? wer achtet auf sie? sprach er einst im Tone ruhiger Überlegung. Sie haben es sehr gut in der Welt, denn sie amüsiren, fuhr er weiter fort; sie werden gepflegt, gefüttert, gestreichelt, sie haben es ganz außerordentlich gut, diese Thiere. Warum sollte ein Mensch es nicht eben so gut haben wollen, wenn er es haben kann? Geduldet werden, weil man zu unbedeutend ist! es ist das bequemste Leben von der Welt, setzte er ironisch lachend hinzu. Pfui! pfui! und hundertmal pfui! rief er plötzlich laut aufstampfend, und ging heftig, mit zornigen Schritten, im Zimmer[108] umher. Eugen hörte es schaudernd, und suchte vergebens sich zu erklären was er hörte.

Altes redseliges Hausorakel, weise viel erfahrne Pythia, so nannte er dich ja? dir danke ich viel, und du verdienst den Namen: sprach Richard ein andermal. Und als ob in düstrer Nacht ein unerwarteter Strahl des Lichtes ihn träfe, so fuhr Eugen zusammen, der wieder lauschend an der Thüre stand.

Die Amme! ja sie war es die Richard meinte, sie mußte es sein, und Eugen begriff nicht wie es möglich sei, daß er nicht schon längst auf den Gedanken gekommen, sie um Rath zu fragen. War sie doch die Vertraute der Fürstin Eudoxia, wie der kindlich ihr ergebenen Helena; blieb ihr doch nichts was im Palaste seines Vaters vorging verborgen, erfuhr sie doch jedes Wort, das gesprochen wurde im Prunkgemache der Fürstin, wie in der dumpfigen Kammer des niedrigsten Knechtes![109]

Eugen erinnerte sich jetzt deutlich, daß Richard am Morgen nach jenem letzten Abend, den sie beide bei Helenen zugebracht, die Amme besucht habe, was sehr selten geschah. Er selbst hatte ihn gesehen, wie er ziemlich bleich, mit wankendem Schritte aus ihrem Zimmer in das Seine ging, das er seitdem nicht wieder verlassen. Sie war folglich die letzte gewesen, die in gesundem Zustande ihn gesehen, und sie allein konnte wissen, welch unerwartetes Unheil in der kurzen Zwischenzeit vom Abend bis zum Morgen über den Unglücklichen hereingebrochen sei, das in diesen unerklärlichen Zustand ihn versetzte. Eugen beschloß dies Geheimniß von ihr herauszubringen, es koste was es wolle.

Es war kein leichtes Unternehmen; denn bei aller ihrer Redseligkeit war Frau Elisabeth doch nichts weniger als schwatzhaft. Sie hatte verschweigen gelernt; mit dem ihrem Geschlechte wie ihrem Stande eignen Mutterwitze hatte sie[110] eine gewisse schlaue Vorsicht sich angeeignet, welche durch lange Gewohnheit ihr zur zweiten Natur geworden war, und nicht leicht entschlüpfte ihr ein unüberlegtes Wort. Auch hätte Eugen den Inhalt ihres letzten Gespräches mit Richard wohl schwerlich aus der verschwiegenen Vertrauten des ganzen Hauses herausgebracht, wenn er nicht durch seine lebhafte Beschreibung des traurigen Zustandes des Kranken zuerst ihr innigstes Mitleid zu erregen, und hinterdrein durch verständliche Andeutungen der Gefahr, daß er in Wahnsinn verfallen könne, sie in Furcht und Schrecken zu versetzen gewußt.

Vor allem lag der vorsichtigen Frau daran, unter diesen Umständen ihre eigne Schuldlosigkeit an Richards Erkranken ins hellste Licht zu stellen; sie gestand, daß er an jenem Morgen sehr düster, sehr schwermüthig zu ihr gekommen sei, um sich bei ihr Rathes zu erholen; aber[111] sie behauptete auch, daß er vollkommen erheitert und getröstet sie verlassen habe. Nichts habe, versicherte sie, ihn zu ihr getrieben, als die ihn quälende Sorge, daß, ungeachtet aller Versicherungen des Gegentheils, er selbst eben so wohl als Eugens andre Freunde, am Ende doch noch aus Helenas Nähe verbannt, von ihrem näheren vertrauteren Umgange ausgeschlossen werden würde.

Nie, nie werde ich mich trösten, wenn auf diese Weise mir der einzige Weg verschlossen wird, dem edlen Hause, das so viel an mir gethan, dadurch nützlich zu werden, daß ich fortfahre, die mir unter dem Schutze desselben erworbenen Kenntnisse zur Ausbildung der seltnen Talente der jungen Prinzessin zu verwenden, wie ich bis jetzt es gethan: hatte Richard mit dem Ausdrucke inniger Betrübniß so lange wiederholt, sich so bestimmt geweigert, den Versicherungen der Amme, daß dieses keinesweges zu befürchten[112] stehe, Glauben zu schenken, bis sie durch Gründe von der Wahrheit derselben ihn zu überzeugen sich entschloß. In klaren, nichts bemäntelnden Worten hatte sie, freilich unter der Bedingung unverbrüchlicher Verschwiegenheit, ihm nicht nur alles entdeckt, was Helena damals aus dem Gespräche ihrer Eltern über diesen Gegenstand entnommen, sondern auch wie die Fürstin Eudoxia selbst, und in noch weit stärkeren Ausdrücken, gegen sie, die Amme, sich darüber geäußert.

Genug, Richard hatte auf durchaus nicht schonende Weise von Frau Elisabeth erfahren, was ihm ewig hätte verborgen bleiben müssen, und diese glaubte es ganz vortrefflich gemacht zu haben, während sein stolzes Herz unter dem Gefühle lange unwissend ertragener tiefer Entwürdigung brechen wollte. Der Amme fiel es nie ein, an ihrer Herrin zu zweifeln; und weil diese von dem in der Natur gegründeten Unterschiede[113] zwischen hoch und niedrig Gebornen überzeugt war, so glaubte auch sie daran, ohne sich dadurch im mindesten verletzt oder verachtet zu fühlen. Im Himmel wird es anders sein, dachte sie zuweilen, dort sind wir alle gleich, sagen die Popen; und doch, wer weiß?

Von allem was er hier vernommen seltsam ergriffen und bewegt, verließ Eugen die Amme. Daß er weit davon entfernt war die Ansichten seiner Mutter mit ihr zu theilen, bedarf wohl kaum der Erwähnung; aber die wirkliche Lage seines Freundes, die ihm jetzt zum erstenmal klar geworden war, fiel, eben weil sie so plötzlich vor ihm aufstand, mit Centnerschwere ihm auf das Herz. Auch er, eben so wenig als Richard selbst, hatte früher nie an die wesentliche Verschiedenheit ihrer beiderseitigen Stellung in der Weltge dacht, auch nicht an den gewaltigen Abstand der Ansprüche, welche sie beide an das Leben zu machen berechtiget waren. Richard[114] war ihm von jeher nur als ein geliebter Bruder erschienen, mit dem er alles theilte; wie anders mußte von heute an es werden! Er begriff ganz den bittern Unmuth, die stille Verzweiflung des Freundes, er litt mit ihm schmerzlich und tief; aber ihm blieb der Trost, der jenem mangelte; denn fest und unerschütterlich stand der Entschluß in seinem Gemüthe, alles anzuwenden, um den Freund seinem unwürdigen Zustande zu entreißen, ihn zu heben, zu tragen, und um jeden Preiß die zwischen ihnen im Innern herrschende Gleichheit auch im Äußern wieder herzustellen, und zwar auf immer.


Beim regsten innigsten Mitgefühle vermochte Eugen doch nicht, die ganze Schwere des Unglücks, das auf seinem Freunde lastete, zu ermessen. Als verwöhnte Lieblingskinder des[115] Glückes waren beide neben einander erwachsen, und ihre Jugenderinnerungen konnten nur freudiger Art sein; denn von allem, was frühere bedrücktere Zustände ihm zurückrufen konnte, war auch Richarden, wie schon erwähnt wurde, nichts geblieben als seine Muttersprache, die ihm überdem sogar in diesem fremden Lande als ein besonderer Vorzug angerechnet wurde, um dessentwillen er von vielen gesucht ward. Plötzlich aufgerüttelt aus der süßen Unbewußtheit goldner Jugendträume, mußte ihm jetzt zu Muthe sein wie einem, der auf seidnem Lager entschlief, und unter Sturm und Gewitter, auf öden meerumspülten Felsen, allein und verlassen erwacht.

Ärmer als er jetzt sich fühlte, hat noch kein Menschenkind sich jemals gefühlt. Von allem was ihn umgab, was er sonst, ohne alles Bedenken, als ihm angehörig betrachtet hatte, war, wie es ihm schien, außer dem nackten Leben[116] nichts mehr Sein; er wähnte nicht einmal mehr auf das Obdach über seinem Haupte ein Anrecht zu haben; fürstliche Gnade hatte ihn darunter aufgenommen, fürstliche Laune konnte ihn verjagen, sobald es ihr beliebte, ihn nicht mehr darunter zu dulden.

Immer wilder, immer verworrener wogten, kreuzten sich seine Gedanken, bis sein Elend den höchsten Gipfel erreichte, und er vor Jammer und Mitleid mit sich selbst zu vergehen glaubte; da endlich erwachte sein eigenes besseres Selbst.

Und bin ich denn aber wirklich so elend? so ganz auf fremde Hülfe angewiesen? rief eine tröstende Stimme in seinem Innern: habe ich nicht auch Eltern? ein Vaterhaus, ein schönes hochgepriesenes Vaterland, wo ich hin gehöre, wo ich daheim bin? Nur wer sich selbst aufgiebt, sich selbst verläßt, ist warhaft verlassen.

Er suchte sein aufgeregtes Gemüth auf alle[117] Weise zu beschwichtigen; er schloß die Augen, und strebte mühsam, dunkle Erinnerungen seiner frühesten Kindheit, die traumartig Jahre lang in ihm geschlummert hatten, hinauf an das Tageslicht zu beschwören. Sie erwachten, sie traten aus dem Dunkel hervor. Das schmuzige enge Städtchen Nottingham, das kleine unscheinbare Haus, in welchem seine Eltern wohnten, die räuchrige kellerartige Küche, in der seine Mutter das spärliche Mittagsmahl für die Familie mühselig bereitete. Er sah die Arbeiter unter den staubigen Baumwollenballen, im niedrigen Magazine herumstören, er glaubte sogar die scheltende Stimme seines Vaters zu hören, vor der er sich oft in den dunkelsten, abgelegensten Winkeln des Hauses verborgen, und fühlte dem Allen sich gänzlich entfremdet. In seiner Brust regte sich kein liebendes Gefühl; mit innerem Grauen erfüllte ihn der Gedanke an jenes dunkle enge Leben, zu welchem er doch eigentlich geboren[118] war; ihm schauderte davor, aber verloren gab er sich darum doch nicht.

Richard nahm alle seine Kraft zusammen, um zu nüchternem gelassnem Besinnen sich zu zwingen. Greise, Weiber, Kinder, mögen klagen und jammern, rief er, Männer helfen sich selbst, oder gehen unter im Versuch; nur der ist verlassen, der sich selbst verläßt, sei künftig mein Wahlspruch. Zwar habe ich mein zwanzigstes Jahr noch nicht vollendet, aber ich bin eine frühreife Frucht meines Geschicks, es hat vor der Zeit mich mündig gesprochen, und ich darf sagen, ich bin ein Mann.

So kaltblütig als es ihm nur immer möglich war, fing er jetzt an, alle Vortheile und Nachtheile seiner Zustände zu überlegen, und gelangte endlich zu dem Entschlusse, in die Welt zu gehen, die weit offen vor ihm lag: zunächst nach Amerika, wo so viele seines Gleichen Glück oder Untergang suchen und finden. Der Einzelne[119] kommt überall leicht durch, tröstete er sich selbst, nur Freiheit! Unabhängigkeit! Selbstständigkeit! sei es meinetwegen auch bei Wasser und Brod.

Er gefiel sich in dem Gedanken, und malte mit den lebhaftesten Farben seiner ohnehin sehr gespannten Fantasie ihn sich aus. Schmerzliche Wehmuth ergriff ihn, indem er den Abschied von seinen fürstlichen Pflegeeltern sich dachte, die immer ihm wohlgethan, die er mehr als seine eignen Eltern geehrt und geliebt; von dem vertrauten innigsten Freunde seines Herzens, von Eugen, der mehr als Bruder ihm gewesen, von Helena – da war es plötzlich um seinen Muth gethan! auch Sie sollte er nicht mehr sehen, nicht mehr hören; die Hauptbeschäftigung seines bisherigen Lebens, jeden ihrer Wünsche zu errathen und zu erfüllen, die Freude, bei allen ihren schönen anmuthigen Arbeiten ihr hülfreich zur Seite zu stehen, sollte er aufgeben auf[120] immer und immer: es war ihm undenkbar. Was die süßeste Gewohnheit ihm Jahre lang verborgen gehalten, ward jetzt in einem Augenblicke ihm furchtbar klar, und zum erstenmale fühlte er, welche unzerreißbare Bande ihn an den Boden fesselten, den sie betrat.

Strenge ging er mit sich selbst jetzt ins Gericht, und sprach von jeder vorgefaßten Hoffnung, von jedem thörichten Wunsche sich frei, den er in seiner jetzigen Lage für unverzeihlichen Unsinn erklären mußte. Nichts glaubte er zu wollen, als sie sehen, die nämliche Luft mit ihr athmen, ihr dienen; in jener so verzeihlichen Schwärmerei der ersten Liebe eines reinen jugendlichen Gemüths war er überzeugt, daß er nie Höheres wollen noch wünschen werde. Doch diesem Glück zu entsagen schien ihm unmöglich, er fühlte mit unbeschreiblicher Seelenangst seine Unfähigkeit, mit fester Hand in seine Zukunft einzugreifen, und versank von neuem in hoffnungslose[121] düstre Trostlosigkeit. So fand ihn Eugen, als er zu ungewohnt später Stunde zu ihm zurückkehrte.

Mit so viel äußerlicher Unbefangenheit, als er nur erzwingen konnte, legte dieser jetzt seinem Freunde von seinem langen Außenbleiben Rechenschaft ab; erzählte von Besuchen, die er doch endlich einmal habe machen müssen, ohne jedoch den bei der Amme zu erwähnen; brachte von seiner Mutter und seinen Schwestern Grüße und Ermahnungen, sich wohl zu pflegen, um recht bald wieder zu gesunden, und kündigte zuletzt ganz unbefangen, als etwas ganz Gleichgültiges, den nahen Besuch seines Vaters an, der nur noch einiger überlästigen Visiten sich zu entledigen habe, ehe er selbst komme, um sich durch den Augenschein von Richards Befinden zu überzeugen.

Als ob etwas ganz Unerhörtes vor seinen Augen sich zutrüge, starrte Richard seinen Freund[122] an. Der Fürst selbst? Fürst Andreas? zu mir will er kommen? er selbst, und hieher, zu mir? flüsterte er todtenbleich, beinahe unhörbar; die Stimme versagte ihm vor innrer Bewegung.

Thust doch als geschähe es zum erstenmal, sprach lächelnd Eugen; besinne Dich doch nur, wie bist Du denn heute? haben nicht beide, mein Vater und meine Mutter, oft an Deinem Bette gestanden, wenn Du krank warst? Seit wir nicht mehr Kinder sind, und mit Kinderkrankheiten nichts mehr zu thun haben, ist glücklicherweise der Fall nicht wieder vorgekommen; aber was ist es denn Besonderes, wenn ein Vater seinen kranken Sohn besucht? Und hat er nicht stets Dich als solchen gehalten und geliebt, und warst Du nicht immer mein Bruder und bist Du es nicht noch?

O stille! stille! stille! kaum habe ich meine Vernunft wieder erlangt, verlocke mich nicht von neuem, sprach Richard sehr bewegt. Ich weiß[123] jetzt, ich weiß, wiederholte er einigemal, und sank, ohne seine Rede vollenden zu können, dem Freunde durch und durch erschüttert an die Brust.


Der verheißene Besuch des Fürsten Andreas unterbrach eine Scene, die für beide Freunde zu angreifend zu werden drohte; doch sah und hörte er beim Eintreten in das Zimmer noch genug davon, um sich in der schon durch Eugens Bericht vorgefaßten Meinung zu bestärken, daß Richard mehr geistig als körperlich leide. Er liebte wahrhaft den Jüngling, der unter seinen Augen, man möchte sagen, unter seiner Pflege, so kräftig und schön heranblühte, und war in diesem Augenblicke nur darauf bedacht, ihn vor dem geistigen Untergange zu bewahren, der, wenn er so fortführe, ihm drohte. Mit wirklich väterlicher Milde und Freundlichkeit suchte er anfänglich durch anscheinend gleichgültiges Gespräch[124] die zu heftige Anspannung dieses reizbaren Gemüthes herabzustimmen, und ergriff, nachdem ihm dieses gelungen, den ersten günstigen Augenblick, um fest und bestimmt zu erklären, daß Richard nur einer ernsten Beschäftigung bedürfe, um schnell und für immer von seinen Leiden geheilt zu werden, die ich, setzte der Fürst freundlich hinzu, mit Deiner Erlaubniß am liebsten Grillen und Einbildungen nennen möchte.

Mit dem lebhaftesten Eifer trat Eugen der Ansicht seines Vaters bei; Richard war an Leib und Seele zu abgespannt, zu gedrückt, zu froh, auf fremde Hülfe in seiner Unentschlossenheit sich stützen zu können, um gegen Vater und Sohn anzukämpfen, die beide jetzt in ihn drangen, sich zur Wahl eines, seine Zukunft fest bestimmenden Planes zu entschließen, zu dessen Ausführung ihm alles zu Gebote stehen solle, was er nur bedürfen könne. Von ihm durch keinen Widerspruch gehindert, fing Richards wohlmeinender[125] Beschützer nun an, dem noch immer in dumpfen Trübsinn Versunkenen eine lange Reihe glänzender Vorschläge für den Lebensweg vorzulegen, an dessen Wendepunkte er jetzt stand. Der zuerst mit zartester Schonung kaum angedeutete, im Falle ihn das Heimweh ergriffen, ihn zurück nach England zu senden, und auch dort allen Beistand, dessen er bedürfen könne, ihm zu gewähren, wurde von dem ehrgeizigen Jünglinge widerwillig, fast zürnend zurückgewiesen, und der Fürst rechnete in seinem Herzen diese Weigerung als einen Beweis seiner liebenden Anhänglichkeit ihm hoch an. Andre Vorschläge, die diesem ersten folgten, wurden zwar besprochen und geprüft, dennoch aber am Ende, unter irgend einem scheinbaren Vorwande, dankend ausgeschlagen.

Das Gespräch zog sich gewaltig in die Länge. Meistens von Richard selbst aufgefundene Schwierigkeiten thürmten überall dem trefflichen Wollen des Fürsten sich entgegen, der vielleicht nicht[126] mehr fern davon war, die Geduld darüber zu verlieren, als Richard plötzlich wie inspirirt aufsprang, und mit krankhafter Heftigkeit höchst überraschend für die militairische Laufbahn im Dienste der russischen Krone sich erklärte. Fürst Andreas und sein Sohn blickten beide verwundert ihn an, und mochten ihren Sinnen kaum trauen. Nie, selbst nicht als Knabe, hatte Richard die mindeste Neigung zum Soldatenstande gezeigt, weshalb sie diesen in die Reihe der ihm dargelegten Vorschläge auch gar nicht aufgenommen hatten.

Der Ort, das Land, wo wir geboren wurden, ist darum noch nicht unser Vaterland! rief Richard mit sein ganzes Wesen verklärendem Enthusiasmus. England war nichts weiter als meine Wiege; früh genug warf sie, achtlos was aus mir würde, mich aus! Hier, wo mein eigentliches Leben unter dem Schutze und der Pflege der Edelsten des Landes erst begann, hier in[127] Rußland ist meine wahre Heimath. Rußland, dem ich Alles verdanke, ist mein Vaterland, und von heute an weih' ich mich feierlich seinem Dienste bis ans Ende meiner Tage.

Nun bist Du wahrhaft mein Bruder! rief Eugen mit glänzendem Auge und drückte, in freudiger Überraschung, den Freund an die Brust; auch der Fürst umarmte ihn, und sprach in den wärmsten Ausdrücken seine Zufriedenheit mit diesem Entschlusse aus. Sie blieben alle drei noch lange beisammen; mancherlei, auf Richards Vorbereitung zu der von ihm erwählten Lebensbahn Bezug habendes, wurde besprochen; manches Beispiel von tapfern bedeutenden Männern, älterer und neuerer Zeit, wurde erwähnt, die ohne durch hohe Geburt oder großen Reichthum unterstützt worden zu sein, zu den höchsten Ehrenstellen in der Armee sich hinaufschwangen.

Und so war denn wirklich diese Abendstunde zu dem am Morgen dieses Tages von ihm selbst[128] noch nicht geahneten Wendepunkte in Richards Leben geworden; doch nicht allein die Zukunft eines bis dahin unbedeutenden englischen Knaben, auch die vieler hundert andren Menschen, vielleicht selbst die eines großen Reiches, wurde durch diese Stunde bestimmt. Darum wage keiner, auch auf das anscheinend unbedeutendste Ereigniß achtlos herunter zu sehen. Wer kann wissen, ob es nicht die Schneeflocke ist, die vom Hochgebirge niederschwebend, zum Kern der Lawine wird, welche in ihrem zerstörenden Laufe zum Ungeheuern sich vergrößernd, Hütten, Wandrer und Heerden dem Untergange zuschleudert.

Ein ganzes Jahr verging, ohne daß in Richards früheren glücklichen Verhältnissen die mindeste Abänderung eingetreten wäre. Mit brennendem Eifer strebte er im Laufe desselben die, für seine künftige Bestimmung ihm noch mangelnden Kenntnisse sich zu erwerben, und Gesundheit und Frohsinn kehrten bei rastloser, wohl angewandter[129] Thätigkeit ihm wieder zurück. War es Mitleid? war es früh ihr zur Gewohnheit gewordene Liebe? wahrscheinlich war es beides, was die Fürstin Eudoxia bewog, während dieser Zeit sich fast noch milder und freundlicher als zuvor gegen den Jüngling zu bezeigen, dessen ihrer Ansicht nach ihm angebornes Mißgeschick ihre innige Theilnahme erregte. Als endlich der Zeitpunkt erschien, wo Richard das gastliche Dach, das in früher Kindheit ihn aufnahm, verlassen mußte, um seiner künftigen Bestimmung zu folgen, da war es Eudoxia, die zuerst auf den Gedanken kam, ihn, dessen bloßer Anblick verrieth, wie schwer jetzt am Scheidepunkte das Gefühl des Verlassenseins von neuem auf ihm laste, durch mannigfaltige Beweise der Theilnahme und des Andenkens beim Eintritte in seine neue Wohnung trostbringend begrüßen zu lassen.
[130]

Von nun an fühlte Richard sich weit glücklicher und freier, als er in seinem früheren Mißmuthe für möglich gehalten. Bedeutend abgekürzt durch den Einfluß des mächtigen Fürsten Andreas, war seine Dienstzeit als gemeiner Soldat innerhalb weniger Monate überstanden und er zum Unteroffizier erhoben. Daß er als solcher, durch seinen Rang, von der Gesellschaft aus geschlossen war, zu welcher er früher, als zum Hause des Fürsten Andreas gehörig, unbedingt gezählt wurde, kümmerte ihn wenig. Ungern mochte er jetzt jener Zeit gedenken, die er, in glücklicher Unbekanntschaft mit seiner eigentlichen Stellung, in einer fast ununterbrochenen Folge von Festen und Vergnügungen verlebt hatte; sie erschien ihm jetzt wie ein langer bethörender Rausch, an den man beim späten Erwachen nur mit Ekel und Widerwillen sich erinnern mag. Sein stolzer Sinn schauderte vor dem Gedanken zurück, auch noch ferner in erborgtem Schimmer[131] zu glänzen; aber wenn er Abends an den hellerleuchteten Fenstern der Säle vorüberkam, zu welchen der Zutritt ihm jetzt versagt war, konnte er doch nicht unterlassen, mit innerm Behagen und berechnender Zuversicht der vielleicht nicht ganz fernen Zeit sich im Geiste zuzuwenden, in welcher durch Rang und Verdienst gehoben, es nur von ihm abhängen würde, mit besserem Rechte als ehemals, seine frühere Stelle dort wieder einzunehmen – wenn es ihm nämlich so beliebe.

Aus erbittertem Trotz gegen das, was er in trüben Stunden des Mißmuths als eine Unbill des Schicksals gegen ihn betrachtete, hätte er vielleicht einen seinem jetzigen Range, wenn gleich nicht seiner geistigen Bildung angemesseneren Umgang sich erwählt, und wäre darüber in einen Strudel von lockenden Verführungen und Gemeinheit gerathen; doch Eugen stand wie sein guter Engel ihm treulich zur Seite, er wußte[132] jeden Schatten eines Verdachtes, als sei irgend etwas zwischen ihnen beiden anders geworden, von seinem Freunde fern zu halten; keinen Tag ließ er vergehen, ohne ihn in sein väterliches Haus zu führen, wo Richard stets als ein willkommner, von Allen gern gesehener Gast empfangen ward. Sobald andre Besuche dieses nicht verhinderten, durfte er völlig zwanglos und frei dem häuslichen Kreise dieser edlen Familie sich anschließen, und wurde gleich den Söhnen des Hauses behandelt; auch in seinem Verhältnisse zu Helena war nichts abgeändert worden, allen andern jungen Freunden ihrer Brüder blieb sie unsichtbar, auf ihr einsames Zimmer und den Besuch einiger Freundinnen beschränkt; doch Richard durfte in Eugens Begleitung, oft aber auch allein, in Gegenwart der Madame Sommerfeldt oder auch nur der Amme, sie dort besuchen, um ihre stillen Abende auf gewohnte Weise zu erheitern, deren sie jetzt mehr als sonst[133] hatte, seit Nataliens Verlobung mit dem Fürsten Konstantin bekannt gemacht worden war.

Auch die Fürstin Eudoxia blieb in ihrem freundlichen Benehmen gegen ihn sich gleich. Das herbe, verletzende Gefühl, welches die Amme durch ihre unvorsichtigen Mittheilungen in ihm aufgeregt hatte, wurde dadurch zwar nicht ganz besiegt, aber doch sehr gemildert; er vermochte nicht, der sich ihm aufdringenden Überzeugung zu widerstehen, daß die Worte der sonst so zart fühlenden Fürstin unmöglich in dem Sinne gemeint gewesen sein könnten, welchen die Amme, nach ihrer gemeineren Art, ihnen untergelegt, und daß Frau Elisabeth in ihrer Redseligkeit sich manche Übertreibung habe zu Schulden kommen lassen, ohne es eigentlich zu wollen. Und so trug denn alles dazu bei, ihn zu beruhigen, und ihm die Veränderung seiner Lage weit minder fühlbar zu machen, als er es erwartet hatte.

Von der andern Seite war der unbeschränktere[134] Blick in die ihm näher gebrachte Welt, in die Leiden und Freuden, in alle ihm bis jetzt unbekannt gebliebene wechselnde Zustände des bürgerlichen Lebens, für ihn unstreitig ein Gewinn, der nur durch diese Veränderung seiner ganzen Existenz ihm hatte werden können. So seltsam und selbst verletzend Iwan Yakuchins Glückwunsch, zur Befreiung aus der vornehmen parfümirten Atmosphäre seiner hohen Beschützer, an jenem ersten Abende in seiner neuen Wohnung ihm geklungen haben mochte, so fühlte er doch nach wenigen Monaten, wie viel Wahres darin gelegen. Er war sich bewußt, jetzt weit fester und sichrer aufzutreten, da niemand mehr ihm zur Seite stand, um im Nothfalle ihn zu stützen oder zu leiten; er gewann mit jedem Tage mehr Vertrauen in sich und seine Kraft. In zweifelhaften Fällen wagte er es eine eigne Meinung zu haben, und wußte sich selbst zu rathen, ohne zu Andern seine Zuflucht zu nehmen.[135]

Seit er dem hemmenden Einflusse der die sogenannte gute Gesellschaft beherrschenden Konvenienzen entgangen war, bewegte er sich in einem ihm ganz neuen Kreise, in welchem Iwan anfänglich sein Führer, und hernach sein von ihm unzertrennlicher Begleiter wurde. Überall sah man die Beiden zusammen; im Theater, wo Richard nicht mehr von seines Gleichen geschieden, in einer Loge des ersten Ranges thronte, wie an öffentlichen Belustigungsorten. Moskau wimmelte damals von, aus dem allgemeinen Befreiungskriege erst seit kurzer Zeit heimgekehrten jungen Leuten; mehrere derselben schlossen den beiden Freunden zu vertrauterem Umgange sich an. Mancher Abend wurde in jubelnder Lust, öftrer noch in ernstem, tief eindringendem Gespräche in diesen Versammlungen hingebracht; denn seit jenen großen Ereignissen schien in Moskau wie überall der Geist unbefangener Fröhlichkeit allmälig von der Jugend zu weichen, und Gedanken[136] und Betrachtungen, wie früher nur das reifere Mannesalter sie hegte, waren an dessen Stelle getreten. Die dunkeln Stunden der langen nordischen Nächte zogen über den Erzählungen der jungen Helden von dem, was sie im Auslande gethan und gesehen, ungezählt vorüber. Fromme Wünsche, sogar leise angedeutete Pläne zur Verbesserung des im Vaterlande Bestehenden, kamen zur Sprache. Immer noch glühte jene Begeisterung in ihren Herzen, die zuerst Moskau in Flammen setzte, dann die halbe Welt ergriff, und durch die allein jene Wunder von Ausdauer und Tapferkeit möglich geworden waren, welche nach langen Jahrhunderten noch die späteste Nachwelt mit bewundernder Verehrung erfüllen werden.

Mehreren der aus dem Kriege Heimgekehrten war es gelungen, die strenge Aufsicht, welche an der russischen Gränze die Einführung ausländischer Bücher erschwert, zu umgehen.[137] Kriegslieder, Aufrufe an die deutschen Völker zum gemeinschaftlichen Kampfe, diese alles elektrifirenden Vorläufer jener denkwürdigen Zeit, waren mitgebracht, und wurden mit Enthusiasmus in Zusammenkünften gesungen und gelesen. Aber nicht nur diese allein, auch andre von dem, nach so gewaltsamer Erregung nicht gleich das nöthige Gleichgewicht wiederfindenden Freiheitssinne eingegebene Schriften, hatten auf gleiche Weise den Weg in jene vertraulichen Vereine gefunden; auch sie wurden übersetzt, vorgelesen, besprochen, bestritten, oder auch mit lautem Jubel aufgenommen. Im Auslande schwindlig gewordene junge Brauseköpfe, rissen durch feurige Beredsamkeit ihre Zuhörer zu Plänen und Vorschlägen für das Wohl des Vaterlandes hin; sprachen von nicht länger aufzuschiebenden, zum all gemeinen Besten durchaus nothwendigen Abänderungen verjährter Mißbräuche, und wähnten von reiner Vaterlandsliebe sich[138] beseelt, ohne hinter dieser glänzenden, sie selbst täuschenden Maske, die tief im eignen Gemütheverborgenen Regungen unruhigen Ehrgeizes zu erkennen.

Mit aller Gluth eines lebhaften, in der Welt noch ganz neuen Gemüthes, hing Iwan dann an den Lippen der Redner; ernster und mehr in sich gekehrt, zeigte Richard sich nur als aufmerksamen Zuhörer, dem nicht alles neu war, was er hier vernahm. Zuweilen glaubte er Äußerungen zu hören, über die, nur weitläuftiger und mit andern Worten, der Fürst Andreas sich schon ausgesprochen hatte, dann aber kam auch wieder so vieles zu jenem nicht Passendes, ihm widersinnig Dünkendes dazwischen, das ihn irre machte. Er wünschte von Herzen, die Unterhaltung möge eine fröhlichere, dem jugendlichen Alter angemessenere Wendung nehmen; doch daran war nicht zu denken. Ein heimlich unter der Asche glimmendes Feuer hatte die Gemüther ergriffen, und verbreitete sich im Verborgenen[139] immer weiter und weiter. Gern hätte er diese Gesellschaft, in der er sich nie recht behaglich fühlte, ganz aufgegeben; nicht aus Besorgniß um die möglichen Folgen, an die er nicht glauben konnte, indem er in allen diesen Berathungen nur ein nutzloses, zeitraubendes Spiel müßiger Köpfe sah; aber weil jedes unberufene Einmischen in ernste Angelegenheiten, geschähe es auch nur durch in den Wind verhallende Worte, ihm tief im Innersten der Seele zuwider war. Um Iwans willen, den jede Äußerung seines Mißbehagens tief zu kränken schien, hatte er indessen nicht den Muth, aus einem Kreise zu scheiden, an welchem dieser das höchste Interesse nahm, und ließ es sich zuweilen sogar gefallen, zu später Nachtzeit, nach einigen auf ganz andre Weise in Helenas Nähe froh verlebten Stunden, von seinem Freunde in diese Gesellschaft sich schleppen zu lassen.
[140]

Fürst Andreas war mit seinem künftigen Schwiegersohne und mit dem jungen Fürsten Eugen der Einladung zu einer großen Jagdpartie gefolgt; eine leichte Erkältung hielt indessen die Fürstin Eudoxia in ihren Zimmern gebannt, wo ihre beiden Töchter den ganzen Tag über ihr Gesellschaft leisten mußten, weil sie keine Besuche annahm. Richard selbst war in dieser Zeit von Morgen bis Abend mit Vorübungen zu einer Revüe beschäftigt gewesen, die nächstens Statt haben sollte; alles dieses hatte mehrere Tage lang ihn von Helena und dem ganzen fürstlichen Hause entfernt gehalten. Jetzt endlich war aber alles überstanden; die militairischen Übungen waren beendet, des Fürsten Rückkunft wurde stündlich erwartet, und auch Eudoxia war von ihrem Unwohlsein völlig wieder hergestellt.

In der vornehmen Welt war es noch ziemlich früh am Tage, als Richard, von Ungeduld[141] getrieben, eine für Helena bestimmte Rolle frisch angekommner musikalischer Novitäten unter dem Arme, über den weiten Vorhof einer Seitenthüre des Palais zueilen wollte, welche in den von den beiden jungen Fürstinnen bewohnten Flügel desselben führte. Zu seinem höchsten Erstaunen fand er aber schon am großen Thorwege den Weg versperrt. Remisen und Ställe standen weit offen, die Lieblingspferde des Fürsten wurden hinausgeführt, eine Unzahl von Reisekutschen, Packwagen, Fuhrwerken aller Art, bildeten im Hofe eine fast undurchdringliche Wagenburg. Kisten und Koffer von allen Formen und Dimensionen lagen neben und über einander aufgethürmt dazwischen, und singend, fluchend, pfeifend, schreiend, hämmernd, rufend sprang, lief, kletterte eine Armee von Stallknechten, Sattlern, Dienern, Schmieden und Wagnern in diesem Chaos umher. Richard wußte nicht wie ihm geschehen; bis zu jener[142] Seitenthüre durchzudringen war unmöglich; vergebens bestürmte er mit Fragen die an ihm vorbeistreifenden Diener; vor lauter Geschäftigkeit konnte keiner derselben ihm Rede stehen. Endlich gelang es ihm, bis zu dem Haupteingange des Palais sich durch das Getümmel hindurch zu arbeiten; kaum hatte er hier die große Treppe erreicht, als ein Diener der Für stin Eudoxia ihn in Empfang nahm, der sehr erfreut war ihn anzutreffen, weil er so eben Befehl erhalten, ihn sogleich aufzusuchen und zu seiner Gebieterin zu führen.

In ihm selbst unverständlicher, dumpfer Angst befangen, wankte Richard, wie ein Träumender, den ihm von Kindheit auf bekannten Weg zu den Zimmern der Fürstin hinan, und konnte nur mit Mühe sich zurecht finden; denn Treppen, Korridor, Vorzimmer, alle seit langen Jahren täglich gesehene Gegenstände, kamen in seiner innern Verstörtheit ihm ganz fremdartig vor. Nur[143] als beim Öffnen der Thüre die, aus dem köstlichsten Blumendufte und den ausgesuchtesten Parfümerien zusammengesetzte Atmosphäre ihm entgegen wallte, welche gewöhnlich die Fürstin umgab, kam er einigermaßen wieder zu sich selbst.

Der erste Blick auf die in blühender Gesundheit von ihrem gewohnten Platze ihm entgegen lächelnde Eudoxia, mußte jeden Gedanken an einen ihr oder ihrem Hause widerfahrnen Unfall aus Richards Gemüthe verscheuchen; aber die Last, die beim Anblick der unten im Hofe herrschenden Unordnung ihm schwer auf das Herz gefallen war, abzuschütteln, blieb ihm noch unmöglich; er zitterte fühlbar, indem er die freundlich ihm gebotene Hand an seine Lippen drückte.

Närrchen, was hast Du denn? fragte die Fürstin nach ihrer gegen ihn noch immer beibehaltenen mütterlichen Weise; weißt Du etwa[144] schon? nun was ist es denn weiter! gewiß Du sollst dadurch nichts verlieren.

Richard starrte sie an, wollte antworten, und die Stimme versagte ihm. Ja das ist nun nicht zu ändern, es ist nun einmal nicht anders, wir gehen nach Petersburg, nahm Eudoxia mit großer Gelassenheit wieder das Wort.

Zwischen mir und Andreas war diese Reise zwar schon seit geraumer Zeit so gut als beschlossen, aber so lange die Sache noch einigermaßen zweifelhaft blieb, haben sogar unsre Kinder nichts davon erfahren. Die vielen Fragen in der Gesellschaft, Sie reisen? wann? weshalb? wann kommen Sie wieder? bringen Einen um alle Geduld. Helena selbst weiß erst seit diesem Morgen, daß wir reisen. Ein Theil unsrer Dienerschaft geht mit der Hälfte unseres Gepäckes noch heute ab, morgen oder übermorgen folgt das übrige, und wir mit unsern Töchtern treten in acht bis zehn Tagen die Reise[145] an: denn einen kleinen Vorsprung müssen wir unsern Leuten doch lassen.

Ein tiefer Schmerzenslaut entrang sich Richards Brust; verwundert blickte die Fürstin zu ihm auf; bleich, fassungslos stand er wie vernichtet neben ihrem Armsessel; seine Hand hielt die Rücklehne desselben krampfhaft umfaßt, als bedürfe er dieser Stütze, um nicht umzusinken.

Du bist krank! rief Eudoxia: was überkam Dich so plötzlich? setz' Dich hierher, Du kannst Dich ja kaum aufrecht halten; mein Gott, was ist Dir denn geschehen? fragte sie mütterlich besorgt.

Richard sank zu ihren Füßen hin, und verhüllte seine thränenden Augen in den Saum ihres Kleides.

Du weinst? fragte sie mitleidig: arme, gute, treue Seele, wäre es unsre Abreise, was Dich so betrübt? verlieren und wiederfinden ist ja die ganze Geschichte des Lebens der Menschen auf[146] Erden, das bedenke; das ist nun einmal nicht zu ändern, und man muß sich darein ergeben. Und sei versichert, auch aus der weitesten Ferne sorgen wir für Dich, Du sollst durch unsre Entfernung nichts verlieren; ich und mein Gemahl werden immer als zu unserm Hause gehörend Dich betrachten.

In diesen letzten, gewiß gut gemeinten Worten, im Tone mit dem sie ausgesprochen wurden, lag etwas ungemein Schmerzliches für Richard, das wie ein elektrischer Schlag ihn durchzuckte. Fast vergessene Erinnerungen an das, was die Amme ihm von der Fürstin stolzem Sinne früher bekannte, wachten in ihm auf, und spornten ihn sich zu ermannen. Seine Thränen versiegten, er erhob sich, und nahm der Fürstin gegenüber den Platz ein, den sie vorher ihm angewiesen.

Kann meine gütige Beschützerin mich so mißverstehen? erwiederte er, zwar mit geziemender Ehrfurcht, aber frei ihr ins Auge blickend: kann[147] sie mich, der unter ihren Augen, unter ihrer Leitung vom Kinde zum Manne heranwuchs, für so eigennützig, für so niedrig achten, daß ich in einem solchen Augenblicke eines solchen Trostes bedürfte? ja daß ich nur fähig wäre ihn anzunehmen? Was ich bin, was ich außer dem nackten Leben besitze, verdanke ich meinen edlen Beschützern, fuhr er sehr erregt mit flammenden Augen fort; aber die höchste der Gaben, die ich aus Ihrem Hause mit fortnehme, durch die mein innigstes Dankgefühl mich Ihnen ewig zu eigen macht, ist, daß ich durch Sie in den Stand gesetzt bin, sorglos in die Zukunft zu blicken, und überall das Gefühl mit mir trage, mir selbst auch ohne äußre Hülfe durch die Welt helfen zu können. Aber wie ich es aushalten werde, dieses Haus künftig verödet zu sehen! wie ich alle die vielen langen Tage, die von nun an einander folgen, von denen keiner mir – ach! ich vermag nicht es[148] auszusprechen; der geringste Diener in Ihrem Gefolge scheint mir jetzt beneidenswerth.

Guter dankbarer Sohn, sprach die wirklich gerührte Fürstin; das also ist es allein? liebst Du uns so? aber Deine treue Anhänglichkeit an uns und unser Haus ist mir ja längst bekannt, und auch ich, das glaube nur fest, auch ich werde oft Deiner gedenken, und Dich vermissen. Doch jeder, in welcher Lage er sich auch befinden mag, muß sich das Unabänderliche mit Fassung gefallen lassen, und wenigstens den Trost wirst Du nicht verschmähen, daß wir nicht auf immer von Dir scheiden. In Jahresfrist, vielleicht noch früher, kehren wir zurück, denn ich und Andreas lieben diesen Aufenthalt, und möchten ihn mit keinem andern vertauschen.

Die Minuten, die ich für Dich aufgespart, sind verflossen, und draußen warten hundert Augen auf mich, sprach die Fürstin, indem sie[149] auf ihre Uhr sah. In wenigen Worten will ich Dir noch die Veranlassung dieser Reise erklären, die Dich so betrübt, denn ob wir uns wieder allein werden sehen, ist zweifelhaft. Die künftigen Schwiegereltern meiner Natalie bestehen darauf, das Hochzeitsfest in ihrem Familienkreise zu feiern, und wir, wir müssen aus Rücksichten für das Glück unsrer Tochter ihrem Wunsche nachgeben, obgleich unsre Absicht eigentlich war, Natalien mit ihrem jungen Gemahl erst nach ihrer Vermählung nach Petersburg gehen zu lassen. Nach reifer Überlegung finden wir selbst es rathsam und schicklich, nach langer Abwesenheit uns dem Hofe wieder einmal zu nähern; ich selbst werde meine beiden Töchter dort einführen, und sie dem Kaiser und der Kaiserin vorstellen, denn auch Helena hat das dazu gehörige Alter jetzt erreicht. Und nun geh', guter Richard, der Fürst wird bald hier sein. Bei Tafel sehen wir Dich wieder, andre Gäste werden[150] heute nicht empfangen, Du aber bist ja gleichsam das Kind vom Hause. Fasse Muth und hoffe auf die Zukunft, wenn Dich der Augenblick drückt.

Richard hatte eben noch Besinnung genug, um die ihm abermals gebotne Hand zu küssen, und wankte weit trostloser als er gekommen war zur Thüre hinaus.

Oben an der großen Treppe stand er einen Augenblick still, und blickte hinab in den Vorhof. Das Getümmel hatte dort unten wo möglich noch zugenommen, man fing eben an die Packwagen zu beladen, und das Singen, Lachen und Pfeifen der dabei Beschäftigten klang ihm wie der unmenschlichste Hohn. So wie ihm damals, mag dem Verurtheilten zu Muthe sein, der indem er in seinen Kerker zurück geführt wird, das Schafott erbauen sieht. Ihm schwindelte, er hatte weder Muth noch Kraft die Treppe hinab zu gehen, und durch diese Vorbereitungen[151] zur Zerstörung des ganzen Glücks seines Lebens sich abermals hindurch zu drängen, er wandte der andern Seite des Vorsaales sich zu. In Eugens abgelegeneren Zimmern, zu denen das Getöse im Vorhofe nicht dringen konnte, dachte er einige Augenblicke zu verweilen, um sich dort, in der Einsamkeit, einigermaßen wieder zu sammeln.

Gut, daß ich Dich treffe! rief die auf dem Wege dorthin ihm begegnende Amme ihm entgegen: aber wie siehst Du aus! bist Du krank? hast Du Fieber?

Richard machte eine verneinende Bewegung, reden konnte er noch nicht.

Nun das ist mir lieb, denn zum Kranksein ist jetzt nicht die Zeit, sprach die Amme; hernach, wenn wir fort sind, magst Du Dich legen und pflegen, zu arg wird es doch hoffentlich nicht mit Dir werden. Ja, ja, dann wird es still genug hier im Hause sein, todtenstill,[152] wie im Grabe; jetzt ist es desto lauter. Was nur die Großen von ihrer heillosen Art haben mögen, ihre Befehle immer erst in der letzten Stunde von sich zu geben! so daß man, wenn's ans Ausführen gehen soll, nicht Beine genug hat, um alles zu belaufen, und nicht Kopf genug, um alles zu bedenken. Sieh einmal her, wie ich beladen bin, Kaschmirs, Schmuck, Spitzen und Gott weiß was alles noch; das alles muß auf das Sorgfältigste besorgt werden. Keine Seele von uns hat heute Zeit, Gott helf'! zu rufen, wenn die andre niest; so wird es gewiß bis nach Mitternacht fortgehn, und auf mir liegt alles, ich hab' es am schlimmsten dabei.

In sich selbst versunken setzte Richard, während des unaufhaltsamen Geschwätzes der neben ihm hergehenden Amme, seinen Weg an ihrer Seite fort, ohne ein Wort darauf zu erwiedern. Halt! rief sie, als er in den Korridor einbiegen wollte, der zu Eugens Zimmer führte, wo willst[153] Du hin? der junge Fürst ist noch nicht daheim, und auf jeden Fall mußt Du mit mir zu Helenen, mit der heute gar nicht auszukommen ist; es ist als thäte sie es mir zum Verdruß, damit ich vollends recht rabiat werde. Denke Dir, da sitzt die Kleine in ihrem Zimmer, und rührt sich nicht, und weint, und weint, als wolle sie in Thränen sich auflösen! Weint, wo Andre vor Freude außer sich gerathen würden! Die große Kaiserstadt Petersburg! Hochzeit, Putz, Feste ohne Ende, dem Kaiser, der Kaiserin vorgestellt werden! Die Sinne vergehen Einem, wenn man sich das alles nur recht denkt. Und was wetten wir, sie kommt als Braut wieder, oder gar nicht; he?

Richard wurde noch bleicher. Aber was hast Du denn? rief die Amme; komm' doch, ich habe wahrlich keinen Augenblick Zeit. Madame Sommerfeldt ist ausgefahren, um Abschiedsvisiten zu machen, und kommt schwerlich vor Abend wieder,[154] und da sitzt nun Helene ganz allein, und das ist ihr nicht gut. Keine Einzige von uns, nicht einmal ein Kammermädchen, hat in diesem Wirrwarr Zeit bei ihr zu bleiben; ich am wenigsten, denn wie gesagt, auf mir liegt alles. Du mußt ihr Gesellschaft leisten, mache Musik mit ihr, das wird sie aufheitern; und rede ihr zu, lieber Sohn, sie hat immer viel auf Dich gehalten, gewiß Du vermagst alles über sie. Rede ihr zu, damit sie sich fasse, und mir nicht etwa mit dickgeschwollnen Augen an die Tafel kommt; die Fürstin ist heute ohnehin nicht eben in der göttlichsten Laune.

Unter diesem Geplauder der Amme waren sie an die Thüre von Helenas Vorzimmer gelangt. Die Amme öffnete dieselbe, schob Richard hinein, machte hinter ihm wieder zu, und eilte davon, um über die mit Einpacken beschäftigte weibliche Dienerschaft das Regiment zu führen.
[155]

Überwältigt vom ersten Sturme in ihrem Frühlingsleben, war Helene bei Richards unerwartetem Anblicke, von ihrem Sopha herabgleitend, mit einem kleinen Schrei in seine Arme gesunken; sie hielt seinen Nacken umschlungen, wie er neben ihr kniete; das liebliche Köpfchen lehnte an seiner Brust, er fühlte das Wehen ihres Athems, das bange heftige Klopfen ihres Herzens, er sah, dicht vor seinen Augen, das schöne Gesicht von Thränen überströmt, das er noch nie anders als lächelnd gesehen; alles andre um ihn her wurde von der reichen Fülle ihrer langen blonden Locken ihm verborgen, die wie ein dichter Schleier ihn umwallten.

So! so! in diesem Übermaße von Wonne und Schmerz vergehen! war sein einziger Gedanke; wortlos gestaltete er sich in seinem Innern zum heißesten Wunsch, zum glühendsten Gebet. Zum erstenmal hielt sein Arm sie umfaßt; Helenas Wangen, ihre Lippen glühten zum erstenmal[156] dicht an den Seinen. In ihrem Anschauen verloren blickte er regungslos sie an; so still, so frei von jedem irdischen Wunsche, mögen Fromme der Vorzeit, die einer himmlischen Erscheinung gewürdiget wurden, zu ihrer Heiligen aufgeblickt haben.

Ohne sich dessen deutlich bewußt zu sein, hatten Beide aus ihrer knieenden Stellung sich erhoben. Hand in Hand, Auge in Auge, saßen sie schweigend neben einander. Das lange nicht geahnete, hoffnungslose Geheimniß ihres unschuldigen Herzens hatte dieser schmerzliche Augenblick Helenen enthüllt, auch Richard vermochte nicht mehr sich abzuleugnen, was er so lange vor sich selbst zu verbergen gestrebt hatte. Keine Erklärung, kein Geständniß kam über ihre Lippen, ihre Herzen hatten gesprochen, hatten sich verstanden; sie bedurften keiner Worte.

Plötzlich stand Eugen vor ihnen; im ersten Augenblicke fuhr er wie erschreckt zusammen, faßte[157] sich aber schnell wieder; den ernsten traurigen Blick auf den Freund und die Schwester geheftet, stand er ziemlich lange da, ehe einer von ihnen seiner gewahr wurde; laut weinend sank Helena an das Herz des geliebten Bruders.

Mit sanfter Gewalt drängte er sie zurück auf das Sopha, ergriff ihre und Richards Hand, und hielt beide vereint in der Seinen. Auch sein Auge erglänzte in Thränen, auch sein Herz war schwer und beklommen. Ihm war, als ob der undurchdringliche Vorhang der Zukunft sich eine Sekunde lang vor ihm lüften wolle, und schwere Ahnung, bange Besorgniß wollten sich seiner bemeistern. Doch sein froher Jugendmuth, seine ihm angeborne Art, immer das Beste zu hoffen, hielten ihn aufrecht.

O weine nicht so, meine Helena, mein liebes holdes Kind, es bricht mir das Herz, sprach er, und trocknete liebkosend ihre Wange; und Du, mein Bruder, sieh nicht so ungewiß, so zweifelnd[158] mich an, setzte er zu Richard gewendet hinzu. Strebe nicht, Dein Gefühl mir zu verbergen, Du bemühst Dich vergebens; hast Du vergessen, daß ich die Kunst verstehe, in Deiner Seele, wie in einem offenen Buche zu lesen? Arme Helena! Du weinst Deine ersten wahrhaft bittern Thränen, ach! warum mußt auch Du den Schmerz des Lebens so frühe kennen lernen! sprach er leise und gerührt.

Du weißt es also auch schon? hat auch Dir der Vater es erst heute entdeckt, wie mir die Mutter? klagte Helena; Eugen, lieber guter Bruder, ich soll fort von hier, Du auch, wir müssen nach Petersburg, auf lange Zeit, vielleicht auf immer, denn die Amme meint, sie wollen mich dort verheirathen, und Du weißt, die Mutter sagt ihr alles. Richard soll hier bleiben, und ich kann ohne ihn in der großen fremden Stadt nicht sein, ich kann, ich will keinen von Euch Beiden entbehren, auch keinem Dritten angehören;[159] Du und er sind meine Welt. Sie hätten uns, mich und Richard, nicht so an einander gewöhnen, einander nicht so lieb gewinnen lassen sollen, wenn sie uns nicht zusammen lassen wollten! setzte sie, beinahe wie ein trotziges Kind, hinzu.

In welchem Lichte steh' ich jetzt vor Dir, Eugen? sprach Richard; doch wenn Du wirklich noch in meiner Seele, wie in einem offenen Buche zu lesen weißt, so wirst Du Deinen Freund – –

Bedauern? vielleicht; entschuldigen? gewiß nicht; Dich nicht, und auch Helena nicht, denn Ihr seid Beide reinen Herzens und ohne Schuld, unterbrach ihn Eugen; wer könnte mit Euch hadern wollen, weil Ihr nicht stärker seid als die Natur? Die Kleine hat leider recht, setzte er wehmüthig lächelnd hinzu; wollten sie vermeiden, was jetzt geschehen, so hätten sie Euch nicht in so vertrauter Gemeinschaft – aber wie wäre[160] das auszuführen möglich gewesen? Und war es ein Irrthum unsrer Eltern, daß sie nicht gleich bei Zeiten eine Scheidewand errichteten, die jeden von uns in dem ihm vorgeschriebenen Gleise erhielt, so wollen wir sie deshalb nicht tadeln; wir alle Drei verdanken diesem Irrthume eine höchst glückliche Kindheit, eine fröhliche unverkümmerte Jugend, diese holde Blüthenzeit des Lebens, auf die selbst der Glücklichste in spätern Jahren noch mit Sehnsucht zurücksieht. Und ist es denn so ganz unwiderruflich bestimmt, daß diese Blüthen abfallen müssen, ohne uns Früchte zu bringen?

Richard wie Helena fühlten tief im Gemüthe den wohlthuenden Einfluß von Eugens mildem gelassnem Benehmen in einer, für ihn gewiß nicht leicht in allen ihren Folgen zu übersehenden Situation. Die furchtbare Spannung, zu der sie durch das ganz Unerwartete hinauf getrieben worden waren, ließ nach, und sie gelangten allmälig zu einer ruhigeren Stimmung.[161]

Ist jemand unter uns als schuldig zu bezeichnen, so bin ich es, sprach Eugen im Verlaufe des jetzt unter ihnen entstandenen, weniger leidenschaftlichen Gespräches; ich war der Unbefangenere, an mir wäre es gewesen, für Euch Beide zu überlegen, zu bedenken, zwischen Euch vermittelnd einzutreten, Dich zu warnen, mein Bruder, Dich, meine süße Helena, zurückzuhalten, und hätte es auch gewaltsam geschehen müssen. Und doch! was hätte meine Weisheit am Ende gefruchtet? wahrscheinlich so wenig, als alle Weisheit auf Erden, sobald ein mächtigeres Gefühl das Steuerruder ergreift. Nun so sei es darum, das Vergangene sei vergangen, nur von der Zukunft dürfen wir unser Heil erwarten, und ihr nicht nur würdig, sondern auch vorsichtig entgegen treten, keinen Schritt zu viel, aber auch keinen zu wenig. Dies sei von nun an Deine Aufgabe, Richard; die meinige, als treuer Berather und Helfer Dir zur Seite zu bleiben.[162]

O, die Zukunft! was kann, was darf ich Unglücklicher, Namenloser vernünftiger Weise von ihr hoffen oder erwarten? rief Richard.

Alles! habe nur dazu den Muth, erwiederte Eugen. Zur Erreichung eines weit höheren Zieles, als das Deine, von Andern, die in keiner Hinsicht mehr waren als Du bist, wurden in unsrer vielbewegten ereignißreichen Zeit wohl ganz andere Schwierigkeiten besiegt, als die sind, welche Dir im Wege liegen. Soll ich eine Reihe, aus den verschiedensten Ländern stammende Namen Dir nennen, die vor kurzem aus tiefem Dunkel auftauchend, jetzt als leuchtende Sterne auf der nämlichen Bahn glänzen, die Du Dir erwählt hast? Und schüttle nur nicht so ungläubig den Kopf; früher, weit früher als Du denkst, können, werden Ereignisse eintreten, die Dir überflüßige Gelegenheit bieten, auch Deinen Namen jenen glänzenden Erscheinungen, die ich Dir andeutete, anzuschließen.[163]

Zwar hörte Helena sehr aufmerksam auf alles, was ihre beiden Brüder, wie sie dieselben noch immer nannte, sprachen, doch ohne deutlich zu fassen, wie sie es eigentlich meinten. Ihr einfacher Sinn verlangte und erwartete von der Zukunft fürs erste nur, daß sie alles bleiben und bestehen lasse, wie es gewesen, so lange sie denken konnte. Richard täglich sehen, in den nämlichen Verhältnissen wie bisher, war alles was, wie sie wähnte, ihr zum Glücklichsein unentbehrlich war; an eine nähere Verbindung mit ihm kam ihr noch kein Gedanke. Aber die Idee, daß ihre Eltern beabsichtigen könnten, sie in Petersburg zu verheirathen, mit der die Amme sie eingeschüchtert hatte, war ihr unbeschreiblich ängstlich, und sie erklärte schon im voraus ihren festen Entschluß, nie darein zu willigen.

Im Übrigen ergab sie sich mit großer Bereitwilligkeit darein, sich Eugens Leitung ganz zu überlassen; sie versprach ihm, nie, unter keiner[164] Bedingung an Richard zu schreiben. Auch dieser gelobte dem Freunde das Nämliche, der dagegen Beiden verhieß, auch hier als Mittelsperson zwischen ihnen einzutreten, und sie nie ohne gegenseitige Nachricht von einander zu lassen.

Richard und Helena brachten von nun an die, bis zur Abschiedsstunde noch verfließende Zeit, in stetem Schwanken zwischen Wonne und Schmerz hin. Zwar sahen sie sich täglich, doch immer nur für kurze abgerissene Momente; und nur selten mochte es Eugens unermüdlicher Vorsorge gelingen, eine geräuschlose Viertelstunde, die ein ungestörtes Beisammensein ihnen gewähren konnte, ihnen zu gewinnen.


Von nun an schlichen die langweiligen Tage träge und bleiern, in ihrer grauen Farblosigkeit einer dem andern völlig gleich, dem verlassenen Richard vor über. Eugen hielt zwar sein Versprechen,[165] aber wie wenig ist ein Brief für das in Sehnsucht und Ungewißheit zagende Herz! Mehrere Monate vergingen auf diese Weise, Nataliens Hochzeit war längst in Petersburg mit großer Pracht gefeiert, Helena am Hofe vorgestellt, des Winters Annäherung wurde schon merkbar: da endlich fiel ein heller Morgenstrahl in Richards sternlose Nacht; das Regiment, bei welchem er stand, wurde nach Petersburg verlegt, er selbst zu einem höheren Dienstgrade befördert.

Wiedersehn! welch ein Zauber liegt in diesem kleinen Worte! der selbst bis an den Rand des Grabes seine Wunderkraft nicht verliert; der den Sterbenden ermuthigt, und den Zurückbleibenden dem Übermaße des Schmerzes nicht ganz erliegen läßt.

Richards Freude war gränzenlos; Iwan Yakuchin, dem es im Grunde ziemlich einerlei war, ob er in Moskau oder Petersburg lebe, freute[166] ehrlich und treuherzig sich mit ihm, eben nur, weil Richard sich freute; denn er für seinen Theil wäre wohl lieber in Moskau bei seinen Bekannten geblieben, wenn man ihm die Entscheidung überlassen hätte, doch ohne Richard nimmermehr.

Wie alle guten und bösen Stunden des Lebens, ward auch die für Richards glühende Ungeduld höchst peinliche Zeit der Erwartung bis zum Auszuge des Regiments, und der nicht minder ihn fast zur Verzweiflung bringende langsame Marsch, nebst allen damit verknüpften Beschwerden und Unfällen, endlich überstanden. Eugen nahm bei seiner Ankunft in Petersburg seinen Freund sogleich in Empfang, und Richard erlag fast der überwältigenden Freude dieses Wiedersehens, das der Verkündiger eines noch schmerzlicher ersehnten ihm war.

Der Fürst, die Fürstin, Natalia und ihr junger Gemahl, sie alle nahmen mit dem nämlichen[167] herzlichen Wohlwollen, mit welchem sie von ihm geschieden waren, ihren Schützling als ganz zu ihnen gehörend wieder auf. Auch Eugens ältere Brüder fand er in ihrem väterlichen Hause versammelt, und die jahrelange Trennung von den Gefährten seiner Kindheit hatte keinen von ihnen ihm entfremdet. Der älteste, Fürst Isidor, der nur um seine Eltern wiederzusehen, und der Vermählung seiner Schwester beizuwohnen, nach Petersburg gekommen war, suchte auf das Freundlichste ihn zu ermuthigen, und ging auf mehr als halbem Wege dem Jünglinge entgegen, den er vor vielen Jahren in seinem väterlichen Hause als Kind gesehen, und der beim ersten Anblick der ihm ganz fremd gewordenen, imposanten Gestalt des schönen jungen Mannes, zögernd und verlegen vor ihm stand. Anders war es mit dem Fürsten Alex, Eugens zweitem Bruder, welcher in der Zeit ebenfalls zu einem recht stattlichen Marineoffizier sich entwickelt[168] hatte. Dieser war durch die größere Gleichheit ihres Alters Richarden schon früher weit näher gebracht, als der von Jugend auf ernste weit ältere Bruder, der immer von den jüngern Knaben wie eine Art Respektsperson betrachtet worden war. Mit recht treuherziger Beredsamkeit sprach Alex seine Freude über das Wiedersehen seines alten Spielkameraden aus; manch lustiges Ereigniß aus ihrer frühen Knabenzeit kam unter den Beiden gleich in der ersten Stunde wieder zur Sprache; Eugen verfehlte nicht, lebhaften Antheil daran zu nehmen, und unter fröhlichem Geplauder, unter Lachen und Scherz, fühlte Richard zum erstenmal seit langer Zeit sich wieder zu Hause, unter den Seinen.

Helena allein war bei Richards Empfange im Kreise ihrer Familie nicht zugegen gewesen; denn Eugen hatte unter einem leicht zu findenden Vorwande die nichts ahnende Schwester vom Hause entfernt gehalten. Richard war[169] darauf vorbereitet gewesen sie nicht zu finden, und mußte, wenn gleich mit schwerem Herzen, die Vorsicht des treuen Freundes billigen, die beide der schweren Aufgabe entziehen wollte, ein solches Wiedersehen vor Zeugen zu bestehen, ohne ihr eignes theuerstes Geheimniß zu verrathen; um so heftiger aber war Helenas Zorn, als sie Eugens Verrath, wie sie es nannte, bei ihrer Zuhausekunft erfuhr. Sie blieb die ganze, in schlafloser Erwartung zugebrachte Nacht hindurch unversöhnlich, bis Morgens, zur gewohnten Stunde, der Freund von ihrem Bruder geleitet in ihr Zimmer trat. Er fand, wie vorauszusehen war, sie allein.

Ein Wiedersehen wurde gefeiert, das unbeschrieben bleiben mag. Nicht Jahre, nur Monate lagen zwischen dieser Stunde und der des Scheidens, aber um so wunderbarer mußte die auffallende Veränderung erscheinen, die während dieses kurzen Zeitraums mit der jungen[170] Fürstin vorgegangen war. Ohne an süßem Liebreitze oder anspruchsloser Natürlichkeit dadurch zu verlieren, war das fröhlich-unbefangne Kind, wie durch einen Zauberschlag, zur lieblichsten Jungfrau erblüht. Helena schien größer geworden zu sein, ihr Auge strahlender; ihre Gestalt hatte in seltener Vollkommenheit sich entwickelt. Alles an ihr, ihr Gang, ihr Blick, der Ton ihrer Sprache, deutete bei liebenswürdigster Anmuth auf eine eigne Sinnesfreiheit, ein Selbstbewußtsein, eine Sicherheit des Geistes hin, die bei ungeheuchelter Bescheidenheit zu einer der blendendsten Erscheinungen sie erhob. So durchbricht während einer einzigen lauwarmen Frühlingsnacht die junge Rose die sie verbergende grüne Umhüllung, und entzückt alle Augen und Herzen, indem ihre der Knospe entquellenden Purpurblätter die hohe Pracht verkünden, die sie später, in duftendem Schimmer völlig erblühend, vor der Sonne entfalten wird.[171]

Du siehst so verwundert, so befremdet mich an? fragte Helena lächelnd, sobald der erste, jeden andern Gedanken überwältigende Freudentaumel es erlaubte.

Und kann ich anders? erwiederte Richard: ich sehe Dich, ich halte Dich; Du bist es und Du bist es nicht. Entzückt, betäubt stehe ich vor Dir; Du bist mir so bekannt und doch so fremd. Ich möchte anbetend vor Dir hinknieen, wie vor einem Wunderbilde, das vor meinen geblendeten Augen ein Götterhauch von oben belebte. Helena, sage mir, was ist mit Dir vorgegangen?

Was soll denn mit ihr vorgegangen sein? sie hat die Kinderschuhe ausgezogen und ist eine große vornehme Dame geworden, wie es ihr denn auch nicht anders gebührt. Am Hofe wie in der Stadt wird sie allgemein bewundert und verehrt; da muß sie doch wohl den Kopf ein wenig höher halten als sonst? rief eine laute, etwas[172] kreischende Stimme dazwischen. Es war die Amme, die sich herbei drängte, um auch ihrerseits den lange nicht Gesehenen zu begrüßen, und die beim Eintritte in das Zimmer Richards letzte Worte, aber auch nur diese, gehört hatte.

Ja so ist es, die alte Pythia hat wahr gesprochen, seufzte Richard, nachdem die Amme sich wieder entfernt hatte. Du schöner Stern! Du wandelst in aller Deiner glanzvollen Herrlichkeit hoch über mir, auf Deiner Dir gemessenen Bahn; bewundernd blickt eine Welt anbetender Verehrer zu Dir auf; sie alle, vor nehm, reich, brillant, wie Du selbst es bist, dürfen Dir folgen, Dir dienen, um Deine Huld sich bewerben, während ich armer dunkler Erdensohn im Staube, unbemerkt, tief unter ihnen und Dir – –

Kein Wort weiter, kein einziges dieser Art mehr, wenn Du nicht absichtlich mich erzürnen willst, gebot ihn unterbrechend Helena, und richtete sehr ernst sich hoch empor. Was sollen[173] solche Jämmerlichkeiten zwischen uns? kennst Du mich so wenig? fuhr sie sehr lebhaft fort. Ich kann und will Dir nicht heucheln, denn ich bin von Natur jeder Lüge abhold; ich kann Dich nicht glauben machen wollen, daß ich nicht gern bin was ich bin, oder daß ich lieber in einer Hütte leben möchte, als im Palaste meiner Eltern. Ich wäre ein unnatürliches Geschöpf, wenn ich nicht lieber Gefallen als Mißfallen erregte, wenn Tanz, Musik und aller Glanz, der mich umgiebt, mir keine Freude machten, und darf von Dir fordern, daß Du diese Freude gern mir gönnst. Denn Du mußt mir vertrauen wie ich Dir vertraue, und keine armselige Eifersüchtelei darf zwischen uns treten. Im Herzen bin ich Dein, und bleibe es, denn ich kann nicht anders; Du gehörst zu mir, wie ein Theil von mir selbst; dies Gefühl ist mit mir aufgewachsen; ich kann mir gar nicht denken wie es wäre, wenn ich Dich nicht hätte oder nie gehabt[174] hätte. So bleibt es, daran laß' Dir genügen; mag es übrigens um uns her werden wie es wolle, ich bleibe wie ich bin.


Auch in Petersburg, wie früher in Moskau, war Iwan Yakuchin Richards treuer Freund geblieben. Die heitre Gegenwart des stets lebenslustigen Gesellen trug nicht wenig dazu bei, ihm über manche dunkle Stunde hinaus zu helfen, deren er jetzt leider nicht wenige zählte. Tage, ja Wochen vergingen, während welchen Helena und selbst Eugen, hingerissen von dem geräuschvollen Treiben der großen Welt, in deren Mitte sie jetzt lebten, ihm kaum einige, gleichsam im Fluge zu erhaschende Augenblicke schenken konnten. Der Abstand zwischen sich und ihnen ward ihm dann so fühlbar, so drückend, daß er darüber in Trübsinn und Hoffnungslosigkeit rettungslos hätte untergehen müssen, wäre Iwan[175] mit seiner unversiegbaren Fröhlichkeit nicht dazwischen getreten, und hätte ihn zu Vergnügungen fortgerissen, die ihm zwar wenig Genuß, aber doch Zerstreuung gewährten.

Auf diese Weise gerieth Richard auf Kaffeehäusern, in Restaurationen und an ähnlichen Orten in eine zahllose Menge von Bekanntschaften, von denen nur sehr wenige seinem verfeinerten Gefühle für Geselligkeit zusagen konnten. Doch um so weniger durfte er es wagen, seinen gar zu treuherzigen Freund ihnen allein zu übergeben. Der gutmüthige, nichts weniger als argwöhnische Iwan hatte sich sogar schon einigemal an Orte verlocken lassen, wo in Vergnügen verkleidete Raubsucht in tiefer Verborgenheit ihr wüstes Wesen treibt, und nur Richards Gegenwart war es gelungen, den Unvorsichtigen aus ihren Klauen zu befreien, und ihn vor allerlei andern gefährlichen Abenteuern zu bewahren.[176]

Eines Abends gingen beide Freunde mit eintretender Dämmerung Arm in Arm ihrer Wohnung zu. Es war um die Zeit, wo der Winter dem im Norden mit rascheren Schritten heraneilenden Frühlinge zu weichen beginnt; die Newa hatte ihre starre Eisdecke abgeworfen, der Schnee war verschwunden, und ein scharfer Ostwind hatte, selbst in dem sehr abgelegenen, etwas verrufenen Quartiere der Stadt, in welchem sie sich eben befanden, das Labyrinth von engen Gäßchen gangbar gemacht, das nur selten der Fuß der Bewohner der breiten prächtigen Straßen von Petersburg zu betreten pflegte.

Beide Freunde befanden sich eben in keiner rosenfarbnen Stimmung. Richard, durch einen glücklichen Zufall geleitet, hatte abermals seinen leichtsinnigen Schützling in einem der berüchtigtsten heimlichen Spielvereine aufgefunden, und ihn mit sich fortgeführt. Er war in einer sehr nachdrücklichen Strafpredigt begriffen, die Iwan,[177] in seiner großen Unzufriedenheit mit sich selbst, geduldig und reuevoll über sich ergehen ließ, denn er hatte so eben den größten Theil seiner Baarschaft am grünen Tische zurückgelassen. Einige demüthige Versprechungen sich zu bessern waren alles, was er seinem zürnenden und beredten Freunde entgegenzustellen wagte; doch er hatte diese schon zu oft geleistet, und zu oft gebrochen, um einen gewichtigen Eindruck davon hoffen zu können.

Endlich wurde er aber doch des bloßen Anhörens müde: Es geht nicht mit rechten Dingen zu, ich sage Dir ich bin behext, rief er sehr lebhaft. Richy, Du weißt es ja selbst, daß ich am eigentlichen Spielen nicht mehr Freude habe als Du. Wenn es auch anfänglich mich amüsirt, es wird mir immer gleich wieder langweilig, besonders wenn ich gewinne. Anderer Leute Gold einzusäckeln schäme ich mich, ich spiele weiter fort, um es wieder los zu werden; dann[178] geht gemeiniglich auch mein eigenes mit zum T....l, das verdrießt mich, ich spiele weiter, um es wieder zu bekommen, und so wird das Übel immer ärger. Daß man mit solchen Gesinnungen kein Spieler vom Fach werden kann, siehst Du doch ein. Aber ich will mich bessern, das schwöre ich Dir zu, Richy; wenn nur die lustige Gesellschaft mich nicht lockte, ich rührte zeitlebens weder Karte noch Würfel an.

Die lustige Gesellschaft? eiferte Richard: wahrhaftig eine saubere Gesellschaft! Giebt es in der Welt ein abstoßenderes Gesicht, als das im braunen Überrocke, das Dir heute schon zum drittenmal gegenüber saß. Ich meine den großen starken Mann, mit der grünen Brille vor den Augen. In seinem Wesen liegt etwas, das ihm das Ansehen eines Mannes von Stande giebt.

Das ist er aber auch, fiel Iwan, froh dem Gespräche eine andere Wendung geben zu können, hastig ein; sie nennen ihn alle Herr Baron,[179] seinen Namen habe ich aber noch nicht erfahren können.

Sei er was und wer er wolle, sprach Richard sehr unmuthig, er ist mir tief in der Seele zuwider. Was man eigentlich häßlich nennen könnte ist er nicht, aber sein versteinertes Gesicht sieht wie der verödete Wahlplatz aller nur möglichen gehässigen Leidenschaften aus, die jemals eine enge Menschenbrust durchtobten. Nimm dazu den gleißenden Heuchlerschein, mit dem er seine innere Verworfenheit zu überkleistern strebt; recht wie ein getünchtes Grab, von außen Schaumgold, von innen Greuel der Verwesung. Dich in seiner Nähe zu sehen, kann ich nun einmal gar nicht ertragen.

Still! denk' an das Sprichwort vom Wolf; wenn nicht alles mich täuscht, biegt er dort, zwanzig Schritte vor uns, um die Ecke, flüsterte Iwan, und strengte seine, durch das frühere Leben im Gebirge mit der Schärfe eines Wilden[180] begabten Augen und Ohren an, um die neblige Dämmerung die vor ihm lag zu durchdringen. Richard sah nur undeutliche Umrisse einer vor ihnen sich bewegenden Gestalt. Ich höre seine Stimme, ich höre auch eine weibliche klagende; schnell, da müssen wir hin, rief Iwan plötzlich, und riß seinen Freund im Sturmschritt mit sich vorwärts.

Sie erreichten in wenig Secunden eine seltsame Gruppe; eine schlanke, jugendliche, in Mantel und Schleier sittsam verhüllte Gestalt, eine kurze, dicke, theatralisch bunt aufgeputzte ältliche Frau von durchaus nicht einladendem Äußern, und neben ihnen den eben besprochenen Baron, der eben hinzutrat. Das Mädchen zitterte in sichtbarer Angst, die Alte keifte, der Baron suchte mit einschmeichelnder Rede das Mädchen zu beruhigen.

Ich danke Ihnen sehr, gewiß ich bin Ihnen recht dankbar, liebe Madame, sprach es fast weinend[181] in gebrochnem Russisch; aber lassen Sie sich erbitten, und nennen mir endlich den Namen der Straße, wohin ich will und Sie die Güte haben wollen, mich zu führen; ich habe ihn zwar vergessen, aber ich besinne mich gleich wieder darauf, wenn ich ihn höre; es ist nur, damit ich gewiß weiß, daß Sie sich nicht vergebliche Mühe mit mir machen.

Was für Umstände! was denken Sie denn, wofür halten Sie mich? meinen Sie ich hätte Zeit und Lust, stundenlang hier mit Ihnen zu verweilen? erwiederte mit harter keifender Stimme die Alte. Wenn ich Ihnen nun sage, Herr Lange ist mein guter Bekannter und nächster Nachbar, ist das nicht genug? Kurz und gut, Jungfer, entweder Sie gehen mit mir, oder Sie bleiben hier allein, mitten unter dem betrunkenen Volke, das gleich hier aus den Branntweinskneipen herauskommen wird.

Frau Marina ist heftig, aber grundgut, sie[182] ist meine alte Freundin, und Sie können sich ihr sicher anvertrauen, nahm jetzt der Baron das Wort.

Ach, ich fürchte mich so! seufzte das Mädchen.

Aber wovor? fragte der Baron, der erst seit ein paar Minuten den beiden sich zugesellt hatte; ich höre an Ihrem Dialekte, daß Sie eine Deutsche sind, und so bitte ich Sie, vertrauen Sie dem Worte eines Landsmannes Sie sind unter Freunden, fuhr er in deutscher Sprache fort, die gute. Frau wird Sie sicher führen. Ich selbst will sie beide begleiten, setzte er in russischer Sprache hinzu, der Weg ist zwar ein wenig weit, aber wir treffen wohl bald einen Wagen –

Ach, mein Herr, weit von hier kann es nicht sein, das ist nicht möglich, unterbrach ihn das Mädchen; ich habe mich verirrt, und kann mich allein nicht wieder zurecht finden, aber ich bin gar nicht lange gegangen; weit von Hause bin ich gewiß nicht.[183]

Wenn man in der Angst vorwärts läuft, zählt man weder Schritte noch Minuten, erwiederte der Baron, daher nehmen Sie nur ganz unbesorgt den Arm an, den die gute Frau Marina Ihnen bietet, und lassen Sie uns machen, daß wir fort kommen.

Zwar unter Zittern und Zagen, aber doch hingerissen von dem vaterländischen Laute, war das Mädchen wirklich schon mehr als halb entschlossen, diesem Rathe zu folgen, als Iwan plötzlich dazwischen trat.

Halt! rief er; auch ich kenne die gute Frau Marina, wenn gleich nur dem Rufe nach; doch das ist genug, um nimmer zugeben zu können, daß eine junge Dame, wie Sie, mit ihr geht. Hier steht mein Kamerad, wir beide sind bereit Sie hinzuführen, wohin Sie wollen, aber mit der da, wenn Ehre und – –

Wahrhaftig ein paar treffliche Begleiter, die sich Ihnen so ganz unverhofft anbieten, schrie[184] die Alte laut auflachend: nun Jüngferchen, Glück zu, wenn Sie etwa lieber bei Nacht und Nebel mit ein paar jungen Militärs die Stadt durchziehen wollen, als mit einer ehrbaren Frau gehen – –

So bin ich wenigstens noch da, um mich meiner Landsmännin anzunehmen, und werde solch einen Scandal nimmermehr zugeben, rief der Baron, und trat auf die beiden Freunde zu, während das geängstete Mädchen jetzt wirklich anfing laut zu weinen. Wie, Ihr Herren, was unterfangt Ihr Euch, fuhr er fort, eine junge Dame auf öffentlicher Straße – wißt Ihr wohl wer und was – –

Was giebt es hier? Worüber weint die junge Person? erscholl plötzlich eine wohltönende, gebietende Stimme. Ein großer, in Mantel und Hut tief verhüllter Mann, der schon lange in einiger Entfernung den beiden Freunden gefolgt war, und wahrscheinlich ihr Gespräch, wenigstens[185] zum Theil mit angehört hatte, stand mitten unter ihnen; alles schwieg, betroffen von der eben so unerwarteten, als imposanten Erscheinung.

Sagen Sie mir, was Sie so traurig macht, Mademoiselle? vielleicht kann ich helfen, wiederholte mild aber ernst der Unbekannte. Wer sind Sie, wie heißen Sie? fragte er nochmals, als er von dem erschrockenen Mädchen keine Antwort erhielt.

Ach ich weiß nicht, ich weiß nicht, ich bin hier fremd, und habe in der großen Stadt mich verloren, schluchzte das Mädchen besinnungslos.

Nun wie Sie heißen, und bei wem Sie wohnen, werden Sie doch wissen; denken Sie nur ein wenig nach, erwiederte der Unbekannte mit einem gewissen Tone der Stimme, der deutlich verrieth, daß es ihm schwer werde, das Lachen zu unterdrücken.

Mittlerweile war das furchtsame Kind doch wieder zu einiger Fassung gelangt. Ich heiße Julie[186] Reinert, sprach sie rasch und ängstlich hinter einander weg; ich habe keine Eltern, mein Vormund hat mich von Königsberg hieher zu seinem Bruder, dem Musiker Lange geschickt; ich bin erst seit vier Tagen hier; ich habe die Schwester der Frau Lange besucht, und habe auf dem Rückwege mich verirrt.

Also bei dem Pianofortisten Lange wohnen Sie? erwiederte der Unbekannte sehr freundlich; ich kenne ihn, und auch seine Frau; sie war früher eine sehr beliebte Sängerin bei unserm deutschen Theater. Fassen Sie Muth, mein Kind, Sie sind bei braven Leuten. Aber was hatten denn Sie, Madame, mit diesem jungen Frauenzimmer zu streiten? fragte er im Verhör fortfahrend, und wollte an Frau Marina sich wenden, doch die Stelle, wo diese gestanden, war leer, sie sowohl als der Baron waren mittlerweile unbemerkt verschwunden. Hatte der Wind das edle Paar durch die Lüfte fortgeführt? hatte[187] die Erde es verschlungen? keine Spur davon war weder hörbar noch sichtbar.

Sonderbar! sprach der Unbekannte vor sich hin; es waren ihrer zwei, wo sind sie hin? kannten Sie diese Leute? und wer waren sie? fragte er, an den ihm zunächst stehenden Richard sich wendend.

Nur von Ansehen, versicherte dieser in seinem und seines Freundes Namen.

Es lag in der Gestalt, im Wesen, in der Sprache des Unbekannten etwas seltsam Überwältigendes, Ehrfurcht und Gehorsam Gebietendes, dem weder Richard noch Iwan zu widerstehen vermochten. Offen und wahr gaben beide ihm alle Auskunft über sich selbst, die er verlangte. Auch Julie Reinert wurde ruhiger, als fühle sie sich unter der Obhut eines mächtigen, ihr wohlwollenden Beschützers. Auf seinen Befehl überließ sie sich ohne Weigerung der Führung der beiden jungen Männer, denen er den[188] Weg zu der wirklich nicht sehr entfernten Wohnung des Musikers Lange deutlich beschrieb. Noch heute werde ich mich erkundigen lassen, ob das Ihrem Schutze empfohlene Frauenzimmer sicher zu Hause gekommen ist; übrigens sind auch Ihre beiden Namen mir nicht fremd, rief er beim Fortgehen mit ernstem Nachdruck den Freunden noch zu, und war nach wenig Augenblicken den ihm nachschauenden Augen, in der schon zur Nacht sich verdickenden nebelhaften Dämmerung verschwunden.

Still und schweigend gingen alle Drei raschen Schrittes den ihnen angedeuteten Weg, und gelangten, ehe sie es vermutheten, aus dem verworrenen Labyrinthe der engen Gäßchen in eine der breiten, hell erleuchteten und volkreich belebten Straßen von Petersburg, ganz nahe an Herrn Langes Wohnung.

Ist mir doch als hätte ich lebendigen Leibes, mit weit offenen Augen, ein Mährchen erlebt,[189] wie man sie sonst wohl auf dem Theater nur aufführen sieht, fing Iwan jetzt an. War es doch als stünde ein mächtiger Zauberer vor uns, dem wir gehorchen und Rede stehen mußten, wie er es verlangte. Und wo sind nur der Baron und die saubre Frau Marina hingekommen? Begreifst Du etwas von dem Allen, Richy? Du bist doch sonst immer viel verständiger als ich.

Es wäre gewiß verzeihlich, wenn man sich hier verleitet fühlte, an eine überirdische Erscheinung zu glauben, die der Unschuld sich annimmt, und böse Geister verscheucht. Wer kann dieser Unbegreifliche sein? erwiederte Richard nachdenklich.

Mein schützender Engel in Menschengestalt! frohlockte Julie Reinert, die, seit sie jenes Gewinde enger Gäßchen hinter sich gelassen hatten, ganz getrost worden war. Ein kleiner, in Mütze und Pelz wohl verwahrter, mit einem keulenartigen Stocke und einem Regenschirme wohl bewaffneter[190] Mann, trat in diesem Augenblicke ganz keck auf sie zu; Julie, sobald sie ihn gewahrte, warf mit einem Freudensprunge sich ihm in die Arme, so daß der Kleine Stock und Regenschirm darüber fallen lassen mußte.

Bist Du es? bist Du es auch ganz gewiß? rief er auf deutsch, und zog sie vorwärts, um beim Schein einer Straßenlaterne sie besser zu betrachten. Ja Du bist es, Du desertirter Kanarienvogel, herein mit Dir in Deinen Käfig; ob Du uns Noth gemacht hast, Du malitiöse Person! Jetzt eben jagte Frau Karoline mich zum Hause hinaus, ohne Dich soll ich ihr nicht wieder vor die Augen kommen. Aber ist das auch eine Art? bis in die sinkende Nacht, so ganz allein – aber wo ist mein Schirm und mein Stock – ei da sind ja auch ein paar Herren, also nicht ganz allein? Guten Abend, meine Herren, wen habe ich die Ehre zu sprechen? damit stellte der kleine bepelzte Mann sich kerzengerade,[191] dicht vor die beiden Freunde, in einer etwas herausfordernden Stellung hin.

Mühsam des Lachens sich erwehrend, beantworteten Iwan und Richard auf das Höflichste die an sie ergangene Frage; berichteten dann in wenigen Worten, wie sie die junge Dame in einiger Verlegenheit getroffen, weil sie sich nicht nach Hause zu finden gewußt, wie sie sich ein Vergnügen daraus gemacht hätten, sie sicher zu begleiten, und wie sie sich jetzt empfehlen wollten, indem sie das Fräulein in Sicherheit bei den Ihrigen sähen.

Aber der Kleine wollte das nicht erlauben; halt, rief er, das gilt nicht; wie der Fuchs vom Taubenschlage wegschleichen, ohne förmlichen Bericht? ohne schuldige Danksagung von unsrer Seite, wollte ich sagen; setzte er sich besinnend hinzu. Die da lacht zwar jetzt, aber das soll ihr schon vergehen, wenn die gestrenge Hausfrau dort oben ein schweres Gericht über sie[192] ergehen lassen wird, wie sie es denn nicht anders verdient.

Die gestrenge Hausfrau, wie Herr Lange seine eigene hübsche Frau nannte, erschien in diesem Augenblicke selbst; ein allerliebstes, kugelrundes Figürchen, nicht zu jung, nicht zu alt. Sie lachte und weinte, sie schalt und liebkoste Julien, alles das in einem Athem, indem sie dieselbe in Empfang nahm. Unter ununterbrochenem liebenswürdigem Geschwätz eilte sie mit ihr ins Haus, die Treppe hinauf, ins Zimmer hinein; dankte zehnmal den Begleitern ihres Lieblings, versicherte, gleich morgenden Tages der Schwester einen derben Leviten lesen zu wollen, weil sie die Kleine habe allein gehen lassen, schilderte die Todesangst, die sie über das lange Außenbleiben derselben inzwischen ausgestanden, schalt ihren Eheherrn einen Träumer, weil er sich nicht rechtschaffen mit ihr geängstiget habe, wie es doch seine Pflicht wäre, schäfftelte dabei immer im[193] Zimmer umher, und kam nicht eher zur Ruhe, bis Alle um den schneeweiß bedeckten runden Tisch geordnet saßen, und der Duft des köstlichen Karavanen-Thees, wie man nur in Rußland ihn trinkt, die Luft mit Wohlgeruch erfüllte.

Nun ging es an ein Fragen ohne Ende, bis Julie sich erbot, alles getreulich zu berichten, wenn man nur ein ruhiges Anhören ihr gewähren wolle. Der Uranfang alles Unheils an diesem verhängnißvollsten Abende ihres ruhigen kurzen Lebens, war ein nicht bedeutendes Unwohlsein der Schwester der Frau Lange gewesen. Der Weg zu der Wohnung der guten Dame war nicht weit, Julie hatte einigemal, freilich nicht unbegleitet, ihn zurück gelegt; und um die Kranke nicht ihrer Bedienung zu berauben, hatte sie es gewagt, sich allein nach Hause finden zu wollen.

Es war noch ziemlich heller Tag, als ich zum Hause hinaustrat, sprach Julie, aber ich muß gleich anfangs es versehen haben, denn ich[194] war noch gar nicht weit gegangen, als ich gewahr wurde, daß ich in einer mir ganz unbekannten Gegend der Stadt mich befand; ich wollte wieder zur Tante zurück gehen, aber ich gerieth aus einem engen Gäßchen in das andre. Es wurde neblig, es wurde dunkel, es wurde immer dunkler, Angstschweiß trat mir auf die Stirne, das Herz schlug mir unbändig, hoch und immer höher bis in die Kehle hinauf. Ich lief herum, und wieder herum, bis zum schwindlig werden; wohl zehnmal kam ich immer wieder auf den nämlichen Fleck zurück, ich konnte nicht rückwärts, nicht vorwärts, ich wußte weder ein noch aus. Einige Russen mit langen Bärten traten aus einem kleinen hölzernen Hause heraus; bis jetzt war ich noch keinem einzigen Menschen begegnet, hatte auch fast kein Haus gesehen, denn ich war meistens zwischen hohen Hof- oder Gartenplanken umhergeirrt. Die Männer sahen mich an und lachten mich aus, wie[195] ich so da stand, zitternd vor Angst. Ich wollte mir aber doch ein Herz fassen, und mein bischen Russisch zusammennehmen, um sie um den Weg zu befragen: da entdeckte ich mit einemmal, zu meinem unsäglichen Schrecken, daß ich in der Angst den Namen der Straße, in der wir wohnen, rein vergessen hatte. Die Männer gingen weiter, ich gab mich nun ganz verloren, tausend Schreckbilder drangen auf mich ein, meine Kniee brachen unter mir zusammen, ich sank auf einen Stein, und weinte bitterlich, wie ein kleines Kind.

Ausbrüche des herzlichsten Mitleids brachten hier eine kleine Pause in der Erzählung hervor. Dann sprach Julie weiter:

Wie lange ich so gesessen weiß ich nicht, ich war kaum mehr meiner Sinne mir bewußt. Man ergriff meine Hand, das brachte mich wieder zu mir selbst; eine ältliche Frau stand vor mir, wo sie hergekommen sei wußte ich nicht,[196] mir erschien sie, in dem Augenblicke, wie ein Engel vom Himmel gesandt.

Die berüchtigte Frau Marina war der Engel, der, als wir dazu kamen, eben im Begriff war, das Fräulein in sein Paradies abzuführen, setzte Richard hinzu.

Bei diesem Namen schrieen Lange und seine Frau laut auf. O über die schändliche, verworfene Kreatur! rief er: Julie, arme Julie, was wäre aus Dir geworden, hätte sich diese Deiner bemächtigt! Nie, oder mit Schimpf und Schande bedeckt, hätten unsere Augen Dich unglückliches Kind wieder gesehen. Wie nur die weise Regierung, wie nur der liebe Gott selbst, einen solchen Höllenpfuhl wie ihr verruchtes Haus mitten in der schönen Stadt dulden kann! Aber man behauptet ja offen, solche Krebsschäden wären großen Städten als Abzugsmittel unentbehrlich.

In diesem Augenblicke wurde Herr Lange[197] zu jemanden abgerufen, der ihn zu sprechen verlangte, und sich durchaus nicht wollte abweisen lassen; er folgte sehr widerwillig dem Rufe; nur kein Wort weiter, kein einziges, bis ich wieder da bin, bat er im Gehen. In augenscheinlicher heftiger Bewegung, bleich, erschrocken kehrte er nach einiger Zeit in das Zimmer zurück, und doch schien ein Strahl innerer Freude aus seinen Augen zu leuchten. Alle sahen verwundert ihn an, wie er, keines Wortes mächtig, neben Julien hintrat, und ihre Hände ergriff, indem er ihr forschend ins Gesicht sah.

Julie, sprach er endlich, was hast Du mit dem Kaiser? oder vielmehr, was hat der Kaiser mit Dir? Julie sah bestürzt und ängstlich zu ihm auf.

Seine allerhöchste Majestät, der große Czaar Alexander, der unumschränkte Herr und Gebieter aller Reußen, läßt sich erkundigen, ob die Herrn Richard Wood und Iwan Yakuchin[198] Dich kleines unbedeutendes Persönchen heute Abend sicher und wohlbehalten nach Hause geleitet haben: sprach Lange, so feierlich als möglich. Wie geht das zu? gieb gleich Rede und Antwort! setzte er gleich darauf nach seiner gewohnten lebhaften Art hinzu.

Nun? Du sprichst kein Wort? so laß uns wenigstens das Ende Deiner Abenteuer vernehmen, rief er heftig aufstampfend, als alle verwundert ihn ansahen und Niemand begriff, was er eigentlich meine.

Julie erzählte: Er war es! er war es! Er war es selbst, rief Lange überlaut, ergriff das erschrockene Mädchen, walzte singend und jubelnd mit ihr im Zimmer herum, rückte Tische, Stühle und was ihm im Wege stand, von seiner Stelle fort, so daß das Zimmer in kurzem aussah, als ob Meublesauction darin gehalten werden sollte, gerieth endlich über einen widerspenstigen Nähtisch seiner Frau in's Stolpern, und sank dann[199] athemlos einem Lehnstuhl in die Arme; Iwan und Richard sahen verwundert dem Unwesen zu, Frau Lange aber, die ihren Mann besser zu begreifen schien als die Übrigen, saß in einer Ecke und weinte helle Freudenthränen.

Julie, was bist Du für ein Mädchen! ich bitte Dich um tausendgotteswillen, geliebte Seele, sei kein Klotz! fing Lange wieder an, als er zu Athem gekommen war: ich bitte Dich inständigst, werde vor Freude wenigstens so toll wie ich. Begreifst Du es denn noch immer nicht? der Kaiser war Dein Unbekannter, der Kaiser selbst; gleich fall' auf Deine Kniee und danke dem Himmel für die Ehre, die er Dir angedeihen ließ. Der Kaiser hat mit Dir gesprochen, hat für Dich gesorgt, denke Dir das! er hat der Obhut dieser beiden Herrn Dich empfohlen, und jetzt sogar sich Deiner noch erinnert. Und Ihr, Ihr Herrn Militärs, Die Ihr mit bedenklichen Gesichtern stumm dasteht, fühlt[200] Ihr denn gar nicht, was auch Euch heute Großes wider fahren ist? Aber sagt mir nur, wie ging es zu, daß Ihr nicht gleich ihn erkannt habt? zwar war es nicht mehr ganz heller Tag, aber den da, dächte ich, sollte man auch in finsterer Nacht erkennen können; so wie er sieht nicht leicht ein gewöhnliches Menschenkind aus.

Aber bedenken Sie doch den Ort, die Tageszeit, und alle übrigen Umstände; Sie irren gewiß, es ist ja nicht möglich, wandte Richard ein.

Haben Sie jemals den Kaiser gesehen? fragte Lange ärgerlich.

Nur zweimal, von Ferne, bei der Revüe, und zwar zu Pferde: war die Antwort.

Bah! das will nicht viel mehr als gar nichts sagen, erwiederte Lange den Kopf aufwerfend; ich habe dreimal dicht vor ihm gestanden, und er hat zu mir gesprochen, so leutselig! und hat mir, als ich einmal mich vor ihm hören ließ,[201] eine herrliche Dose geschenkt, Karoline soll sie Ihnen zeigen.

Julie wurde jetzt aufgefordert, die Gestalt ihres Befreiers zu beschreiben; sie that es, so gut und so umständlich, als Angst und Dunkelheit ihr erlaubt hatten, dieselbe aufzufassen.

Es ist nicht mehr daran zu zweifeln, alles trifft aufs Genaueste zu; es war der Kaiser, rief Lange; und wie wäre es denn zu erklären, daß er kaum eine Stunde nach Juliens Heimkehr hier nachfragen ließ? nach Julien, deren Existenz sogar bis jetzt ihm unbekannt ge blieben, setzte Frau Lange hinzu: wie hätte ein solches, für jeden, außer uns, im Grunde unwichtiges Ereigniß, so schnell bis zu ihm gelangen, und er so lebhaft dafür sich interessiren können?

Dieses war freilich ein Grund, gegen den sich wenig einwenden ließ. Aber der Kaiser, ohne alle Begleitung, ganz allein, bei sinkender Nacht, in jenem abgelegenen verrufensten Winkel[202] der Stadt? es ist kaum denkbar! wandten Richard und Iwan noch immer etwas ungläubig ein.

Nehmt mir's nicht übel, ihr Herrn, aber das schwatzt wie ein neugebornes Kind, sprach Lange; Ihr müßt in unsrer Kaiserstadt noch gewaltig neu sein, wenn Ihr nicht schon gehört habt, was jeder Narr hier weiß: daß nämlich der große Czaar Alexander, gleich seinem Vorgänger, dem großen Kalifen von Persien, – Dings da, wie hieß er gleich? nun gleichviel! – daß nämlich unser Kaiser, den Gott erhalte, zuweilen, und zwar nicht selten, unbegleitet, ganz einfach angethan, meistens unerkannt, bei Tage wie bei Nacht, unter seinen Unterthanen umher wandelt. Aber nicht etwa um, wie jener Kalif, auf Abenteuer auszugehen; nein es ist wie Goethe sagt,


Soll er strafen, soll er lohnen,

Muß er Menschen menschlich sehn.


Und denken Sie dabei nur nicht an Gefahr[203] für ihn, setzte Frau Lange freudig bewegt hinzu; der milde, der gerechte, der allgeliebte Vater seiner Unterthanen, für den jeder unter uns willig das Leben lassen würde, was hätte er unter seinen Kindern zu fürchten!

Eine Magd trat in diesem Augenblicke ins Zimmer: Katinka, rief Frau Lange ihr zu, der Kaiser hat Julien begegnet, als sie in Angst war, weil sie sich nicht nach Hause zu finden wußte; er hat freundlich mit ihr gesprochen, und sie, von diesen Herren sicher begleitet, zu uns führen lassen.

Freudig erstaunt schlug Katinka beide Hände zusammen, küßte Juliens Kleider, ihre Hände, und eilte hinaus. Gleich darauf hörte man die ganze Dienerschaft des Hauses im Vorzimmer laut werden, Katinka erzählte, alle jubelten über den menschenfreundlichen Kaiser, fast jeder unter ihnen wußte einen ähnlichen Zug von ihm vorzutragen, sie priesen und segneten ihn ohne Ende.[204]

Sehen Sie, so finden Sie es überall. Keine Hütte ist so klein, kein Russe so arm, daß nicht Czaar Alexander, unbewacht und allein, unter dem Schutze desselben sein Haupt sorglos zum Schlummer niederlegen könnte, sprach Frau Lange.


Der berühmte Pianofortist, Heinrich Lange, gehörte ungeachtet seiner ausgezeichneten Talente zu jenen barocken, anfangs abstoßenden Erscheinungen im Leben, die man erst bei näherer Bekanntschaft erträglich, später aber achtungswerth findet. Seine Gestalt, mehr noch als diese seine Art sich zu kleiden, gaben ihm einen Anstrich von Lächerlichkeit, der zwar belustigt, aber weder Liebe noch Achtung erweckt.

Er stand in jenem etwas zweideutigen Mannesalter, schwankend zwischen vierzig und funfzig, in welchem Viele nicht recht zu wissen scheinen, ob sie noch zu den Jungen gehören, oder[205] schon zu den Alten sich zählen müssen; was denn zuweilen auch sein Fall sein mochte. Seine hagre, auffallend kleine Gestalt, hatte etwas Verdrehtes, Windschiefes, durch das man verleitet wurde, ihn für ein wenig verwachsen zu halten, was er doch eigentlich nicht war. Der Fehler lag in dem Mißverhältnisse aller seiner Glieder; sein Kopf war zu groß, seine Arme zu lang, keines paßte zu dem andern, und auch die Züge seines eigentlich geistreichen Gesichts wollten nicht mit einander harmoniren. Aus dieser übermäßig hohen Stirne, dieser keck in die Welt hinaus strebenden Nase, diesem unermeßlich langen Raume zwischen ihr und dem Munde, aus den dunkeln buschigen Augenbrauen, unter denen ein paar kleine farblose Augen kaum sichtbar hervorblinzelten, hätte ein geschickter Zeichner, mit wenigen Abänderungen, eine der ergötzlichsten Karrikaturen bilden können, ohne dabei die Ähnlichkeit allzu sehr zu verletzen.[206]

Eine hohe uhlanenartige Mütze von rothem Sammet, mit großen goldnen Quasten übermäßig verziert, die er selbst innerhalb seiner vier Wände selten ablegte, schwebte, ein wenig gegen das linke Ohr gedrückt, auf der Spitze seines Scheitels; dazu wandelte er gern auf kothurnartigen Absätzen einher, trug einen enganschließenden, ihm fast bis auf die Füße reichenden, sogenannten polnischen Rock von sehr heller, ins Hechtgraue und Röthliche spielender Farbe, mit so vielen Litzen und Troddeln geschmückt, als sich nur darauf anbringen ließen. Ein leicht um den Hals geschlungenes türkisches Tuch, so hell und buntfarbig als möglich, ein breites zierlich gefaltetes Jabot, nebst den dazu gehörigen Manschetten, vollendeten diese seltsame Toilette, die augenscheinlich darauf abzweckte, der Länge des kleinen Mannes, wenn nicht eine Elle, doch wenigstens einige Zoll zuzusetzen.

Die quecksilberartige Lebhaftigkeit seiner Bewegungen,[207] die jeden Augenblick durch ein gewisses, ihm eignes Ungeschick in der Art sie zu regieren gehemmt wurde, sei der letzte Pinselstrich zur Vollendung dieses wunderlichen Porträts.

Aber wie so ganz verschieden von seinem eignen Selbst erschien dieser nämliche Heinrich Lange, wie verschwand alles so gänzlich, was an ihm als lächerlich auffallen konnte, wenn er vor seinem trefflichen Flügel saß, wenn der in ihm wohnende Genius auf mächtigen Schwingen der Phantasie sich erhob, und im Reiche der Töne sich kund gab! Denn dort war seine eigentliche Heimath, dort herrschte er allgewaltig, dort sprach er Ideen, Gedanken, Gefühle aus, für die er im gewöhnlichen Leben keine Worte finden konnte.

In Emilia Galotti läßt Lessing den Maler Conti die Möglichkeit eines ohne Arme gebornen Raphaels annehmen; in diesem Sinne war Heinrich Lange ebenfalls ein geborner großer Poet; aber bei seinem Entstehen jeder Möglichkeit beraubt,[208] anders als mit Hülfe der Saiten, den Gedanken und Empfindungen seines reichen Gemüthes Leben und Gestaltung zu verleihen.

Übrigens war er die harmloseste, zufriedenste Seele von der Welt. Sein Kaiser war, nächst Gott, der Gegenstand seiner innigsten Verehrung, die bis zur Leidenschaft sich steigerte, seit er das Glück gehabt, durch sein Talent ihm bemerkbar zu werden, dadurch einigemal in die nächste Nähe des hohen Beherrschers zu gelangen, und mit ein paar freundlich-lobenden Worten von ihm angeredet zu werden. Von diesem Augenblicke an war Lange dem Kaiser Alexander mit Leib und Seele völlig zu eigen; jede neue, das Lob desselben vermehrende Anekdote, wie man damals unendlich viele in Petersburg erzählte, wurde gleich dem werthvollsten Geschenk von ihm aufgenommen; und daß ein Mitglied seiner Familie sogar eine Hauptrolle in einer solchen gespielt hatte, hob ihn auf den Gipfel[209] des Glücks. Seit ihrem Zusammentreffen mit dem Kaiser war Julie ihm noch einmal so lieb geworden, und selbst auf Iwan und Richard fiel ein Strahl der von demselben ausgehenden Verklärung zurück.

Ungeachtet des auffallendsten Contrastes in ihrer äußern Erscheinung, hat es doch nie ein besser assortirtes Ehepaar auf der Welt gegeben, als Heinrich Lange und seine kleine Frau. Freilich war sie wenigstens um zehn Jahre jünger als er, doch dieser Unterschied wird in der Ehe allmälig ausgeglichen, weil die Jugendzeit der Frauen zwar weit früher beginnt, als die der Männer, aber auch früher endet. Frau Karoline war das zierlichste, anmuthigste, graziöseste kleine Figürchen, das sich nur erdenken läßt. Von der Natur mit einer ächten Nachtigallstimme ausgestattet, die sie, von einem trefflichen Meister geleitet, auf das glücklichste zu benutzen gelernt hatte, war sie einige Jahre hindurch erst in[210] Deutschland, dann auf dem Theater in Petersburg als erste Sängerin aufgetreten, und hatte überall, wo sie sich nur zeigte, Furore gemacht. Aber sie entsagte sehr früh dem theatralischen Glanze, und ward, zu allgemeinster Verwunderung, die bescheidene Hausfrau der wunderlichsten Figur in der ganzen großen Residenz. Ihr Herz sowohl, als ihr guter Verstand führten sie in die Arme des Mannes, der unter einer nicht eben für ihn einnehmenden Außenseite alle Eigenschaften verbarg, sie zu einer der glücklichsten ihres Geschlechtes zu erheben.

Sie hatte die größte Freude an seinem Talente, liebte was er liebte, that was ihm gefiel, und schalt und zankte alle Tage mit ihm. Nie war sie hübscher, als wenn sie zornig sich zeigte, oder vielmehr, wie es meistens der Fall war, sich stellte als ob sie es wäre, um hinterdrein über seine ungeschickten Entschuldigungen ihn recht herzlich auszulachen. Im Grunde war sie die[211] Gutmüthigkeit, die Fröhlichkeit selbst; witzig, von unverwüstlich guter Laune, voll jener theatralischen Einfälle, Anspielungen, Citationen, die keiner los wird, der jemals, sei es auch nur auf kurze Zeit, die Breter betrat »die die Welt bedeuten.«

Julie Reinert, die dritte Person in diesem fröhlichen Haushalte, war ein gutes unerfahrnes Kind, achtzehn Jahre alt, mit so viel Geist, Mutterwitz und Verstand von der Natur begabt, als solch ein Wesen eben nöthig hat, um mit sich selbst und überhaupt mit dem Leben recht leidlich fertig zu werden. Sie war von ihrer frühesten Kindheit an in Königsberg, im Hause eines ziemlich wohlhabenden Kaufmannes aufgewachsen, der für ihren Vormund galt. Zur Ausbildung einer, etwas spät entdeckten, sehr schönen Stimme von ungewöhnlichem Umfange, wurde sie von diesem nach Petersburg, zu seinem Bruder Heinrich Lange geschickt, wo ihr[212] vom ersten Augenblicke an die herzlichste Aufnahme ward. Um das Miteinanderleben sich gegenseitig zu erleichtern, wurde sie sogleich für Langes Nichte erklärt, und fühlte nach weniger als vierundzwanzig Stunden sich so einheimisch bei diesen freundlichen Leuten, als hätte sie nie in andern Verhältnissen gelebt.

Was nun Juliens Gestalt betrifft, so sei hiemit jeder junge Leser dieser Blätter freundlichst gebeten, ihr einstweilen die der Dame seines Herzens zu leihen; und jede junge Leserin, sich nach dem Portrait der hübschen Julie Reinert in ihrem Spiegel umzusehen.


Ächte, traulich entgegenkommende Gastfreiheit wohnt nicht im reichen üppigen Süden, wo die entnervende Sonnengluth nur die unbeweglichste Ruhe wünschenswerth macht, und der Mensch den Menschen leichter entbehrt, weil jeder[213] fast mühelos sich verschaffen kann, was er zur Erhaltung seines Lebens bedarf. Aber im hohen eisigen Norden ist sie recht eigentlich zu Hause, und jeder Schritt, der den Wandrer diesem Ziele nähert, wird ihm zur Bestätigung dieser Bemerkung dienen können. Die erstarrende Kälte eines unwirthbaren Himmelsstriches bannt dort, wenigstens acht Monate im Jahre, die Bewohner zwischen ihre vier Wände; die langen, fast endlos scheinenden Winternächte, laden unwiderstehlich zur Geselligkeit ein, jeder Besuch wird zum heiteren Feste, der Fremde, der zum erstenmale die Schwelle des gastlichen Hauses betritt, wird wie ein lieber Bekannte empfangen, er wird bei den nächsten Freunden eingeführt, die man eines solchen angenehmen Ereignisses ebenfalls theilhaftig machen möchte, diese beeifern sich ihn wieder ihren Freunden zuzuführen, und es kann nur von seinem Willen und Benehmen abhängen, sich so lange Zeit als Mitglied[214] nicht nur der Familie, deren Gastfreund er ursprünglich war, sondern auch aller mit dieser verbündeter, zu betrachten, als es ihm selbst angenehm oder bequem ist.

Nirgends aber giebt diese, aus den kultivirtesten europäischen Ländern immer mehr verschwindende Tugend auf liebenswürdigere Weise sich kund, als in Petersburg, wo alle Vortheile sich vereinen, die eine große glänzende Residenzstadt nur gewähren kann; wo man nicht nur alle verfeinerten Genüsse des Lebens, sondern auch, und obendrein mit großer Leichtigkeit, alle eigentlichen Bedürfnisse desselben sich verschafft. Auch Heinrich Lange machte in seinem nicht luxuriösen, aber sehr anständig geführten Haushalte, von der allgemein herrschenden Lebensweise keine Ausnahme. Seine Thüre stand täglich allen seinen Freunden offen, und Juliens beide Befreier waren ihm, als solche, ein paar sehr werthe, zwiefach willkommene Gäste.[215]

Für Iwan war die Bekanntschaft mit dieser ausgezeichnet trefflichen Familie von sehr großer Bedeutung, denn seine ganze bisherige Lebensweise erhielt dadurch einen neuen, für ihn höchst vortheilhaften Umschwung. Überall, wo seine zahlreichen Bekannten fast täglich mit Sicherheit darauf rechnen konnten, ihn anzutreffen, wurde er jetzt vergeblich von ihnen aufgesucht; der ihm sonst so gefährliche grüne Tisch, war für ihn gar nicht mehr in der Welt; der enthusiastische Eifer, mit dem er plötzlich dem Studium der deutschen Sprache sich ergab, von der er bis dahin nur einzelne Worte gekannt, und die er jetzt für die ihm unentbehrlichste erklärte, hatte dieses fast unglaublich große Wunder bewirkt.

Dankbarkeit für den ihr geleisteten Beistand, bewog Julie Reinert zu dem etwas schwierigen Unternehmen, seine Lehrerin zu werden; und nun brachte er jede Stunde, welche der Dienst und anderweitige Beschäftigungen ihm Vormittags[216] frei ließen, eifrigst studirend bei ihr zu. Frau Karoline, wie diese gewöhnlich genannt wurde, ging, nebenbei ihren Haushalt besorgend, dabei im Zimmer aus und ein, trat als Oberlehrerin auf, wenn Juliens grammatikalische Kenntnisse nicht ganz zureichen wollten, und half auch schelten, wenn der etwas ungelenke Schüler unachtsam oder zerstreut sich bewies.

Abends pflegte ein nicht großer, aber interessanter Kreis, sich gewöhnlich in diesem Hause zu versammeln, in welchem Iwan niemals fehlte, und den auch Richard oft und gern besuchte. Fremde, ohne Unterschied des Standes, besonders Deutsche, Gelehrte, Künstler und Künstlerinnen, bildeten einen eben so zwanglosen als angenehmen Verein, in welchem jeder das Seine zur allgemeinen Unterhaltung beizutragen suchte. Scherz und Lachen wechselten mit ernsteren und unterrichtenden Gesprächen über die Geschichte des Tages, oder über Kunst und schöne Literatur;[217] doch Musik blieb, wie es denn auch in diesem Hause nicht anders sein konnte, das Hauptelement der Unterhaltung. Karolinens seelenvoller Gesang entzückte den kleinen Kreis ihrer Freunde, wie er früher das große Publikum zu begeisterndem Enthusiasmus aufgeregt hatte; Juliens Lerchenkehle, wie ihr Lehrer Lange sie sehr bezeichnend nannte, wirbelte in silberreinen Tönen; auch fehlte es nie an Tonkünstlern vom ersten Range, die hier zum allgemeinen Ergötzen ihre glänzenden Talente vereinten.

Am Ende eines solchen musikalischen Abends, um welchen die Vornehmsten des großen Reiches den guten Lange mit Recht hätten beneiden mögen, ließ er sich zuweilen erbitten, mit seiner ächten Kapellmeisterstimme, dumpf und klanglos wie ein geborstner Topf, aber durch Vortrag und Ausdruck unwiderstehlich zum Herzen sprechend, ein Lied von Goethe nach Zelters, oder auch wohl von eigner Composition zu singen;[218] »das thut Keiner ihm nach,« flüsterten dann die Meister unter einander; und auch seine eigne Frau gab dieses zu, obgleich sie vor den Leuten ihn lächelnd einen alten Dudelsack schalt.

Auch Richard wurde in diesem gastlichen Hause zum erstenmale in das bürgerliche Leben des gebildeten, wohlhabenden Mittelstandes eingeführt. Bis dahin hatte er in der fürstlichen Familie, in welcher er auferzogen wurde, nur das vornehme, prunkvolle, von Genüssen aller Art übersatte Leben der Großen gekannt; und später, als Gegenstück zu demselben, das völlig zwang- und regellose, mitunter ziemlich wüste Treiben von Iwans Freunden, lauter jungen Männern, die weder durch Familienbande noch Rücksichten in ihrer Freiheit gehemmt, nach eigner Wahl diese benutzten.

Eugen und dessen Bruder Alex, hatten auf ihr dringendes Verlangen, unter Richards Schutz, ebenfalls in diesem Hause Zutritt erhalten, das[219] in musikalischer Hinsicht ihnen Genüsse bot, die sie in glänzenderen Zirkeln vergebens suchen mußten, und für welche beide Brüder viel Sinn hatten. Die Gegenwart der jungen Fürsten brachte in Frau Karolinens häuslicher Einrichtung zwar nicht die mindeste Abänderung oder Störung hervor, denn sie war auch an Gäste dieses Ranges zu gewöhnt, um sich durch sie irren zu lassen; aber sie benahm bei der Einladung derselben sich doch immer sehr vorsichtig, und es gehörte ein Fürsprecher wie Richard war dazu, um die Zurückhaltung, die in dieser Hinsicht Grundsatz bei ihr geworden war, zu überwinden.

Gott behüte in Gnaden unsre kleinen Abendgesellschaften vor dem Unglück, Mode zu werden! sprach sie; dann wäre es bald damit aus und vorbei! Vor all' den Ordensbändern, Sternen und Federhüten würden wir selbst kaum Platz im Hause behalten, denn in Petersburg ist es nicht anders, als in andern großen Städten,[220] wo viele vornehme, reiche und müßige Leute bei einander wohnen, die nicht immer wissen, wo sie mit ihrem Überflusse an Zeit hin sollen.


Eines Abends hatte die Gesellschaft zahlreicher als gewöhnlich sich versammelt; in der heitersten glücklichsten Stimmung waren die berühmtesten der damals in Petersburg anwesenden Tonkünstler alle zugegen, um den Geburtstag ihres Freundes Lange recht festlich zu begehen. Mancherlei musikalische, größtentheils humoristische Excesse, wurden bei dieser Gelegenheit getrieben, bis endlich, ganz unverabredet, eine Art Wettkampf daraus entstand, bei welchem jeder von ihnen alles aufbot, um die wenigen, nicht thätig dabei beschäftigten Zuhörer, in einen Rausch von Entzücken zu versetzen.

Eugen und Richard hatten sich in die entfernteste Ecke des Zimmers zurück gezogen. Schweigend,[221] mit gesenkten Augen, gab der junge Fürst der Gewalt der Töne sich hin. Erst als der letzte verhallte, richtete er sich auf, um seinen bewundernden Beifall laut werden zu lassen; sein Blick fiel zuerst auf Richard; tief gebückt, unbeweglich, beide Hände vor dem Gesicht, saß dieser neben ihm, augenscheinlich in düstre Trauer versunken.

Heimweh ohne Zweck und Ziel, Heimweh eines Heimathslosen! war, von einem tiefen Seufzer begleitet, die kaum hörbar geflüsterte Antwort, welche Eugen auf sein besorgtes Fragen von ihm erhielt.

Eugen blickte staunend ihn an. Ach, hätte ich Rußland nie gesehen! setzte er, gleich einem Träumenden unwillkürlich in sich hinein redend, nach kurzem Schweigen noch hinzu.

Jetzt begann Eugen in der That, ein seinem Freunde widerfahrnes Unglück zu fürchten, und hörte nicht auf mit bittenden Fragen in ihn zu dringen. Richard blickte mit jenem trüben Lächeln[222] zu ihm auf, das weit schmerzlichere Klagen ausspricht, als Thränen es könnten.

Du frägst so mitleidig, was mir geschehen? sprach er sehr leise: ach! nichts und alles, und nicht erst heute oder gestern. Sieh um Dich, so recht mit Deinem innern Auge. Sieh das prunklose, einfache, genußreiche Leben um uns her, betrachte es genau. Sieh und fühle, wie durch des Tages Arbeit und Mühen die Freude des Abends erst zur Freude erhoben wird. Dies ist das Leben, das Glück des Mittelstandes; zu diesem wurde ich geboren, und wurde früh dafür verdorben, das ist mein Schmerz! Was hier Reichthum ist, würde in Deiner Sphäre Armuth heißen, und welche Genüsse bietet diese glückliche Armuth! Hierher gehöre ich; warum mußte ich aus meinem tiefen Thale auf Eure sonnige Felsenhöhe verpflanzt werden, wo ich nie festwurzeln werde, wo ich, im nutzlosen Streben danach, am Ende doch verkümmern muß?[223]

Und Helena? erwiederte mit einem Händedruck Eugen.

Ach, stünde sie in der Welt nicht höher als jene Julie! seufzte Richard.

Und könnte sie dann noch Helena sein? fragte Eugen.

Ich weiß, ich fühle, es ist wie es ist, und keine Gewalt im Himmel und auf Erden kann die verworrene Zerrissenheit meines unseligen Daseins zu einem Ganzen umbilden, klagte Richard. Aber verarge es mir wer da kann, ich bin müde dieses Harrens auf eine unbestimmte Zukunft, dieses Hoffens ins weite Blaue hinein müde, müde bis zum Tode. Die Luftschlösser, die ich mit Hülfe Deiner sorgenden Liebe mir erbaute, was ist aus ihnen geworden? sie lösen in Nebel sich auf. Langsam kriecht der Schneckengang meines Lebens von einem Tage zum andern mit mir fort. Was hilft mir Deines Vaters Wohlwollen? der mächtige Schutz Deines[224] Hauses? was hilft es mir sogar, daß, wie Du sagst, der Kaiser, seit jenem seltsamen Zusammentreffen mit ihm, meinen Namen kennt, und gnädig meiner erwähnte? Mein Ziel rückt immer weiter hinaus, ein Wunder nur könnte mich retten, und Wunder geschehen nicht mehr!

Mit bewundernswürdiger Geduld hatte Eugen diese lange Jeremiade seines Freundes bis ans Ende angehört, doch jetzt brach er mit fast strafendem Ernste los: Kleinmüthiger, Verzagter, sprach er, Wunder geschehen nicht mehr! bist Du denn dessen so gewiß? Hast Du den Schleier der Zukunft gelüftet? weißt Du was vielleicht dicht neben Dir sich bereitet? bist Du im Stande genau zu berechnen, was, vielleicht in sehr kurzem, sich Unerwartetes ereignen kann? Sohn unsrer ereignißreichen Zeit, die schon so viele Wunder ihm vorführte, wie darfst Du behaupten, es geschehen keine Wunder mehr!

Mit diesen Worten brach Eugen das Gespräch[225] ab, und wendete der übrigen Gesellschaft sich zu; Richard glaubte zu bemerken, daß er im Verlaufe dieses Abends jede Gelegenheit, es wieder anzuknüpfen, absichtlich vermied.


Im vergeblichen Streben, die eigentliche Meinung von Eugens letzten Worten sich zu erklären, brachte Richard eine lange schlaflose Nacht hin, und stand am Morgen mit dem festen Vorsatze auf, die Sonne nicht untergehen zu lassen, ohne diese Erklärung von seinem Freunde erhalten zu haben. Dienstverhältnisse von seiner, andere Verhinderungen von Seiten Eugens, hielten indessen, sehr wider ihren Willen, beide Freunde während mehrerer Tage von einander entfernt; und selbst am letzten von diesen wollte es Richard nur zur ungewohnt späten Abendstunde gelingen, zu Eugen eilen zu können.

Eine ruhige, von jedem Geräusche möglichst[226] entfernte Wohnung, war von jeher, selbst mit Aufopferung mancher andern Bequemlichkeit, Eugens Lieblingswunsch gewesen. Daher hatte er auch in Petersburg, wie früher in Moskau, in einem abgelegenen, vom Hauptgebäude wie von der Straße entfernten Seitenflügel des Palastes seines Vaters seine Zimmer sich gewählt, deren Fenster auf öde, mit hohen Mauern umgebene Höfe hinaus gingen, die fast nie ein menschlicher Fuß betrat. Richard wunderte sich, die Thüre diesmal verschlossen zu finden, was sonst nie der Fall war; auf sein Klopfen wurde ihm zwar gleich geöffnet, und zwar, was als nicht minder ungewöhnlich ihm auffiel, von dem vertrauten Leibjäger des jungen Fürsten, dem einzigen Diener, der in diesem Zimmer sich befand, in welchem es sonst, nach Sitte großer russischer Häuser, von dienstbaren Geistern wimmelte.

Alles schien an diesem Abende ein fremdes, unheimliches Ansehen hier gewonnen zu haben.[227] Fast verlegen stand der ihm sonst so freundlich ergebene Jäger Wladimir vor ihm; er, der in diesem Hause mit seinem jetzigen Herrn und Richard als beider demüthiger Spielkamerad aufgewachsen war, und manche kleine Freiheit sich herausnehmen durfte, wagte es heute kaum ihn seitwärts, mit scheuen verstohlenen Blicken zu betrachten; Richard selbst fühlte sich dadurch beängstigt; er sah schweigend um sich her, und wurde in einer Ecke einen Haufen abgeworfner Mäntel, Säbel, Federhüte und Mützen gewahr, die auf eine ziemlich zahlreiche Gesellschaft im Zimmer des Fürsten Eugen schließen ließen. Dieses brachte ihn auf den Gedanken, ob er nicht vielleicht hier in eine Gesellschaft gerathen könne, zu welcher ihm der Zugang versagt sei, zu der selbst dieser Diener Bedenken trüge ihn zuzulassen, hier, in den Zimmern seines innigsten Freundes, bei dem Bruder seiner Geliebten! Sein stolzer Sinn fing an sich mächtig zu regen,[228] sein Herz schwoll, Empfindungen wurden in ihm wach, welche bei ähnlichen Anlässen ihn schon oft um so peinlicher gequält hatten, je ängstlicher er sich bemühte, sie aller Welt, wo möglich sich selbst, zu verhehlen. Schon war er im Begriff, hier an der Schwelle umzukehren, um sich nicht vielleicht einer Beleidigung auszusetzen, die er ungeahndet nicht hätte ertragen können, und nur Scheu, einen ihm schmachvoll dünkenden Schritt in Gegenwart des Dieners seines Freundes zu thun, hielt ihn noch zurück. Doch Wladimir schien plötzlich andres Sinnes geworden; mit gewohnter Ehrerbietung näherte er sich geschäftig, ihm den Mantel abzunehmen und öffnete, wie sonst immer, die Thüre zu dem Wohnzimmer seines Herrn. Jetzt erst erinnerte sich Richard, daß Gesellschaften der Art, wie er hier eine anzutreffen gefürchtet hatte, sich zwar nicht selten bei dem Fürsten Andreas und dessen Gemahlin zu versammeln pflegten, aber[229] nie bei den Söhnen derselben. Ohne alles Bedenken trat er jetzt durch die ihm offen stehende Thüre, die gleich, sehr behutsam alles Geräusch vermeidend, hinter ihm geschlossen wurde, und fand abermals zu seiner großen Verwunderung auch hier sich allein, wo er fest darauf gerechnet hatte, seinen Freund anzutreffen.

Doch ein dumpfes Geräusch in dem anstoßenden größern, und deshalb selten gebrauchten Besuchszimmer seines Freundes, schien die Gegenwart mehrerer dort versammelter Personen anzukündigen; von neuem zweifelhaft geworden, ob unbemerkt sich zurückzuziehen nicht noch immer das Gerathenste für ihn wäre, stand er abermals unschlüssig da. Einige bekannte, ihm freundlich tönende Stimmen ließen jetzt aus dem dumpfen Gemurmel der übrigen sich unterscheiden. Richard fing an, der zu reizbaren Furcht vor Verletzung seines Ehrgefühls sich recht herzlich zu schämen; er ging, zwar mit noch immer etwas[230] unsichren Schritten, auf die nur angelehnte Thüre zu; unhörbar leise drehte sie sich in ihren Angeln. Richard stand erstarrt.

Dreißig bis vierzig Männer, einige stehend, andere sitzend, bildeten in zwei- bis dreifachen Reihen einen Kreis rings um den nicht sehr großen, aber doch geräumigen Salon. Die der Thüre zunächst Stehenden waren mit dem Rücken ihr zugewendet, Richard konnte unbemerkt alles überschauen, denn die allgemeine Aufmerksamkeit schien von einem in der Mitte des Kreises befindlichen Gegenstande gefesselt, der für den Augenblick aber ihm noch nicht sichtbar war. Daß ein allgemeiner, sehr großer und ernster, aber auch geheimer Zweck diese Alle hier versammle, war unverkennbar.

Noch war es Zeit, noch konnte Richard unbemerkt, wie er gekommen, sich zurück ziehen. Gern hätte er es gethan; aber ihm gerade gegenüber, in einem Armstuhle sitzend, gewahrte[231] er die ehrfurchtgebietende Gestalt seines Wohlthäters, des Fürsten Andreas; ein unbeschreiblich bängliches Gefühl, eine Ahnung herannahenden Unheils, bemächtigte bei diesem Anblicke sich seiner, und fesselte ihn an den Platz, wo er eben stand.

Doch nicht nur der Fürst selbst, auch dessen Söhne Eugen und Alex, der Fürst Konstantin Nataliens Gemahl, fast alle Verwandte, alle näher Befreundete des Hauses waren zugegen. Nächst diesen viele Männer von anerkannt edlem Charakter aus den geachtetsten und vornehmsten Familien des russischen Reiches, die mehresten unter ihnen Richard wohlbekannt, und zum Theil in näherem freundlichem Verhältnisse ihm zugethan.

Die Gegenwart aller dieser Personen hätte über den Zweck dieser Versammlung ihn füglich beruhigen können; höchstens hätte er eine Berathung über irgend einen jener Lieblingspläne[232] des Fürsten Andreas darunter vermuthet, mit denen dieser sich noch immer gern beschäftigte, und auch seine Söhne dafür zu interessiren sich bemühte; etwa ein Projekt zur Verbreitung höherer Kultur unter dem Volke, oder sonst ein auf die Verbesserung des bürgerlichen Wohlstandes abzweckendes Unternehmen. Aber diesen geliebten und verehrten Gestalten waren auch ihm ebenfalls wohl bekannte andrer Art, wie Unkraut dem Weizen beigemischt. Leute, von denen ihm auch nicht im Traume eingefallen wäre, daß sie jemals hier hätten Zutritt erlangen können, erblickte er, völlig wie einheimisch sich geberdend.

Da stand Einer unter andern, ihm gerade gegenüber, im Hintergrunde des Saales, einige Schritte hinter dem Armstuhle des Fürsten Andreas, ein vielleicht absichtlich gewählter Platz. Richard hätte unbedenklich es beschwören mögen, daß dieser Mann kein andrer sei als der Freund[233] der Frau Marina, der sogenannte Baron vom Pharaotisch. Zwar hatte er den braunen Überrock sammt der grünen Brille abgelegt, auch waren seine Haare bedeutend dunkler; solche leicht auszuführende Veränderungen aber täuschen nicht leicht den aufmerksam beobachtenden Blick eines Unbefangenen.

Andere Figuren, augenscheinlich vom nämlichen Gelichter, befanden sich, wie durch Zufall, einzeln durch alle Reihen der Anwesenden zerstreut; Leute, denen an andern, mitunter ziemlich zweideutigen Orten begegnet zu sein, sich Richard deutlich erinnerte, ohne jedoch ihre Namen zu kennen. Je länger seine Blicke im Saale umherstreiften, je mehr bekannte Gesichter traten ihm entgegen, großentheils namen- und sittenlose junge Leute, dem Trunke, dem Spiele und jeder Ausschweifung ergeben, in deren Umgang er zu seinem großen Leidwesen seinen Freund Iwan verstrickt gefunden; zu seinem höchsten[234] Erstaunen erblickte er sogar einige eifrige Mitglieder und Beförderer jener die Welt verbessernden Gesellschaft in Moskau, in welche er selbst, sehr gegen seinen Willen, durch Iwan verwickelt gewesen, und die er in Petersburg anzutreffen nimmer vermuthet hätte. Wie das alles hier, in Eugens Zimmer, zusammengekommen sei, war und blieb ihm ein unauflösbares Räthsel.

Wenig Minuten waren hinreichend, um alle diese Bemerkungen zu machen; doch überrascht von dem Unerwarteten, war Richard während derselben kaum seines Daseins sich bewußt geblieben. Das Herz klopfte hörbar ihm in der Brust, wild jagte, mit betäubendem Sausen, das Blut durch alle seine Adern; erst als dieser Tumult in seinem Innern sich etwas legte, und er dadurch zu einiger Besinnung gelangte, ward er auf eine Stimme aufmerksam, die bis jetzt in klangloser unverständlicher Monotonie unbeachtet an ihm vorüberrauschte. Eine unter den[235] vor ihm in der Thüre Stehenden zufällig sich bildende kleine Lücke, zeigte ihm in der Mitte des Saales einen mit Schreibmaterialien, Journalen, Broschüren, Mappen und Büchern bedeckten Tisch, und hinter demselben, den Rücken der Thüre und folglich auch ihm zugewendet, einen stattlichen Mann, von militairischem Ansehen, der nach kurzem Ausruhen in diesem Augenblicke den Faden seiner Rede wieder aufnahm.

Vereinte zum Bunde des Heils, ächte getreue Kinder des Vaterlandes, Boyaren, Männer und Brüder, sprach er, ihr habt aus meinem Vortrage jetzt vernommen, daß die aus unsrer Mitte erwählte Elite, bei welcher ich den Vorsitz zu führen gewürdiget worden bin, sich aus hinreichenden Gründen bewogen gefühlt hat, den von einem der getreuesten Söhne des Vaterlandes, Alexander Murawieff ausgegangenen, und von den nicht minder würdigen und getreuen,[236] Obrist Fürst Trubetzkoy und Nikita Murawieff unterstützten Vorschlag, nach reiflicher Überlegung einstimmig als unausführbar zu verwerfen.

Allerdings muß der Gedanke auf den ersten Anblick groß und im blendendsten Glanze erscheinen, unsern neuen Bund für das wahre Heil unsres geliebten heiligen Vaterlandes mit jener, seit Jahrtausenden bestehenden ehrwürdigen Verbindung der Freimaurer, und den unter dem Schleier des tiefsten Geheimnisses allen Ungeweihten verborgnen Gesetzen und Gebräuchen der Loge, zu verbinden und in Einklang zu bringen; aber die Wissenden unter uns, die wenigen Eingeweihten, die tiefer in jene Geheimnisse eingeführt wurden, sind gewiß schon längst durch ernsteres eigenes Nachdenken in ihrem Herzen überzeugt, wie unmöglich dies sei. Durch die eben vorgetragenen Gründe, denen noch mehrere hinzugefügt werden könnten, welche aber[237] alle hier auseinander zu setzen, zu zeitzersplitternd werden möchte, hoffe ich auch meine übrigen Zuhörer, sie mögen nun in jene Geheimnisse theilweise eingeweiht sein oder nicht, über die Unausführbarkeit jenes Vorschlages vollkommen ins Klare gesetzt zu haben.

Der triftigste, alle andern überwiegende, jedem einleuchtende Grund gegen diese, sonst so wünschenswürdige Vereinigung, bleibt immer der, daß jene ehrwürdige Gesellschaft, obgleich über ganz Europa verbreitet, durch ihren Ursprung, ihre innere Einrichtung, ja durch ihre nicht zu umstoßenden Urgesetze, verpflichtet ist, bei ihrer großen Ausdehnung sich dennoch auf eine verhältnißmäßig kleine Anzahl ihrer Verbündeten zu beschränken. Sie gleichen edlen Schatzgräbern, die beim Scheine des dem Himmel entwandten heiligen Feuers des Prometheus, im Dunkel der Nächte, und in ehrwürdiger Verborgenheit, dem edlen Karfunkel nachstreben, dessen alles überstrahlender[238] Glanz, dereinst zu Tage gefördert, wetteifernd mit der Sonne, die blöde, träge Welt aus ihrem Schlummer erwecken soll.

Wir aber, wir Vereinte zum Bunde des Heils, sind anders gestellt. Unser Bund gleiche der aufgehenden Sonne eines glorreichen Sommertages, die ihre Segen spendenden Strahlen über alle Kinder unseres weiten unermessenen Vaterlandes, Licht und Leben überall verbreitend, ergießt. Keine Höhle, keine Kluft, keine noch so tief in endlosem Schnee vergrabene Hütte, bleibe von ihr unerleuchtet. Fest an einander haltend, alles überwältigend, müssen wir zum Lichte durchdringen. Das ganze Reich, jede in demselben athmende Seele, muß dieses Heiles theilhaftig werden, daher darf nichts die Zahl der Anhänger des Bundes für dasselbe beschränken. Daher habe ich in den eurem Wunsche gemäß von mir verfaßten, und von Euch gebilligten Statuten desselben, es unsern Brüdern allen als heiligste[239] Pflicht auferlegt, zur Verbreitung unsres Bundes selbst unter den Geringsten im Volke – –

Ein Verräther in unsrer Mitte! – ein Spion! riefen einige Stimmen. Der Redner war unterbrochen, ein furchtbarer Tumult entstand in der Gegend der Thüre. Festgehalten, vorwärts gestoßen, umklammert, erdrückt von den ihn Umdrängenden, war für Richard an keinen Widerstand zu denken. Nieder, nieder mit ihm! erscholl es von mehreren Seiten mitten durch das rasende Toben, durch das wilde mit Flüchen und Schwüren gemischte Geschrei. Säbel und Degen waren mit den Hüten und Mänteln im Vorzimmer abgelegt, aber gefährlichere heimlichere Waffen, kleine blinkende Dolche, leicht zu verbergende Taschenterzerole wurden in vielen Händen sichtbar; drohende Geberden, wuthblitzende Augen, überall, wohin Richard die Blicke wandte.

Ruhe, Ruhe! gebot Fürst Andreas, als Herr[240] des Hauses. Niemand hörte auf ihn, bis es ihm endlich gelang, unter dem Beistande seiner Söhne zu dem Gegenstande der allgemeinen Erbitterung durchzudringen.

Du bist es, mein Sohn? Niemand als Du? rief er erstaunt, als er Richard recht ins Auge faßte. Laßt ihn unbesorgt los, Ihr Herren, dieser da ist kein gefährlicher Verräther, sprach er, indem er seine Hand ergriff und ihn an Eugens Seite führte. Nun wahrlich, dies heißt doch mit Recht, viel Lärm um Nichts, setzte er hinzu; und suchte, wenn gleich mit bleicher zitternder Lippe, ein heitres Lächeln zu erzwingen.

Wie Vielen unter uns wäre er denn so ganz unbekannt? Freunde, Brüder, besinnt Euch doch, setzte, vom ersten Schrecken sich erholend, der Fürst hinzu; es ist ja kein hier eingedrungener Fremdling; es ist Richard, mein in meiner Familie, mit meinen Söhnen, unter meinen Augen erwachsener lieber Pflegesohn.[241]

Wie kam er hieher? – wie durfte er es wagen? – wie konnte er ohne Verrath bis zu uns durchdringen? – Verrath! – eingeschlichen – ein Engländer – erkauft – Spion – nieder mit ihm – Schlange, die der edle Fürst in seinem Busen erzog – fort mit dem Undankbaren – nieder, nieder mit ihm! – brüllte es von allen Seiten. Die wenigen, Richard in Schutz nehmenden Stimmen, drangen nicht durch das verwirrende Geschrei; und immer gefährlicher, tobender, drohender, wurde die allgemeine Stimmung.

Mein Leben für meinen Bruder Richard! rief Fürst Alex, sprang herbei, ihn mit seinen Armen umschlingend. Voreiliger! konntest Du es denn nicht abwarten? flüsterte Eugen ihm zu, und warf die wehrlose Brust den wüthend auf ihn eindringenden Feinden seines Freundes entgegen.

Wer will in meinem Hause es wagen, mit[242] frevelnder Hand den unter meinem Schutze Stehenden zu berühren! rief Fürst Andreas mit aller ihm zustehenden Würde.

Ruhe! gebot eine kräftige, den lauten Tumult hell übertönende Stimme. Der Redner von vorhin drängte sich hervor: Befleckt nicht durch Mord unsern heiligen Bund; hört ihn an, ehe Ihr über ihn das Urtheil fällt, sprach er mit gebietendem, ernstem Tone; ergriff Richards Arm, zog ihn aus der Mitte der ihn umtobenden Schreier, stellte frei, allen sichtbar, mitten im Saale ihn neben sich hin, und befahl den Übrigen, einen eng geschlossenen Kreis in ziemender Entfernung um sie Beide zu bilden. Alles dieses mit so überraschender, kaltblütiger Gelassenheit, als wäre er hier König, und müsse ihm alles gehorchen.

Wer Muth hat, mit fester sicherer Hand das Steuer zu ergreifen, bleibt mitten im Sturme der Gebieter der wüthenden oder zagenden Menge,[243] die nie weiß, was sie eigentlich will oder zuerst zu ergreifen hat. So war es denn auch hier; man rangirte sich rings an den Wänden hin, wie es Obrist Pestel, denn dieser war der Redner, gebot, und der Aufruhr war für den Augenblick gänzlich beschwichtigt.

Richard Wood, jetzt befrage ich Sie, im Namen des Bundes zum Heil des Vaterlandes, nahm Pestel mit dem Anstande und der Würde eines dazu befugten Richters das Wort, wie gelang es Ihnen, uns so ganz unvermuthet hier zu überfallen, und was beabsichtigten Sie damit? Sprechen Sie frei und furchtlos, aber bedenken Sie Ihre Worte. Die kleinste Verletzung der Wahrheit wäre gefahrdrohend. Ich warne Sie wohlmeinend.

Richard war inzwischen auch wieder zur Besinnung gelangt, um welche das betäubende Geschrei, das wüthende Eindringen auf ihn, anfangs ihn gebracht hatte. Er beantwortete offen und[244] wahr die an ihn gerichteten Fragen, und erklärte nebenher, wie eine Reihe unbedeutender Zufälligkeiten ihn bewogen, seinen, seit mehreren Tagen nicht gesehenen Freund, den Fürsten Eugen, zur ungewohnt späten Abendstunde noch aufzusuchen.

So ohne alle Umstände? sans façon, ungemeldet? in Häusern wie dieses, pflegt das doch sonst nicht gebräuchlich zu sein; wandte mit anmaßendem Hohnlachen ein junger, sehr wüst und roh aussehender Mann ein. Er hieß Lunin, Richard war ihm früher in Moskau, in jener ihm so wenig zusagenden Gesellschaft, zuweilen begegnet.

Unter Brüdern bedarf es keines solchen Ceremoniels; Richard hat bei mir Bruderrecht; erwiederte kurz und stolz Eugen.

Sind Sie bereit, Ihre Aussage mit einem heiligen Eide hier feierlich zu bekräftigen? fragte ernst, aber nicht unfreundlich, Obrist Pestel.[245]

Dann bringt nur gleich eine Bibel herbei, eine englische, rief sehr überlaut Lunin; ich kenne ihn, er ist ein Engländer. Das Volk ist wie die Juden; nach den Gebräuchen seines Landes und Glaubens muß man ihn schwören lassen, sonst hält er sich dadurch zu nichts verbunden; er muß das Buch küssen, sonst gilt sein Eid nichts; setzte er frech lachend hinzu.

Richard blickte verachtend ihn an. Ich bin in England geboren, erwiederte er mit ernster Würde: ich bin weit davon entfernt, das Land meiner Geburt verläugnen zu wollen, aber ich bekenne zugleich, Rußland ist mein eigentliches geliebteres Vaterland, dem ich alles verdanke, seit ich fühle und denke; denn mein Geschick hat in sehr früher Jugend mich meinem Geburtslande völlig entfremdet. Dankbarkeit, Gewohnheit, Erziehung und das heiligste innerste Gefühl meiner Brust, haben mich hier längst nationalisirt; der Kaiser dieses großen Reiches ist[246] auch der meinige, setzte er, diese letzten Worte betonend, mit einem Blicke auf seine Uniform hinzu; für die Wahrheit meiner Aussage bin ich bereit mein Ehrenwort zu verpfänden, doch einen andern Eid leiste ich nicht. Wer aber einer Lüge mich verdächtig machen will, der trete gegen mich auf, Mann gegen Mann.

Auch ich setze mein Ehrenwort an das Seinige, rief in schönem Eifer Fürst Alex.

Ich stimme dafür, daß der Eid gegen sein Ehrenwort ihm erlassen werde, denn, wäre er ein Niederträchtiger, dem dieses nichts gilt, so würde auch der feierlichste Eid ihn nicht binden; entschied Obrist Pestel.

Freunde, Brüder! nahm Fürst Andreas jetzt das Wort, indem er hervor neben den Obristen Pestel trat; gönnt mir einige Augenblicke Eure Aufmerksamkeit mit dem Vertrauen, das ich von Euch erwarten zu dürfen mir bewußt bin. Beseligt durch das freudigste Vatergefühl, habe ich[247] meine beiden Söhne unserm hohen heiligen Bunde der ächten treuen Kinder unseres großen Vaterlandes zugeführt; überzeugt, daß auch mein geliebter Pflegesohn Richard, den heute ein tückischer Zufall, leider störend und unerwartet, in unsre Mitte geworfen, ein nicht minder würdiges Mitglied desselben werden würde, lag es stets in meinem Plane, auch diesen Euch zur Prüfung vorzuschlagen; es war sogar meine Absicht, noch vor dem Schlusse unsrer heutigen Versammlung diesen meinen Vorsatz in Ausführung zu bringen, der durch die Entfernung, in welcher Richard bis vor kurzem in Moskau lebte, aufgeschoben worden war.

Die Zeit der Überlegung, der Berathung, welche mehr das ernste Erforschen dessen, was Noth ist, von Seiten der Erfahrenern, Zeit- und Weltkundigeren unter uns erforderte, als den zwar wohlmeinenden, aber oft übereilten Eifer unsrer jüngeren Brüder, ist nun größtentheils[248] vorüber. Die Statuten unsres Bundes, die Gesetze desselben, die Pflichten, welche zu erfüllen wir beim Eintritte in denselben uns anheischig machen, sind endlich festgestellt. Die Zeit des Wirkens und Schaffens, der Ausführung des früher zum Wohle des heiligen Vaterlandes Beschlossenen ist da; sie wird der rüstigen Thatkraft unserer jüngeren Brüder ein weites Feld eröffnen, und in jeder Hinsicht die Vermehrung ihrer Zahl wünschenswerth machen.

Und nun tritt hervor, mein Sohn, setzte Fürst Andreas hinzu, indem er Richards Hand ergriff; frei darf ich es aussprechen, dieser Jüngling ist würdig, bei dem großen Werke, das wir unternommen und mit der Hülfe Gottes ausführen werden, als Bruder und Helfer uns zur Seite zu stehen, denn ich kenne ihn; unter meinen Augen wuchs er auf, mit meinen Söhnen zugleich habe ich in meinen Grundsätzen ihn erzogen, und der glücklichste Erfolg lohnte mein[249] redliches Bemühen. An Geist und Gemüth, an Muth und Festigkeit, an Willen und Beharrlichkeit, das Gute und Rechte zu fördern, steht er keinem der Besten unter uns nach. Und nun, Brüder, entscheidet über ihn.

Der Fürst setzte nichts weiter hinzu, auch seine Zuhörer schwiegen, nur ein leises Geflüster lief durch die Reihen derselben. Endlich nahm Obrist Pestel wieder das Wort:

Richard Wood entferne sich unter der Aufsicht seiner brüderlichen Freunde, der Fürsten Eugen und Alex, während die Ältesten, nach unserm Gebrauche, über seine Aufnahme in unserm Bunde mit einander Rath pflegen. Unsre allgemeine Versammlung ist für heute geschlossen; Ort, Tag und Stunde der nächsten wird den Brüdern auf gewohnte Weise kund gethan werden. Wandelt hin, durch Dunkel zum Licht! setzte er verabschiedend hinzu.

Der größte Theil der Anwesenden zerstreute[250] sich; durch verschiedene Ausgänge verloren sie sich einzeln und lautlos in den an Eugens Wohnung anstoßenden öden Höfen und Gärten. Gleich einem Nachtgesicht waren alle nach wenigen Minuten spurlos verschwunden. Eugen und Alex zogen sich mit Richard in ein Kabinet, welches keinen andern Ausgang als durch den Saal hatte, zurück, und unter dem Vorsitze des Obristen Pestel blieben nur die Ältesten und Angesehensten der Verbündeten, die Fürsten Andreas, Trubetzkoy, die Murawieffs und noch einige Andre im Saale versammelt.


Haltet mich fest an Eurer Brust, blickt wie ehedem mit Euern treuen guten Augen mich an, damit ich wieder unter Menschen mich fühle, sprach Richard, mächtig aufgeregt, als er sich mit Eugen und Alex in jenem Kabinette allein sah; windet nicht so schnell aus meinen Armen[251] Euch los! alles wankt rings um mich her, mich schwindelts, mir ist wie einem Fieberkranken, der aus wilden Phantasien zu halbem Bewußtsein erwacht. Habe ich geträumt? träume ich vielleicht noch? welch ein Traum! wer doch erwachen könnte! Der Vater! und Du, Eugen, und Du, Alex, Verschworne! Ihr Alle im Bunde mit Lunin! zu welchem Zwecke! setzte er schaudernd hinzu, und verbarg sein Gesicht in beiden Händen.

Zum Herrlichsten! für Freiheit, Licht, geistiges Leben, für das Wohl von Millionen unsrer Brüder, die in geistigen und leiblichen Banden noch mit Elend und Dunkelheit kämpfen! erwiederte wie begeistert Eugen.

Revolution! rief Richard, und schlug heftig beide Hände zusammen; das Heil, das aus diesem Quelle der Welt zufließen kann, ist allbekannt. Aber der Wurf ist gefallen; komme was da wolle, Gefahr und Untergang, ich theile es mit Euch;[252] denn inniger als je zuvor fühle ich es, ich gehöre zu Euch. Das Vertrauen, die Liebe Eures, ja, meines edlen Vaters, soll an mir nicht zu Schanden werden; nicht vergebens hat Fürst Andreas mich öffentlich Sohn genannt; ich weihe mich mit Euch und ihm dem Untergange; das Schwert, das über Euern Häuptern an einem schwachen Haare drohend hängt, in seinem Falle zerschmettre es auch mich!

Aber so komme doch endlich wieder zu Dir, und setze Dich ruhig hieher; an Gefahr und Untergang ist hier gar nicht zu denken, fiel Eugen ganz fröhlich ihm ein; freilich, als Du so, gleichsam mit der Thüre uns ins Haus fielst, gab es wohl einige Gefahr für Dich, aber die ist vorüber und kommt nicht wieder; höre darum auf, uns und Dich mit so edelmüthigem Unsinn zu plagen.

Ich glaube, ich verstehe ihn besser, als Du ihn verstehst, oder auch vielleicht nur verstehen willst, nahm der gutmüthige Alex jetzt das Wort;[253] sein Zweifelmuth jammert mich; warum wollen wir denn nicht mit einem einzigen Worte ihn so ruhig machen als wir es sind, da dieses in unsrer Macht steht? Höre mich, Richard, und vertraue mir; von Verschwörung und daraus entspringender Gefahr, ist, kann hier nicht die Rede sein, denn (hier dämpfte Alex seine Stimme bis zum leisen Geflüster) denn ein einziger großer Name steht auf der Liste der für unsern Bund zunächst zu werbenden Mitglieder obenan. Harre nur noch eine kleine Weile, bis unser weit umfassender Plan sich zur höchsten Klarheit gestaltet hat, daß man ihn deutlich vorlegen kann. Dann steht jener, ohne dessen Willen in diesem Reiche nichts geschehen soll, an unsrer Spitze, mit aller Kraft seines mächtigen Wollens, seiner großen, für Gott, Vaterland, Menschenrecht glühenden Seele; er, dem das Wohl der Millionen, die ihm unterthan sind, wärmer am Herzen liegt, als das eigne Leben.[254]

Alex! Alex! versteh' ich Dich? rief Richard ihn wild anstarrend.

Du hast mich verstanden. Der Kaiser, flüsterte Alex.

Er? Du träumst; er, er selbst!

Alex ist wach, aber voreilig, in seinen Äußerungen wenigstens, wenn gleich nicht in seinem Glauben. Was noch nicht ist, kann werden, und wird es, sprach Eugen.

Er, den ich nicht nenne! und Lunin! und jener verworfene Spieler, und so manche ähnlichen Gelichters, die ich in Eurer Versammlung erkannte! Alle Mitgenossen eines Bundes? Es ist nicht, es kann nicht sein! erwiederte Richard.

Und doch, und doch. »Es muß auch solche Käuze geben« sagt der große Poet; sprach lächelnd Alex.

Schafft die Natur denn nur Rosen und Lilien und Ananas? erwiederte Eugen; erzeugt sie nicht auch Wermuth und Bilsenkraut? Nesseln[255] und Schierling? und noch hundert andere giftige und bittre Kräuter, die alle unentbehrlich sind, weil der, so sie zu behandeln weiß, jedes an seinem Orte zu den heilsamsten Arzneien verwendet? Auch stehen wir alle nur scheinbar neben einander. Wir wirken zu einem Zwecke, aber Jeder auf ihm angewiesene Weise; es giebt unter uns Grade des Wissens und Wirkens, die nicht Alle erreichen, setzte er mit gedämpftem Tone hinzu.

Übrigens ist Lunin zwar ausgelassen, wild und roh, aber eine grundehrliche Haut, versicherte Alex; und der Andre, den Du meinst, ist auch nicht der verrufene Baron mit der grünen Brille, sondern einer, Namens Torson; die Ähnlichkeit zwischen beiden ist aber auffallend, vielleicht ist Torson dem Brillenmanne verwandt.

Die Konferenz da drinnen wird jetzt bald ihr Ende finden, ich höre Pestel herum gehen, die Stimmen in Gestalt goldener und bleierner[256] Kugeln zu sammeln; doch ehe wir hinein gerufen werden, muß ich noch eine Gewissensfrage an Dich richten, sprach Eugen, und trat mit Richard in eine Fenstervertiefung. Gestehe es, Aug' in Auge, die Hand auf dem Herzen, Du hegtest Argwohn gegen mich, und hegst ihn vielleicht noch. Richard, konnte, durfte ich Dir entdecken, was des Vaters ausgesprochener Befehl und ein heiliger Eid mir zu verschweigen geboten? Die Zeit Deiner Dir unbewußten Prüfung von Seiten meines, Dich nie aus den Augen verlierenden Vaters, war abgelaufen, nur wenige Tage des Schweigens waren mir noch auferlegt; kaum hielt ich mich noch; weißt Du den letzten Abend, den wir bei unserm Freunde Lange zubrachten? erinnerst Du Dich noch der Andeutung meiner Hoffnungen für Dein Glück, die ich mir damals entschlüpfen ließ? ich mußte den ganzen übrigen Abend Dir aus dem Wege gehen, um in der Freude meines Herzens Dir[257] nicht zu viel zu verrathen. Und verstehst Du mich denn jetzt? weißt Du jetzt, worauf meine Hoffnungen beruhen? kannst Du Dir deuten, wie ich es meine? fühlst Du meines Vaters Betragen gegen Dich? sprach er immer wärmer werdend. – Ach Richard, soll ich die Dir nennen, für die, wie für Dich, am heutigen Abend ein herrliches Morgenroth aufgeht?

Helena! hauchte Richard ganz leise, leise an der treuen Freundesbrust.


Auf Flügeln der Hoffnung getragen, kehrte Richard in den Saal zu der ihn erwartenden Versammlung zurück, die er in ganz andrer Stimmung verlassen. Die Häupter des Bundes hatten in der Zwischenzeit über seine Zukunft entschieden, aller Augen kehrten mit sichtbarem Wohlwollen sich ihm zu, die ganze Art des von dem ersten himmelweit verschiednen Empfanges,[258] der ihm jetzt wurde, verrieth deutlich den mächtigen Einfluß des Fürsten Andreas.

Selbst der Obrist Pestel trat zuvorkommend ihm entgegen, und erklärte ihm, als derzeitiger Präsident des Bundes und im Namen desselben, daß man aus hinlänglichen Bewegungsgründen beschlossen, mit seinem Ehrenworte zufrieden zu sein, ohne auf den in solchen Fällen üblichen Eid der Verschwiegenheit zu bestehen. Eine Auszeichnung, die vor Ihnen noch keinem gewährt wurde: setzte er sehr wichtig hinzu.

Richard erkannte diese ihm gewährte Vergünstigung mit geziemendem Danke an, und gelobte dann kurz und bestimmt bei seiner Ehre, alles was er hier gesehen und vernommen, lebenslänglich als ein hochheiliges Geheimniß zu bewahren; keinem lebenden Menschen auf Erden, er sei wer er wolle, nie, unter keiner Bedingung, durch Worte oder Zeichen, ganz oder theilweise, etwas davon zu vertrauen, oder auch nur errathen zu lassen.[259]

Sie sind jetzt frei wie die Luft, nahm jetzt Pestel wieder das Wort; von Ihnen allein hängt es ab, diese Versammlung augenblicklich zu verlassen, um nie wieder zu derselben zurück zu kehren. Ein andres wäre es, wenn Sie, wie Ihr edler Pflegevater uns angedeutet hat, den Wunsch hegten, unserm Bunde der wahren und getreuen Kinder des Vaterlandes sich anzuschließen. Meiner Pflicht als Vorstand desselben gemäß, richte ich also die Frage an Sie: sind Sie ent schlossen sich diesem Bunde zu weihen, seinen Gesetzen, wie seinen Verpflichtungen sich ohne Ausnahme zu unterwerfen?

Ein bänglich vorahnendes Gefühl wollte sich Richards bemächtigen, indem er schon im Begriff war, diese Frage mit dem verhängnißvollen: Ja, zu beantworten; fast wähnte er seinen Schutzgeist in Helenas Gestalt warnend neben sich aufsteigen zu sehen. Der feste Entschluß, mit welchem er den Saal betreten, wurde einen Augenblick[260] wankend; doch ein Blick auf seine beiden Freunde, die in vertrauender Sicherheit ihm zur Seite standen, ein ermuthigender Wink des Fürsten Andreas – und seine Zweifel schwanden. Das Wort, das man von ihm erwartete, war gesprochen.

Der helle Streif im Osten verkündet das Ende der kurzen Sommernacht. Mitternacht ist längst vorüber. Ich trage darauf an, daß die feierliche Aufnahme unsers neuen Bruders auf unsre nächste Versammlung festgestellt werde: sprach Sergius, der Secretair des Bundes.

Unser Bund braucht das Licht der Sonne nicht zu scheuen, die bald glorreich von ihrer Mittagshöhe herab seine Thaten beleuchten soll: erwiederte Pestel sehr pathetisch. Zur Aufnahme dieses unsres Bruders, fuhr er gelassen fort, bedarf es keiner weitläuftigen Vorbereitungen, indem alle Prüfungen des ersten Grades ihm erlassen sind, und er mit Übergehung desselben sogleich[261] in den zweiten, in den der Männer eintreten wird. Die enge Verbindung, in der er zu dem hohen Hause steht, das unser Bund mit Recht als seine festeste Stütze betrachtet, berechtigt ihn zu diesem selten gewährten Vorzuge. Bruder Richard! setzte er wieder in jenen pathetischen Ton verfallend hinzu, nur Ihrem eignen Willen bleibe hier die Wahl überlassen; wünschen Sie Aufschub? Bedenkzeit? oder soll diese symbolisch schöne Stunde der Morgendämmerung, in welcher die lichtscheue Nacht mit ihren dunkeln Phantomen vor dem hellen Tagesscheine sich verbirgt, auch Ihnen die Klarheit gewähren, die von nun an Ihrem ferneren Lebenspfade leuchten soll?

Noch ehe ich berufen ward, zum zweitenmal in dieser Versammlung zu erscheinen, war mein Entschluß fest gestellt; es bedarf keiner weitern Bedenkzeit, antwortete Richard.

Fürst Andreas, seine Söhne, alle gegenwärtigen[262] Freunde seines Hauses erhoben sich jetzt, um Richards männlichen schnellgefaßten Entschluß zu preisen, und mit Freundschaftsbezeigungen und Beweisen des herzlichsten Wohlwollens ihn zu überschütten, während Pestel und Sergius die einfachsten Vorbereitungen zu dem feierlichen Eide trafen, der zufolge der Statuten des Bundes, beim wirklichen Eintritte in denselben, ihm nicht mehr erlassen werden durfte.

Von allen jenen, in den mannigfaltigsten Modificationen üblichen Ceremonien, die jeder bei der Aufnahme in eine geheime Gesellschaft sich gefallen lassen muß, diese mag nun in den geweihten Sälen einer Loge, oder in irgend einer dunkeln Kneipe ihr Wesen treiben, war hier gar nicht die Rede. Zwar ließ aus einigen leicht hingeworfenen Worten des Präsidenten Pestel sich schließen, daß dieses eine durch Zeitmangel bedingte Ausnahme von der gewohnten Regel sei; doch darf man dem gewandten weltklugen Manne[263] wohl zutrauen, daß diese Ausnahme nicht ganz unabsichtlich Statt finde. Er besaß Menschenkenntniß genug um einzusehen, daß der ganze Apparat von dunkeln Gemächern, bloßen Degen, Todtenschädeln, symbolischen Pflanzen und dergleichen, hier den gewünschten Eindruck völlig verfehlen würde, und er höchstens nur an die enge Scheidegränze zwischen dem Erhabenen und dem Lächerlichen dadurch erinnern könne.

Sergius trug ganz einfach die auf Verlangen des Bundes von Pestel verfaßten Statuten desselben vor, aus denen zuvörderst die Eintheilung der Mitglieder in drei Klassen oder Grade hervorging. Die erste, bei weitem zahlreichste, wurde die der Brüder genannt; die zweite, bedeutendere und mit dem Zwecke, wie mit den Fortschritten des Bundes vertrautere, war die der Männer, in welche Richard jetzt aufgenommen wurde. Der dritte, höchste Grad wurde nur Wenigen durch Macht, Reichthum, Familienverbindungen[264] oder glühenden Eifer Ausgezeichneten ertheilt: sie wurden Boyaren genannt, und bildeten den höchsten Rath der Alten. Aus ihrer Mitte wurden drei Direktoren erwählt, der Präsident, der Aufseher, und der Secretair. Die gegenwärtige Versammlung war eigentlich der Rath der Alten, und sämmtliche Boyaren, mit weniger Ausnahme, waren dabei zugegen.

Vernichtung verjährter, für die jetzige Zeit nicht mehr passender Institutionen und jeder an orientalischen Despotismus erinnernden Einrichtung, wurde als das Hauptziel des Bundes angegeben; nächst diesem unermüdliches Bestreben, durch Abschaffung von Mißbräuchen, durch Verbreitung nützlicher Kenntnisse, durch Verbesserung des Landbaues, durch Einführung neuer Erwerbsquellen, zur Aufklärung, und durch diese zur Verbesserung des Wohlstandes der niedrigeren Volksklasse beizutragen. Bei jeder Gelegenheit die Rechte des Volks öffentlich zu vertreten,[265] und die Bekanntschaft mit denselben zu verbreiten, wurde als nicht zu umgehende Pflicht eingeschärft; auch war den Verbündeten auferlegt, über genaue Handhabung der Gesetze zu wachen, die Verwaltung der öffentlichen Angelegenheiten, wie das Betragen der Beamten jedes Ranges, genau zu beobachten, und jede Handlung derselben, durch welche sie sich des in sie gesetzten Vertrauens unwürdig bewiesen, ans Licht zu ziehen und zu veröffentlichen.

Verbreitung des Bundes durch Anwerbung treugesinnter talentvoller Mitglieder, vorzüglich vom Militairstande, um auf jede Weise die Macht wie die Zahl desselben zu mehren und ihn immer sichrer zu stellen, wurde noch als letzte, aber unumgängliche Verpflichtung besonders empfohlen.

Alles dieses klang so unverfänglich, so Recht liebend, so durchaus wünschenswerth zum allgemeinen Besten; Ähnliches, wenn gleich anders[266] ausgedrückt, hatte Richard unzähligemal von den Lippen seines Pflegevaters im engsten Familienkreise vernommen. Zweifel und Mißtrauen schwanden; begeistert für die gute Sache, sprach er Wort für Wort den ihm vorgesagten Eid nach, bis ans Ende; und würde in dieser glücklichen Stimmung geblieben sein, wäre nicht ganz zuletzt unbedingte Unterwerfung unter den Rath der Alten von ihm gefordert worden. Er stockte einen Augenblick; und doch! er war zu weit vorgeschritten, um zurücktreten zu können.


Jede widerwärtige Empfindung, welche bei seinem ersten, ihn selbst überraschenden Eintritte in jene Verbindung, sich Richards bemächtiget hatte, verschwand indessen bei ruhigerem Besinnen gar bald aus seinem Gemüthe. Er war sogar auf gutem Wege, eines der eifrigsten Mitglieder des Bundes zu werden, ohne durch so manches,[267] was ihm anfangs als abschreckend erschienen war, sich weiter irren zu lassen. Sogar die unbedingte Unterwerfung unter die Beschlüsse und Anordnungen des Rathes der Alten, welche er hatte geloben müssen, machte ihm keine Sorge mehr.

Im Militairdienste war die Nothwendigkeit strenger Subordination, sobald es gilt, die Gesammtkräfte vieler tausend Einzelner zur Ausführung eines großen Zweckes zu vereinen, ihm deutlich geworden; und was für Männer standen an der Spitze dieses sogenannten Rathes der Alten, dem er blinde Unterwerfung gelobt!

Fürst Andreas, seine Söhne, die nächsten Verwandten und Freunde seines Hauses, anerkannt edle Männer, an Rang, Ansehen, und warmer Begeisterung für das Wohl des Vaterlandes ihm gleich. Wo diese walteten, mußte jede Spur von Besorgniß verschwinden. Wie hätten sie, wie hätte Fürst Andreas, etwas dem allgemeinen Besten, oder dem mit diesem so[268] enge verbundenen allgeliebten Kaiser Gefahrdrohendes geschehen lassen oder gar anordnen können!

Im Verlaufe der Zeit würde Richard seinen Eintritt in den Bund, vielleicht sogar die Existenz desselben ganz vergessen haben, hätte nicht der ihm so groß, so ungemein wünschenswerth erscheinende Zweck des selben, ihn auf das lebhafteste unaufhörlich beschäftigt.

Die Versammlungen des Bundes wurden immer seltner; Monate gingen oft darüber hin, ohne daß Richard aufgefordert wurde in denselben zu erscheinen, und fast immer kehrte er mit dem bittern Gefühle zwecklos verlorner Zeit nach Hause zurück. Die Anordnung feierlicher, Sinne betäubender Ceremonien zur Aufnahme neuer Brüder, die ohne sonderliche Auswahl, augenscheinlich nur, um die Zahl der Mitglieder zu vergrößern, schaarenweise herbeigezogen wurden, schien jetzt die einzige Beschäftigung jener Versammlungen geworden zu sein.[269]

Diese Neuangeworbenen, deren Anzahl sich bald bis ins Unglaubliche vergrößerte, waren größtentheils junge Leute, die gar nicht begriffen, gar nicht wußten, wovon eigentlich hier die Rede sei, auch gar nicht verlangten dieses zu ergründen; sondern, entweder vom Reize des geheimnißvoll Feierlichen angezogen, oder auf Zureden und nach dem Beispiele ihnen ähnlicher Freunde in den Bund sich hatten aufnehmen lassen, ohne etwas andres dabei sich zu denken, als was sie auch bei jeder andern geschlossnen Gesellschaft sich gedacht haben würden.

Ein großer Theil derselben bestand aber auch aus Soldaten, guten ehrlichen Gemüthern, die auf Treu und Glauben hinnahmen, was man unter dem Siegel des Geheimnisses ihnen flüsternd vertraute: daß Kaiser Alexander selbst um alles wisse, alles leite, nur ihren Vortheil dabei beabsichtige, aus politischen Gründen aber noch nicht öffentlich auftreten wolle. So eingewiegt[270] von goldnen Hoffnungen, waren sie darauf gefaßt und bereit, sich zu allem was von ihnen gefordert werden würde herzugeben; als blindes Werkzeug höherer Gewalten alle ihre Kraft, und wenn es sein müßte ihr Herzblut, für ihnen unbekannte Zwecke zu verwenden. Es waren die nämlichen treuen, aber unwissenden Seelen, welche einige Jahre später mit großem Geschrei die Constitution hoch leben ließen, weil sie meinten, dies sei Name oder Titel der Gemahlin ihres Czaarewitsch Konstantin.

Richard hatte anfänglich vor dem zu plötzlichen Ausbruche der Flamme gezittert, deren zündender Funke hier im Verborgnen gehegt wurde; jetzt setzte die Unthätigkeit des Bundes ihn in zweifelndes Erstaunen. Er äußerte dieses zuerst gegen seine vertrauteren Freunde, dann auch gegen Pestel und andre der bedeutenderen Mitverschwornen, aber es fehlte diesen nicht an Gründen, um ihn zu beruhigen. Noch ist es nicht[271] an der Zeit: die Frucht muß reifen, ehe sie gebrochen wird: Übereilung ist die gefährlichste Feindin jedes großen Unternehmens; so hieß es, wohin er sich auch wenden mochte. Er gewöhnte sich endlich daran, keine andere Antwort zu hören, fing an für voll gelten zu lassen, was ihm zuerst als abgedroschner Gemeinplatz geklungen hatte, und gab sich zufrieden.

Auch hatte er gegründete Ursache zufrieden zu sein; eine neue, ihn durch und durch erwärmende Glückssonne, war seit jenem stürmischen Abende an seinem Lebenshorizonte aufgegangen. Nie zuvor, selbst nicht in den Jahren seiner ersten Jugendzeit, hatte er seinen Pflegeeltern so enge verbunden sich gefühlt, nie hatten sie selbst so ganz offenbar und rücksichtslos als ganz zu den Ihrigen gehörend ihn anerkannt, als eben jetzt. Und diese glückliche Veränderung seiner Lage beschränkte sich nicht allein auf das Haus des Fürsten Andreas; sie ging von diesem[272] auf die nächsten Freunde und Verwandten desselben über.

Die von der größern Gesellschaft ihn ausschließenden Schranken, welche Rang, Etikette und Konvenienz um ihn gezogen, waren plötzlich gesunken; man sah in ihm nur den fein gebildeten jungen Mann, den liebenswürdigen Gesellschafter, und von dem niedern Range, auf dem er noch immer bei seinem Regimente stand, nahm Niemand mehr Notiz. Das Beispiel bedeutender Personen, die bei seiner Aufnahme in den Bund zugegen gewesen waren, hatte dieses Wunder bewirkt, und Richard war, ohne daß er es wollte oder wußte, in der übrigen vornehmen Welt, die eben so wenig wußte warum, gewissermaßen Mode geworden. Ausgenommen bei großen feierlichen Gelegenheiten, wo eine scharf gezogne Linie das Zulässige bezeichnet, und die er von jeher gern vermieden hatte, standen immer die Thüren ihm offen, aber Erfahrung[273] hatte ihn Vorsicht gelehrt. Er beschränkte sich auf das Haus seiner Wohlthäter und der diesen zunächst Verbundenen, und vermied auch dort, in größern Kreisen zu erscheinen.

Vor Allen andern zog eines der thätigsten und begeistertsten Häupter des Bundes ihn an, und kam mit gleicher ungeheuchelter Neigung, auf mehr als halbem Wege ihm ebenfalls entgegen; Graf Stephan, den man wohl mit Recht als einen Schüler des Fürsten Andreas bezeichnen könnte, war bedeutend jünger als dieser und doch schon dessen vieljähriger Freund. Sein vor wenigen Jahren verstorbener Vater hatte mit dem Fürsten in sehr vertrautem Verhältnisse gestanden, der junge Stephan wurde von Jugend auf Zeuge des ernsten viel umfassenden Gesprächs dieser beiden, von Freiheitsgefühl und Vaterlandsliebe durchdrungenen Männer, und seine Verehrung und Bewunderung des Fürsten Andreas stieg darüber bis zur Leidenschaft.[274]

Nach des alten Grafen Tode ging das Vertrauen und die Liebe des Fürsten auf den Sohn über; rückhaltslos überließ er sich der Gewohnheit, ihm alles zu offenbaren, was seit Jahren seinen Geist ausschließend beschäftigte; seine Pläne, seine Wünsche für die Verbreitung allgemeinerer Kultur und Verbesserung des bürgerlichen Zustandes seines Volkes, und aller der Ideen, die mit der Zeit sich so ganz seiner bemächtiget hatten, daß man wohl sagen kann, sie waren die Seele seines Lebens geworden.

Stephan gehörte zu jenen milden und doch ernsten tiefen Naturen, die jeden großen Gedanken, den sie einmal erfaßt, so lange von allen Seiten beleuchten, bis er von ihrem innern Wesen untrennbar wird, und sie gezwungen alles daran setzen müssen, um das, was erst nur in ihrer Phantasie lebte, zur Wirklichkeit umzugestalten.

Der lebhaftere Geist des weit jüngeren Mannes[275] begnügte sich nicht damit, den Gedanken des älteren Freundes Schritt für Schritt zu folgen, er nahm einen weit kühneren Aufschwung. Wahre Begeisterung läßt gleich der Flamme schlecht sich verhehlen: dem Grafen Gleichgesinnte fanden ihn bald und schlossen sich ihm an, und so entstand aus diesen eine kleine, aus acht bis zehn wohlgesinnten, von Vaterlandsliebe beseelten Männern bestehende Gesellschaft, die ohne Nebenabsicht und ohne Aufsehen erregen zu wollen, zusammen kamen, um über Dinge, die ihnen zunächst am Herzen lagen, ihre Gedanken einander mitzutheilen. Daß aus diesem kleinen Keime eine so weit umsichgreifende Verzweigung entstehen solle, lag weder in ihrem Plane, noch kam die Möglichkeit davon ihnen in den Sinn.

Mehrere Jahre, ehe der damals in Moskau lebende Fürst Andreas sich ihr anschließen konnte, dauerte diese Gesellschaft zu aller Zufriedenheit in der Stille fort, bis der Zufall den Obrist Pesiel[276] ihr zuführte, dessen kühner übermüthiger Geist schon deshalb ein großes Übergewicht gewinnen mußte, weil er jede Farbe anzunehmen verstand, und von ganz andern Gedanken und Plänen erfüllt, kein Mittel scheute, um zu seinem Zwecke zu gelangen. Mit kecker Hand ergriff er die Zügel, und ehe die Übrigen es gewahrten, hatte unter seiner Leitung alles eine andre Gestaltung gewonnen.

Richard fühlte in dem vertrauteren Umgange mit seinem neuen Freunde sich sehr glücklich, er verlebte viele schöne Stunden in dem engen Familienkreise desselben, mit der sanften, schönen, aber oft leidenden Gemahlin des Grafen, mit den hoffnungsvollen Kindern, die, sobald er sich zeigte, ihn jauchzend umtanzten.

Aber wie ganz anders noch war es, wenn Fürst Andreas zu Hause ihn Sohn nannte, wenn sogar Eudoxia, den Strumpfwirker ganz vergessend, zwischen ihm und ihren eignen Kindern[277] keinen Unterschied merkbar werden ließ! wenn beiden im lebhaften Gespräche so manche Äußerung über seine Zukunft entschlüpfte, so manche Andeutung einer nahenden, alle seine Erwartungen übertreffenden glänzenden Zeit; dann wußte er kaum sein in kühner Hoffnung hochaufschwellendes Herz zu bemeistern. Selbst in Gegenwart ihrer Eltern gestaltete sein Umgang mit Helena sich immer zwangloser und freier, mit dem vollen Ausdrucke innern Glücks trat sie stets ihm lächelnd entgegen. Aus Furcht vor sich selbst wußte er dem Vorgefühle, das sich seiner ganz bemächtigte, und das er doch als allzu kühn verdammen mußte, keine Worte zu geben. Doch sein fragender Blick suchte Antwort in den Augen seiner brüderlichen Freunde, denn auch Alex war jetzt der Vertraute seiner Liebe geworden. Alex reichte ihm die Hand, Eugen drückte ihn an die treue Brust; beide schwiegen.

Es ist ein Traum! ein himmlisch schöner[278] Traum! o Gott, laß das Erwachen mich nicht erleben, lieber den martervollsten Tod! seufzte er oft, wenn sein Glück, wie eine schwere Bürde, auf seinem ahnungsvollen Herzen lastete.

Helena, wenn sie mit Richard allein war, gab jetzt oft und geflissentlich dem Gespräche eine sehr ernste, auf die Lieblings-Ideen ihres Vaters Bezug habende Wendung, von denen auch sie ganz erfüllt war. Auch Eudoxia, ungeachtet ihrer festen Überzeugung von dem in der Natur begründeten Unterschiede zwischen hoch und niedrig Gebornen, nahm lebhaften Antheil daran; die ihr angeborne Herzensgüte gewährte ihr eine Art Trost in dem Gedanken, das Unglück der Letztern durch Verbesserung ihrer bürgerlichen Zustände einst mildern zu können. Öfter, offener, umständlicher als je zuvor ließ ihr Gemahl im engen Kreise seiner Familie und seiner Vertrautesten, zu denen natürlicher Weise auch Richard und Stephan gehörten, über alles, was sein[279] Gemüth seit Jahren erfüllte, sich aus; die Gegenwart der Frauen dabei vergessend, streifte er bisweilen ganz nahe an das Geheimniß des Bundes, ohne es jedoch zu verletzen. Eudoxia suchte oft Gelegenheit, mit Richard über die nämlichen Gegenstände sich zu unterhalten, um manches, was ihr nicht recht deutlich geworden, sich erklären zu lassen. Mutter und Tochter äußerten sich zuweilen auf eine Weise, die gewissermaßen einige Kenntniß von dem geheimen Bunde verrieth.

Wissen die Frauen? fragte, durch alles dieses zweifelhaft geworden, Richard seinen Eugen.

Wissen? erwiederte Eugen lächelnd, die Frage ist schwer zu beantworten. Wissen – was man so eigentlich wissen nennen kann – das gewiß nicht, und das kannst Du auch mit Deiner Frage nicht meinen. Aber Frauen sind nun einmal ihrer Natur nach die ächten wahren Inspirirten, das ist ein von den Göttern ihnen Gegebenes. Sie haben nicht nöthig etwas zu lernen oder zu[280] erfahren, um es zu wissen; auch wissen sie eigentlich meistens blutwenig, aber sie ahnen alles; die Ungebildeteren unter ihnen nennen das im gemeinen Leben: merken. Indessen sehe ich doch nichts Außerordentliches darin, daß meine Mutter und Schwestern sich lebhaft für Dinge interessiren, über welche sie meinen Vater täglich sprechen hören.


Geh' nur, Richy, geh', Du machst mir nichts mehr weiß; Du hast kein Herz für mich, wie ich für Dich es habe. Du hast sehr viel Verstand, Du bist sehr klug, sehr gelehrt, der arme Iwan ist das alles nicht. Aber ich trage mein Herz auf meiner Hand; ich bin nicht geheimnißvoll wie Du; aber wer mich liebt, den liebe ich wieder, und der kann sich auf mich verlassen, in jeder Gefahr.

Gieb Dir keine Mühe, rede mir nichts ein,[281] es hilft Dir nichts; fuhr Iwan fort, als Richard versuchen wollte, seinen schmollenden Freund zu versöhnen, den seit geraumer Zeit etwas vernachlässiget zu haben, er sich bewußt war. Ich weiß Du traust mir nicht, aber Du sollst erfahren, daß auch Iwan schweigen kann. Hinterm Berge wohnen auch Leute, und es ist noch nicht aller Tage Abend. Ich weiß mehr als Du glaubst, aber fürchte Du nur nichts von mir, geh' Du nur ruhig zu Deinen Kneesen und Grafen.

Warum sieht man Dich nicht mehr bei unserm Kapellmeister? schalt Iwan weiter, ohne auf Richards Entschuldigungen hören zu wollen; ist es recht, ist es billig, brave Leute, die Dich herzlich lieb haben, einen Abend nach dem andern vergeblich auf sich warten zu lassen? Julie ist sehr schlecht auf Dich zu sprechen, Frau Karoline auch. Lange, die ehrliche Seele, nimmt allein noch Deiner sich an, und weiß immer noch etwas aufzufinden, das Dich entschuldigen[282] soll. Nun wie steht es, kommst Du heute Abend?

Heute, gerade heute Abend? stotterte Richard verlegen.

Du kommst nicht, das habe ich mir schon gedacht, lachte Iwan spottend. Nun gleichviel, heute Abend sehen wir uns doch.

Das wird kaum möglich sein, erwiederte Richard etwas kleinlaut; dringende Geschäfte – aber nächstens, morgen Abend gewiß. Ich fühle ordentlich eine Sehnsucht, mich von Frau Karolinen ausschelten zu lassen; wie die liebe Sonne nach einem derben Gewitterregen, zeigt auch sie sich hernach nur um so wärmer und freundlicher. Also morgen, lieber Iwan, morgen Abend.

Morgen halte es wie Du willst, ich sehe Dich noch heute Abend, verlaß' Dich darauf; rief Iwan im Fortgehen ganz trocken ihm zu.

Richard schaute betroffen ihm nach; das Benehmen, das ganze Betragen des Freundes schien[283] auf unbegreifliche Weise verändert. Ist er in den wenigen Monaten mir doch wie verwildert! ich habe zu lange, zu anhaltend ihn vernachlässiget, und was er von nun an auch beginnen mag, ich habe es verschuldet; sprach Richard reuevoll zu sich selbst.

Eine für diesen Abend angesagte große Bundesversammlung, die abermals nur zur Aufnahme mehrerer neuer Mitglieder Statt finden sollte, hatte Richard verhindert, auf Iwans Vorschlag einzugehen. Spät gekommen, drängte er sich mißmüthig durch die Reihen der Aufzunehmenden, ohne sie anzusehen, und entdeckte, als die Ceremonie begann, zu seinem höchsten, wahrlich nicht angenehmen Erstaunen, seinen Freund Iwan mitten unter ihnen. Eine ganz eigne, fast komische Mischung von Trotz und Schalkheit lag in dem sarkastischen Lächeln, mit welchem dieser im Vorübergehen verstohlen zu ihm aufblickte. Mark und Bein durchzuckend, stieg ein unbeschreiblich[284] bängliches Gefühl bei diesem Anblicke in Richards Seele auf; ihm war als sähe er den Freund in dringender Gefahr, als müsse er bei den Haaren von dem Platze, wo er eben stand, ihn fortreißen. Aber es wollte sogar den ganzen übrigen Abend hindurch ihm nicht einmal gelingen, sich Iwan zu nähern; Torson oder Lunin hielten abwechselnd eine Art Wache über ihn, einer von diesen blieb fortwährend ihm zur Seite, und als spät nach Mitternacht die Versammlung aufgehoben wurde, und Richard seinen Freund aufsuchte, in der Hoffnung ihn auf dem Wege nach Hause zu begleiten, war er mit jenen beiden ihm völlig aus den Augen entschwunden.


Iwan! Iwan! was hast Du gethan, ohne Dich vorher mit mir zu berathen; rief Richard am folgenden Morgen seinem Freunde zu, als[285] er nach langem vergeblichen Suchen ihn endlich antraf, eben im Begriffe sein Pferd zu besteigen.

Richy, Richy! was hast Du unterlassen, ohne Dich im geringsten um mich zu bekümmern, antwortete dieser ihn parodirend, und galoppirte davon.

Trübe und gedankenvoll eilte Richard jetzt zum Kapellmeister Lange, um wo möglich dort einige Aufklärung über Iwans auffallend seltsames Betragen gegen ihn zu erhalten. Nicht ohne einiges Herzklopfen betrat er das Zimmer, in welchem er die beiden Eheleute allein traf, aber der Empfang, der ihm von ihnen wurde, übertraf all sein Hoffen und auch sein Verdienst, wie er selbst reuevoll gestand. Der kleine Kapellmeister war über das Wiedererscheinen des Hausfreundes zu erfreut, um des langen Außenbleibens desselben zu gedenken; er gerieth in eine wahre Entzückungswuth; sang, jubelte, tanzte, die rothsammtne Troddelmütze flog von einem Ohre zum[286] andern, Frau Karoline konnte vor Lachen über die possierlichen Freudenbezeigungen ihres Eheherrn gar nicht dazu kommen, dem Frevler gebührend den Text zu lesen, wie sie es sich doch fest vorgenommen hatte.

Übrigens kam keiner von diesen Dreien diesmal zu einem vernünftigen Worte; ein Fragen, ein Erzählen ohne Ende begann, keiner hörte auf den andern, aber sie verstanden sich doch.

Und abermals war Richard bei diesen so ganz menschlichen Menschen in liebender Wärme das Herz aufgegangen. Als er wieder in seiner Wohnung sich befand, schwur er sich selbst es zu, diese treuen Freunde, es komme wie es wolle, sich zu erhalten, sie nie wieder zu vernachlässigen, sich in diesem heitern bürgerlichen Stillleben zum Widerstande gegen jene Hoffnungsphantome zu erkräftigen, die, in Regenbogenfarben glänzenden Seifenblasen ähnlich, ihn wachend und im Traume umtanzten, und die ein[287] einziger Hauch vernichten konnte. Doch leider hielten solche Entschlüsse in Richards Seele nie Stand; mochte er noch so eifrig sich ermahnen, vernünftig zu sein, unwiderstehlich zog es ihn in jene Pracht, in welcher in all' ihrer äußern und innern Glorie Helena thronte, und die arme hülflose Vernunft immer tiefer und enger von dem goldnen Netze der Wahrscheinlichkeiten umstrickt wurde, das rings um ihn her sich erhob.

Den ganzen übrigen Tag suchte Richard vergeblich seinen Iwan auf; am Abend kehrte er zu seinen wieder neugewonnenen Freunden zurück, in der festen Überzeugung, ihn doch gewiß dort, im gewohnten, ihm so lieben Kreise anzutreffen; auch glaubte er wirklich beim Eintreten in das Zimmer ihn neben Julien in der entferntesten Ecke desselben zu erblicken, und eilte freudig auf ihn zu, fuhr aber erschrocken, wie beim unerwarteten Anblicke einer giftigen Schlange, gleich wieder zurück.[288]

Nicht Iwan war es, der entfernt von der übrigen Gesellschaft, in dem traulichen Eckdivan neben der Geliebten saß, der nur eben für zwei Personen Raum bot; Torsons verhaßte Züge starrten ihm entgegen, das Gesicht jenes Abenteurers, von dessen Identität mit dem grünbebrillten Baron vom Spieltische er noch immer fest überzeugt war. Da saß der Widerwärtige, traulich-dicht neben Julien, betrachtete sie mit süßlächelnder Protektions-Miene, und spielte mit den schlanken Fingern ihrer zarten Hand, an welchen juwelenreiche Ringe ihm entgegen blitzten, die Richard an dem jungen Mädchen nie zuvor gesehen. Im Ganzen war mit ihrem Äußern eine bedeutende Veränderung vorgegangen, die bürgerliche Einfachheit ihrer Tracht war verschwunden, sie war reich gekleidet, und mit einer Reihe sehr schöner Perlen um den Hals, diamantnen Ohrringen und einer schweren goldnen Kette geschmückt.[289]

So geputzt saß sie da, wie eine junge Braut, die halb verlegen, halb geschmeichelt, auf das angelegentliche Geflüster des ältlichen ungeliebten Mannes lächelnd horcht, der Rang und Reichthum ihr zu Füßen legt, um derentwillen sie die Forderungen des eignen jugendlichen Herzens zu ersticken bemüht ist.

Da hast Du ihn, den Wildfang! rief Lange, der leise herbei geschlichen war, und jetzt Richard dicht vor Julien hinschob; Strafe muß sein, aber verfahre gnädig mit ihm, denn er bereut und will sich bessern. Dann, als ob er sich plötzlich besönne, nahm der Kleine ein gewisses förmliches Wesen an, das ihm sonst nicht eigen war; Herr Torson, ein neugewonnener Freund unsres Hauses, Herr Richard Wood, den Herr Torson noch nicht bei uns gesehen; sprach er, die beiden Männer einander vorstellend.

Steif und stumm verbeugte Richard sich fast unmerklich.[290]

Ich wünschte mir früher schon das Vergnügen – erwiederte Torson sehr höflich, und streckte die Hand aus, um nach englischem Gebrauche Richards Hand zu schütteln; Richard reichte sie ihm nicht, er zog sie zurück. Julie und Lange sahen einander und ihn verlegen an, ein paar Secunden herrschte ängstliche Stille, bis Torson in überlautes Lachen ausbrach.

Bei meinem Leben! rief er und wischte sich die vor Lachen thränenden Augen, bei meinem Leben, mein Doppelgänger, um den ich schon so viel leiden mußte, der sogenannte grünbebrillte Baron fängt wieder an zu spuken. Wäre es möglich! auch ein Mann von dem ausgezeichneten Geiste des Herrn Wood kann in solchen Irrthum verfallen? Die Ähnlichkeit, die auch Sie bis zu einem solchen Grade täuschen kann, muß in der That sehr groß sein. Möchte es mir doch nur einmal in meinem Leben gelingen, der seltsamen Erscheinung gegenüber zu stehen, die überall[291] wo ich hinkomme sich gezeigt hat, und nur mir allein unsichtbar bleibt.

Die Erfüllung dieses Wunsches wird Ihnen schwerlich jemals werden können; sprach Richard ironisch lächelnd.

Das sehe ich nicht ein, erwiederte der gutmüthige Kapellmeister; ist er doch schon einmal in Petersburg gewesen; so viel ich weiß ist kein Grund vorhanden, der ihn verhindern könnte wiederzukommen. Auf dem Theater haben die Ähnlichkeiten mir Langeweile genug gemacht, aber wenn so ein Paar einander durchaus gleiche Menschen im wirklichen Leben vor mir stünden, das wäre doch eine Lust!

Nun wenn ich den vermaledeiten Popanz einmal wirklich antreffe, so möchte der Spaß nicht sehr lustig ausfallen, nahm Torson wieder das Wort; ich bin eben nicht streitsüchtig, aber Mord und Todtschlag wäre hier unvermeidlich. Ich schieße ihn nieder, um einmal Ruhe vor ihm[292] zu bekommen – oder vielleicht auch, er mich: setzte er hinzu.

Das möchte ich sehen, wenn solch ein paar Leute auf einander schießen wollten, von denen man gar nicht sagen kann, welcher welcher ist! rief Lange sich fröhlich die Hände reibend. Ich wette keiner von Ihnen hätte das Herz dazu, es müßte ihnen ja vorkommen als ob sie nach sich selbst zielten. Aber da schwatzen wir, und am Ende wäre die Ähnlichkeit doch nicht so täuschend, wenn man beide neben einander sähe. Was sagst Du dazu, Julie, Du hast ja auch den Baron gesehen?

Und bei meinem ersten Besuche hielt sie mich ja ebenfalls für denselben; sprach Torson.

Nur das allererstemal, der Unterschied fiel mir aber bald auf, erwiederte Julie. So viel Angst und Dämmerung an jenem Abende mich bemerken ließen, ist Herr Torson größer, auch jünger, sein Haar ist viel dunkler. Die größte[293] Verschiedenheit aber finde ich in der Sprache und im Tone der Stimmen; des Barons Stimme ist viel tiefer und rauher, er drückte sich mit großer Geläufigkeit in deutscher Sprache aus; Herr Torson spricht zwar auch deutsch, aber fremdartig, gezwungen, möchte ich sagen, als würde es ihm etwas schwer.

Das wird es auch: sprach Torson: es ist nicht meine Muttersprache, sondern eine erlernte, ich bin ein Norwege, wie Sie wissen. Übrigens mag der Empfehlungsbrief, der hier bei Herrn Lange mich einführte, Herrn Wood jeden Zweifel über meine Persönlichkeit benehmen, wenn er etwa dergleichen noch hegen sollte: setzte er, stolz sich in die Brust werfend, hinzu.

Richard beachtete dieses nicht, ein andrer Gegenstand nahm seine Aufmerksamkeit in Anspruch. Er sah Iwan Arm in Arm mit Lunin in das Zimmer treten, beide in überlustiger aufgeregter Stimmung, und es fehlte nicht viel, so hätte er[294] vor Schrecken laut aufgeschrieen; Lunin, der freche übermüthige sittenlose Geselle in diesem Hause! es war unbegreiflich.

Nun, endlich hast Du Dich doch wieder einmal hergefunden! flüsterte Iwan ihm zu, indem er ganz nahe an Richard vorüberstreifte, um zu Julien zu gelangen. Der Hausherr nahm Lunin sogleich mit großem Vergnügen in Empfang, und fing an allerlei lustige Possen mit ihm zu treiben, die andeuteten, daß er ein hier wohlbekannter, gerngesehener Gast sei, der sich schon etwas herausnehmen darf.

In fast ängstlicher Spannung suchte Richard Frau Karoline auf, um vielleicht von ihr einige Erklärung all' des Räthselhaften zu erhalten, das an diesem Abende ihm hier sich entgegendrängte. Doch Torson trat ihm in den Weg, ehe er zu ihr gelangen konnte, und bat höflich, aber dringend, auf ein paar Augenblicke in ein anstoßendes Kabinet mit ihm zu treten.[295]

Sie grollen mir, fing Torson und zwar in englischer Sprache an, als beide allein waren und er sich sorgfältig umgesehen, ob man sie nicht belausche; Sie grollen mir, Herr Wood, weil ich Ihrem eigenen Vorsatze zuvorkam, indem ich Ihren Freund unserm Bunde zuführte; aber Sie bedenken nicht, daß sowohl ich, als unsre Brüder, gerechte Ursache hätten, uns darüber zu beklagen, daß Sie selbst ein so würdiges Mitglied desselben uns zu lange vorenthielten.

Sollte der Rath der Alten über diese Säumniß mich zur Rechenschaft ziehen wollen, so werde ich ihm, aber keinem Andern der sich dessen erkühnen möchte, Rede stehen: war Richards kurze kalte Antwort.

Mir wenigstens wird dergleichen nie einfallen, sprach Torson sehr höflich. Was ich sagte, war nur eine etwas ungeschickte Einleitung zu dem, was ich Ihnen sagen wollte, die ich in der Verlegenheit ergriff.[296]

Verlegenheit und Torson! erwiederte Richard, spöttisch lächelnd.

Ich gestehe gern, daß ich eben nicht gewöhnt bin vor Männern verlegen zu stehen: antwortete Torson: aber ich leugne auch nicht, daß ich jetzt Ihnen gegenüber es bin; nicht, weil ich Sie fürchte, sondern weil ich gerade mit Ihnen gern in Frieden leben möchte, und doch weiß, welch ein ungegründetes Vorurtheil Sie gegen mich gefaßt haben. Ich will mir nicht anmaßen gleich einem Engel des Lichtes Ihnen zu erscheinen, aber Sie sollen auch nicht den schwarzen Dämon in mir sehen, der ich nicht bin, und für den Sie dennoch mich halten.

Desto besser für Sie, wenn Sie es nicht sind, und ich gratulire auf den Fall von Herzen: erwiederte Richard spöttisch lächelnd; aber jetzt bitte ich doch zum Zwecke zu kommen, meine Zeit ist gemessen, wie meine Geduld. Was verlangen[297] Sie von mir? denn etwas werden Sie doch verlangen.

Torsons Züge zuckten krampfhaft bewegt, er biß sich in die Lippen, seine immer unstäten Augen sprühten ein seltsam flackerndes Feuer; aber er fuhr sich schnell mit der Hand übers Gesicht, und stand im nächsten Augenblicke mit dem gewohnten stereotypen Ausdrucke seiner Miene wieder da.

Sie haben es errathen; ich habe zweierlei von Ihnen mir zu erbitten, was mir wichtig ist; sprach er, anscheinend ruhig. Zuerst daß Sie, bei näherer Bekanntschaft mit mir, die Sie, wie alles jetzt steht, doch schwerlich werden vermeiden können, daß Sie, sage ich, sich die Mühe nehmen wollen mich genauer zu beobachten, um das mir eben so ungünstige, als in sich ungerechte Vorurtheil gegen mich zu besiegen, oder doch zu berichtigen; und nächstdem, daß Sie in diesem Hause allen, ohne Ausnahme, verschweigen,[298] daß wir hier nicht zum erstenmal uns antrafen.

Herr Torson kann überzeugt sein, daß es mir nie und nirgends einfallen wird, mich seiner früheren oder späteren Bekanntschaft zu rühmen; erwiederte Richard, ziemlich wegwerfend. Sein ganzes Betragen hatte den Schein, als suche er Händel mit einem Menschen, von dem er selbst nicht wußte ob er ihn mehr hasse oder verachte.

Torson zuckte abermals, faßte sich aber schneller als zuvor. Erlauben Sie mir Ihnen bemerkbar zu machen, sprach er so gelassen als möglich, daß außer Ihnen, Ihrem Freunde Iwan, mir und Lunin, Niemand von dem glorreichen Unternehmen, zu welchem wir uns vereinigt haben, in diesem Kreise die kleinste Ahnung hat. Ich bitte, ich beschwöre Sie, es dabei bewenden zu lassen. Ohne meine Vergünstigung darf Lunin sich nicht regen, er ist ganz in meiner Gewalt; Iwan ist durch seinen Eid gefesselt,[299] den er treu halten wird. Ihm, dem im ersten Grade des Bundes Aufgenommenen, ist es nach unsern Statuten noch nicht erlaubt, neue Mitglieder für diesen zu werben. Von Ihnen und mir allein hängt es also ab, jede Kenntniß unsres großen Geheimnisses von unserm gemeinschaftlichen Freunde, dem Kapellmeister Lange fern zu halten. Lassen Sie uns wenigstens in diesem Punkte eines Sinnes sein, vereinigen Sie nur in diesem einzigen sich mit mir, den heitern Sinn, die beneidenswerthe Ruhe dieses zufriedenen, stets fröhlichen Gemüths nicht durch Dinge zu trüben, die – –

O gewiß, gewiß! fiel Richard eilig ein, und reichte ihm sogar in freudiger Vergessenheit die dem Verhaßten früher verweigerte Hand, welche dieser aber nur eben berührte, ohne sie zu fassen. Die gute freundliche Seele! was sollte die in unsrer geheimnißvollen Mitte! fuhr Richard fort: Nein, Lange darf nie in jenes zweideutige, dunkle,[300] unruhige Treiben gezogen werden; frei, offen, sorglos, muß er seinen harmlosen Gang durchs Leben gehen. Und möge er einst in Freuden ernten, wo wir in Dunkelheit säeten. Wenn es wirklich noch zu einer erfreulichen Ernte einst kommen sollte! setzte er fast unhörbar hinzu.

Torson erwiederte keine Sylbe, Richard schwieg ebenfalls. Dann nahm er wieder das Wort:

Ich will über ihn wachen, ich will mit aller Anstrengung zu verhindern suchen, daß kein Laut von dorther bis zu ihm durchdringe, das gelobe ich bei Allem, was mir heilig und werth ist, und fordre das Nämliche von Ihnen.

Torson versprach unbedingt, was er verlangte.

Sollte er jedoch, ohne daß ich es erführe, ohne daß ich es verhindern könnte, wider meinen Willen in jenen Bund gezogen werden, dann Torson, mächtiger Mann, der über Lunin und andre ähnlichen Gelichters unbeschränkte Gewalt zu üben sich rühmt, dann sind Sie, Sie allein[301] mir dafür verantwortlich; setzte er, plötzlich in lange unterdrücktem Zorne aufflammend, hinzu, und entfernte sich.


Gleich der guten Stunde erscheinen Sie; unerwartet, aber nicht unerwünscht, und sind deßhalb nur um so schöner willkommen: rief am folgenden Morgen Frau Karoline Richard entgegen, der, nach vielen mißlungenen Versuchen, am vorigen Abende es endlich aufgegeben hatte, zu einem ruhigen Gespräche mit ihr zu gelangen. Die Zeit hat mich in dergleichen Unterhandlungen ein wenig aus der Übung gebracht, fuhr sie im heitersten Humor fort; ich quälte mich so eben mit Ausdenken, wie ich es anfangen könnte, Sie ohne Vorwissen meines Eheherrn zu einem Stelldichein zu laden, und nun überheben Sie ganz von selbst mich der Mühe. Aber Moderation, Moderation, Falkenstein! Er liebt mich so[302] zärtlich, es rührt ihn der Schlag! trillerte sie lachend, in die Rolle der Tante im Matrimonio Secreto, eine ihrer liebsten, sich versetzend, während Richard ganz verlegen sie anstarrte.

Ungeachtet seiner innern Beklommenheit konnte aber auch er das Lachen nicht lassen; die bängste Sorge, um einen Freund – stotterte er endlich.

Das ist der Punkt, vom dem ich reden wollte: unterbrach Frau Karoline ihn, pathetisch tragirend, winkte ihm, sich traulich neben ihr nieder zu lassen, und fuhr dann, ganz ernsthaft, zu ihm zu sprechen fort:

Wir, ich und mein Mann nämlich, oder vielmehr mein Mann und ich, haben bis jetzt, in Hinsicht auf unsre Julie, in einem gewaltigen Irrthume gestanden, dem auch Sie, und durch Sie ihren Freund Iwan zu entreißen, mir Gewissenssache ist. Wir meinten das Mädchen sei die verwaisete Tochter eines Freundes, unseres[303] Bruders in Königsberg, deren er menschenfreundlich sich angenommen. Ihre Stellung in der Welt schien eben nicht zu großen Ansprüchen sie zu berechtigen. Ihr Vormund hatte seine Rechte auf uns übertragen, wir sahen deshalb Iwans Bewerbungen um ihre Gunst mit Zufriedenheit zu, und hatten auch nichts gegen die später aufflammende gegenseitige Neigung des jungen Paares. Lieben sie sich, was geht das uns an, dachten wir, mögen sie sich immerhin lieben: eine ächte Jugendliebe bewahrt vor weit schlimmern Thorheiten; dagegen aber ist ein junges unbeschäftigtes Herz, besonders ein Mädchenherz, das gefährlichste Ding von der Welt. Löset diese erste Jugendliebe sich später in Rauch und Nebel auf, je nun! sie sehen mir beide nicht darnach aus, als ob sie vor Herzweh' darüber sterben würden; und bewährt sie sich als eine ächte Liebe wie sie sein soll, so kann ja mit der Zeit auch eine Ehe wie sie sein soll daraus werden,[304] beide sind jung und können es abwarten. So philosophirten wir, und eben nicht unvernünftig, meine ich. Doch mit dem Allen ist es nun rein aus und vorbei, und unsere Weisheit ist zur Thorheit worden. Dieses, und manches Andere was noch darum und daran hängt, mußten Sie durch mich, und soll ihr Freund durch Sie erfahren, damit wir kein Unglück er leben; wie Sie es ihm beibringen wollen, sei Ihnen überlassen.

Julie ist Torsons Braut? rief Richard, aufflammend in heftigem Zorne.

Warum nicht gar! so weit sind wir noch lange nicht, war die sehr gelassene Antwort. Was, wer, wohin, woher sie ist, wissen weder ich, noch mein Kapellmeister, noch Julie, noch ihr Vormund in Königsberg, es ist damit wie mit der Höhe des Berges Sinai. Niemand weiß es als Torson, das übrige steht bei den Göttern, setzte sie singend hinzu, von neuem in theatralischen Muthwillen verfallend.[305]

O liebe gütige Frau! nur jetzt keine Räthsel, keine Scherze, sie peinigen mich furchtbar: flehte Richard.

Nun dann, also ganz plane, im Geschichtsstyle meiner Mutter Gans, erwiederte sie, sich zusammennehmend, und setzte wie eine Mährchenerzählerin ganz gravitätisch sich zurecht. Sechzehn Jahre mögen es her sein, als unsrem Bruder in Königsberg von unbekannter Hand ein kleines zweijähriges Mädchen ins Haus prakticirt wurde, mit ihr zugleich eine nicht ganz unbedeutende Summe Geld, der Abdruck eines wunderlich verschnörkelten Siegels, auf welchem kein Buchstabe sich entziffern ließ, und ein Brief, in welchem er gebeten wurde Vormundsstelle bei dem Kinde zu vertreten, es von dem Ertrage des Kapitals einfach bürgerlich zu erziehen, über die Art, wie es in sein Haus gekommen, gegen Jedermann, wie auch gegen das Mädchen selbst, das strengste Stillschweigen zu[306] beobachten, den Abdruck des Siegels wohl zu bewahren, und die Zeit abzuwarten, bis Jemand käme, der ein Schreiben von der nämlichen Hand, und den genau auf das Siegel passenden Siegelring ihm überbrächte. Was dann ferner mit dem Kinde geschehen solle, würde aus jenem zweiten Briefe sich ergeben. Unser Bruder hat, was von ihm gefordert wurde, so gewissenhaft erfüllt, daß selbst wir dieses alles erst jetzt von ihm erfahren haben.

Ungemein romantisch! rief Richard in bitterm Unmuthe; und Herr Torson sind wahrscheinlich der Überbringer des verhängnißvollen Siegelringes?

So ist's, mein Feldherr, erwiederte Frau Karoline nach gewohnter Art.

Und hat erklärt, daß er gekommen sei, Julien zu ihren Eltern abzuholen? fragte Richard.

Das noch nicht, das wollen wir abwarten; ist's erst gethan, wird's auch zur Sprache kommen;[307] war die Antwort der kleinen Frau, der es nun einmal unmöglich schien, lange über einen Gegenstand mit gebührendem Ernste zu sprechen.

Aus Verdruß darüber stampfte Richard ein klein wenig mit dem Fuße, bedachte sich aber gleich wieder eines Bessern; also Julie ist eine anonyme Prinzeß? fragte er wieder.

So gründlich anonym, daß sie selbst nicht weiß wer sie ist, noch wie sie heißt; erwiederte Frau Karoline.

Und dieser vermaledeite Torson ist ebenfalls solch ein anonymes Räthsel! rief, bleich vor Zorn und mit den Zähnen knirschend, Richard, der sich nicht mehr zu fassen im Stande war.

Moderation, Moderation, sonst nehme ich mir ein Herz und laufe davon; ermahnte seine Freundin.

Wie fing er es an, um in dieser anmaßenden Stellung in Ihrem Hause festen Fuß zu fassen? Was wissen Sie Bestimmtes, was glauben,[308] was halten Sie von ihm? Was steht in dem Empfehlungsbriefe, den er mitbrachte, und auf welchen er bei jeder Gelegenheit sich beruft? Aus Barmherzigkeit sagen Sie mir Alles! Um Juliens, um meines Freundes, um Ihrer selbst willen, verheimlichen Sie mir nichts, flehte Richard; der Elende betrügt Julien, meinen Freund, Sie, mich, uns Alle. Er ist, ich bleibe fest dabei, er ist der Spieler, der grünbebrillte, der Julien der Frau Marina überliefern wollte. Und wenn er mit tausend heiligen Eiden es abläugnet, ich setze mein Leben zum Pfande, es ist wie ich sage.

Eile mit Weile, Eile mit Weile, sagte der Imperator – können Ew. Wohlgeboren mir nicht sagen, welcher Imperator zuerst gesagt hat, Eile mit Weile? erwiederte die muthwillige Frau; aber sie wurde gewahr, in welchen furchtbaren Zustand Richard dar über versetzt wurde, und lenkte gleich sehr besonnen wieder ein.[309]

Ereifern Sie sich nicht über die alberne Thörin, sprach sie begütigend; sie ist nun einmal wie sie ist, aber sie meint es ehrlich und wird, Ihnen zu Gefallen, sich eines vernünftigen Ernstes befleißigen, wenn es gleich gegen ihre Natur geht. Also, pro primo, wie kam Torson in unser Haus? Unvermuthet und unerwartet, »wie aus himmlischen Höhen die Stunde des Glückes erscheint«; oder, wenn Ihnen das besser gefällt, wie eine Bombe durchs Fenster, die innerlich zischend und kochend eine Weile daliegt, bis sie platzt und Unheil und Verderben um sich verbreitet. Er brachte einen Brief von Juliens Vormund, der das wenige enthält, was ich von dem bisherigen Geschicke des jungen Mädchens Ihnen eben mitgetheilt habe, und uns meldet, Herr Torson, aus Drontheim, habe den bewußten Siegelring und das früher angekündigte Schreiben mitgebracht, das neben dem Ringe als Abgesandten der Personen, von denen Julie[310] abhängt, ihn genügend legitimirt; auch ihren bisherigen Vormund auffordert, diesem würdigen, vortrefflichen, seiner Tugenden und liebenswürdigen Eigenschaften wegen nicht genug zu empfehlenden Manne, alle seine Rechte auf seine bisherige Mündel abzutreten, wozu er denn auch, wenn gleich sehr ungern, sich verstanden hat, und uns nun bittet, seinem Beispiele zu folgen.

Und Sie werden es? Um der ewigen Barmherzigkeit willen, sagen Sie Nein!

Mein Kapellmeister, die gute, arglose, jeder Disharmonie feindliche Seele, ist immer nur allzu geneigt, fünfe für gerade gelten zu lassen, und ließe sich wohl mit dem Allen zufrieden stellen besonders da er noch keine Anstalten sich Juliens zu bemächtigen sieht. Daß aber ich auf eine solche anonyme Empfehlung aus der dritten Hand keinen besondern Werth legen werde, trauen Sie mir hoffentlich zu. Indessen, kommt Zeit, kommt Rath.[311]

Das ist nun einmal wieder solch ein Sprüchwort, das! – fuhr Richard auf, dessen Ungeduld jetzt den höchsten Grad erreicht hatte; die Zeit kommt gewiß, der Rath aber gewöhnlich erst hinterdrein, wenn die Zeit sich nicht mehr einholen läßt. Aber weiter, weiter, wie beträgt sich Torson gegen Julien, was scheint sie von ihm zu halten?

Zuerst blutwenig, beim ersten Auftreten mißfiel er ihr durchaus, aber der Mensch ist wahrscheinlich ein lappländischer Zauberer, denn mit rechten Dingen kann dergleichen nicht zugehen. Kaum daß er eine ziemlich lange Unterredung unter vier Augen mit ihr gehabt hatte, die er beinahe erzwingen mußte, so erschien sie mit einemmale wie umgewandelt. Sie hat nur Augen und Ohren für ihn, ist für ihn die personificirte Hingebung, hängt an seinen Blicken, duldet daß er ihre Hände küßt, ihr Wangen und Arme streichelt, nimmt Geschenke von ihm an,[312] putzt sich damit, nach seiner Anordnung. Gegen uns aber, besonders gegen mich, ist sie zurückhaltend, und doch dabei so gut und lieb. Will ich forschen, warnen, ermahnen, was ich doch wahrlich nicht ganz lassen kann, indem ihr Schicksal mir sehr am Herzen liegt, so fällt sie mir um den Hals, antwortet keine Sylbe, läßt schweigend alles über sich ergehen; aber in ihren guten treuen Augen liegt eine so rührende Bitte um Schonung – dem widerstehe, wer da kann, mir bricht das Herz dabei.

Und Iwan! Iwan! duldet er das alles?

Auch ihn hat der lappländische Hexenmeister umstrickt, er ist wie mit Blindheit geschlagen, war die Antwort; er ist der unerklärlichen Macht dieses Menschen dermaßen verfallen, daß er nichts sieht noch hört, als was jener ihn sehen und hören lassen will. Torson ist listig und fein genug, um in Iwans Verhältnisse zu Julien keinen sichtbaren Zwang eintreten zu lassen, und[313] das beruhigt diesen. Zwar ist er nie mit Julien allein, Torson steht immer als dritte Person zwischen den beiden, weiß sie aber so zu leiten, daß er nie störend erscheint.

Nirgends, nirgends ein Ausweg! ich fange an die ganze Gewalt des Zaubers zu begreifen, dem Iwan verfallen ist; es giebt Dinge, Verhältnisse, theure Freundin, die ich nie gegen Sie aussprechen darf, und eben deshalb sehe ich keine Hülfe! klagte Richard, und ging trostlos die Hände ringend, im Zimmer auf und ab.

Sie können viel, Sie können Alles, wollen Sie nur; jeder kann was er will, wenn er recht will; erwiederte Frau Karoline mit großem Ernste, der ihr seltsam genug stand, aber eben deshalb um so imposanter auf Richard wirkte. Für Julien sein Sie unbesorgt, die steht unter meiner Obhut, ich wache über sie; jener Elende soll sich ihrer nicht bemächtigen, und müßte ich selbst mich zu den Füßen unsers Kaisers werfen, um[314] seinen Schutz für sie aufzurufen. Sie aber sorgen für Ihren Freund; verlieren Sie ihn so wenig als möglich aus den Augen; bei seiner und Juliens großen Unbekanntschaft mit der Welt, sind beide ja nur als unmündige Kinder zu betrachten. Wenden Sie alles an, schonen Sie weder Geld noch Mühe, um deutliche, schlagende Beweise beizubringen, daß Torson nicht der ist, der er sein will, sondern vielmehr der, für den Sie, wie auch ich, aus gültigen Gründen ihn halten. Das Nothwendigste aber ist fürs erste, daß Sie den verblendeten Iwan den Schlingen Lunins entziehen, selbst mit Gewalt, wenn es sein müßte. Dieser gefährliche Taugenichts, wenn er nicht noch einen weit schlimmern Namen verdient, den Torson zu nur ihm bekannten Zwecken bei uns einführte, umwindet den Arglosen gleich einer Riesenschlange, und wird von ihm nicht ablassen, bis er jedes edlere Gefühl in seiner Seele erstickt hat. Julie und mein Kapellmeister[315] sehen zwar nur einen harmlosen, mitunter etwas plumpen Spaßmacher in ihm, der sie amüsirt; mir aber grauset's dabei; wenn er seine lustigsten Scherze treibt, grinset eine Teufelsfratze aus seinen Augen mich an, und das Kainszeichen glüht hell und deutlich auf seiner Stirne.

Das Gespräch ging auf diese Weise endlich in gelassenere Berathung über, die aber leider zu keinem bestimmten Resultate führen konnte. Die kluge, welterfahrne Frau ermahnte beiher ihren jungen Freund, ihrem eignen Beispiele zu folgen, in seinem Betragen gegen Torson sich einiger Mäßigung zu befleißigen, und Haß, Argwohn, Verachtung tief in das Innerste seiner Brust zurück zu drängen, um, indem er sich selbst für getäuscht hingab, den schlauen Betrüger wo möglich selbst zu täuschen, oder doch wenigstens die immer rege Aufmerksamkeit desselben von sich abzulenken.

Ich fühle, setzte sie hinzu, daß ich Ihnen[316] etwas zumuthe, was Ihrer offenen, jeder Unwahrheit abholden Natur, durchaus entgegen sein muß, aber wie soll man anders sich helfen? so ganz rein und unbefleckt kommt nun einmal keiner durch dieses Erdenleben, im Umgange mit schlechten Menschen verliert man immer selbst an eigenem Werthe, und wie wäre es möglich dem ganz zu entgehen? Übrigens sehe ich auch darin kein so schreiendes Unrecht, wenn man Leute, die uns übel wollen, mit den nämlichen Waffen bekämpft, die sie gegen uns in Anwendung bringen möchten.

Der Kapellmeister, und, wie zu erwarten stand, Torson mit ihm, stellten jetzt sich ein. Zum erstenmale sah Richard diesen ganz in der Nähe, bei hellem Tageslichte, und meinte deutliche Spuren der unendlichen Sorgfalt zu entdecken, mit welcher vermittelst Anwendung von allerlei Toilettenkünsten er sich bemüht hatte, sein Äußeres durchaus zu verändern. Richard war indessen[317] der eben erhaltenen Ermahnungen noch zu eingedenk, um nicht sein früheres abstoßendes Betragen gegen Torson in gleichgültige Höflichkeit umzuwandeln, und es mißlang ihm nicht. Torson, dem nichts so leicht entging, wurde zwar anfangs darüber etwas stutzig; fein und listig suchte er den Grund dieser Veränderung zu entdecken, aber auch Richard war auf seiner Hut. Ein Wink seiner Freundin munterte ihn auf, die einmal übernommene Rolle durchzuspielen, und er spielte sie gut, ohne Übertreibung.

Richard nahm sogar seinen Hut, um, da beider Weg nach Hause eine ziemliche Strecke lang der nämliche war, Torson zu begleiten, als dieser Abschied nahm. Beide gingen schnell neben einander her, sie sprachen wenig unterweges, bis sie der Stelle sich näherten, wo ihr Weg sich trennte; Torson fing jetzt an langsamer zu gehen, Richard hielt mit ihm gleichen Schritt.

Suchen Sie nur nicht es mir zu verheimlichen,[318] Ihren heutigen Besuch hat Madame Lange mir, und einzig mir zu verdanken, fing Torson plötzlich an; und nur von mir allein ist zwischen Ihnen beiden die Rede gewesen; ich sah noch meinen Namen auf Ihren Lippen schweben, als ich ins Zimmer trat. Ich freue mich darüber, da der Erfolg dieser Unterredung mir, wie es scheint, die Erfüllung des Wunsches verspricht, Sie in Zukunft wenigstens nicht feindlich mir gegenüber stehen zu sehen.

Sie werden sich erinnern, Herr Torson, erwiederte Richard, daß Sie selbst mich aufforderten, bei unsern Freunden – –

Torson unterbrach ihn schnell: Keine Entschuldigung, wo es deren durchaus nicht bedarf, sprach er freundlich und bot ihm die Hand, welche diesmal auch nicht zurück gewiesen wurde; unsre Freundin hat, wie ich sehe, Ihre Meinung von mir ein wenig berichtiget, ein wenig gemildert; und das verdanke ich ihr von Herzen,[319] nicht nur für mich, auch für Sie, denn auch Sie gewinnen dadurch. Das Übrige, was sonst noch wünschenswerth wäre, überlassen wir indessen der Zeit.

Beide gingen nun eine Weile wieder schweigend neben einander her, bis an den Scheidepunkt; hier stand Torson still und faßte abermals Richards Hand.

Sie sind mein Freund nicht, und werden niemals es werden; aber es wird ein Tag kommen, an welchem ich dennoch in einem andern Lichte vor Ihnen stehen werde, als eben jetzt; sprach er mit eindringendem Ernste. Fleckenlos kann ich niemals, weder vor Gott, noch vor Ihnen, noch vor mir selbst erscheinen; nicht etwa daß ich dieses im Sinne des allgemeinen Bekenntnisses der Christen sage, als: wir sind allzumal Sünder und mangeln des Ruhms! Nein, Schwereres lastet auf mir; das Schicksal hat auf weit dunkleren Wegen, als tausend Andre[320] mich geführt, und es giebt Punkte in meinem Leben, von denen ich gern auf ewig mich abwenden möchte. Nur Eines, ein Einziges wird mir dereinst Ihre Achtung und zugleich Ihr tiefstes Mitleid erwerben, dessen bin ich gewiß, und gerade das, was mich Ihren Augen jetzt am verdammlichsten zeigt; vergessen Sie diese meine Worte nicht, und beurtheilen Sie mich milder. Man erzählt, daß eine ganze sündige lastervolle Stadt um eines einzigen Gerechten willen, der in ihr wohnte, verschont ward; sollten gute, tugendhafte Menschen, wie Sie einer sind, die ein günstiger Zufall der Gefahr eines tiefen Sturzes nie aussetzte, diesem Beispiele nicht folgen, und um eines einzigen, wahrhaft edlen, lobenswerthen Gefühls willen, das selbst mit bedeutender Aufopferung zu einer guten That ihn bewegt, den übrigens tief Gesunkenen nicht schonen wollen? sich nicht hüten, mit unbarmherziger Hand[321] ihn noch tiefer hinabzustoßen, bis jedes Sichwiedererheben ihm unmöglich wird?

Torsons Stimme hatte zuletzt einen ganz eigenen, fast zitternd bewegten Ton angenommen, seine Haltung schien verändert, sein Auge sich zu umdunkeln. Er wandte sich ab, drückte den Hut tiefer in die Stirne, und schritt eilends davon.

Richard stand nachsinnend eine Weile da. Komödiant! murmelte er endlich, und warf mit verachtendem Lächeln den Kopf auf.


Unser Vornehmen ist meistens löblich, aber gelähmt durch mancherlei unvorhergesehene Hindernisse, hinkt leider nur zu oft die Ausführung desselben hinterdrein, und kommt darüber gar nicht zu Stande. Schwache, zur Trägheit hinneigende Naturen pflegen in der ihnen angebornen Gelassenheit sich dann damit zu trösten, daß[322] sie das Beste gewollt, nur daß man unglücklicher Weise nicht immer kann was man will. Feurige Gemüther möchten über alles, was ihnen bei ihrem Vorhaben in den Weg tritt, vor Ungeduld außer sich kommen, arbeiten nutzlos bis zur Ermüdung sich ab, wollen erzwingen was sich nicht erzwingen läßt, gerathen darüber in Hader, Zorn und Mißmuth mit der Welt und mit sich selbst, bis sie endlich aus Überdruß alles lassen wie es ist.

In Richards Thun lag etwas von Beiden. Er nahm sich anfangs vor sehr umsichtig zu Werke zu gehen, besonders gegen Torson. Leise auftretend verfolgte er diesen Schritt für Schritt, hatte überall ein aufmerksames Auge, horchte überall hin, um die Kreuz- und Querschliche seines Feindes ausfindig zu machen. Gehüllt in einen unscheinbaren Überrock, um seine Uniform dadurch zu verdecken, suchte er jene Spielhäuser auf, in welchen er früher den Grünbebrillten angetroffen;[323] doch die Bewohner solcher Orte sind wandelbar, wie das Glück, dessen Priester sie sind. Er fand überall lauter neue Gesichter; von dem, welchen er suchte, wollte keine Seele jemals etwas gesehen oder gehört haben.

Er würde es sogar nicht gescheut haben sich zur Frau Marina zu begeben, um von dieser, durch was für Mittel es immer sei, etwas herauszubringen; aber seit Juliens Zusammentreffen mit ihr, war die gefällige Dame mit ihrem ganzen Institute aus ihrer Wohnung verschwunden, und nie wieder in Petersburg gesehen worden.

Somit war denn jede Spur erloschen, welche die Vergangenheit ihm bieten konnte; Richard hätte darüber mit dem Kopfe gegen die Wand laufen mögen, wie man im gemeinen Leben zu sagen pflegt. Er wandte, unter einem wohl ersonnenen Vorwande, um Nachricht von Torson sich an die Polizei; sie wußte nichts ihm zu sagen, als daß schon vor längerer Zeit[324] ein Norwege Namens Torson, aus Königsberg in Preußen nach Petersburg gekommen sei, wohl versehen mit Pässen, gegen welche sich nichts einwenden ließ; daß er ein durchaus nicht verdächtiges ruhiges Leben hier führe, seinen Wirth und alle Welt ordentlich bezahle, und folglich als eine ganz achtungswerthe, durchaus unverdächtige Person zu betrachten sei.

Mit nicht glücklicherem Erfolge erkundigte sich Richard nach ihm im Postbüreau. Torson erhielt nie Briefe, wenigstens kamen keine unter seiner Adresse an ihn an.

In einer Art wilder Verzweiflung, ließ Richard sich sogar zu einem Schritte herab, den er selbst verächtlich fand, und dessen er vor sich selbst sich schämen mußte; er machte sich an Torsons Diener, den einzigen den dieser hielt, um von diesem etwas zu erforschen.

Der Mensch war ein Stock-Russe, tief aus dem Innern des Landes, und war gleich bei seiner[325] Ankunft in seinen jetzigen Dienst gekommen. Von seinem Herrn wußte er nichts zu sagen, als daß er guten Sold, viel Schnaps und blutwenig Prügel von ihm erhalte, sogar nach Herzenswunsch alle Talglichter getrost verspeisen könne, welche eigentlich dienen sollten, Treppe und Vorsaal zu erleuchten, ohne daß ihm darüber nur ein zorniges Gesicht gemacht würde. Übrigens, wenn er Morgens seinen Herrn an- und Abends wieder ausgekleidet habe, hätte er den ganzen Tag über nichts zu thun als zu essen, sich zu betrinken, den Rausch wieder auszuschlafen, und führe daher bei seinem Gebieter ein Leben, wie die Engel im Himmel. Richard stampfte mit dem Fuße, aber was half ihm das?


Richards Unmuth, über dieses völlige Mißlingen aller seiner Pläne in Hinsicht auf Torson, war gränzenlos, aber das Benehmen seines noch[326] immer geliebten Freundes, den er obendrein von heimlichen Gefahren umringt sich dachte, traf ihn noch schmerzlicher. Iwans Vertrauen wieder zu gewinnen schien unmöglich, soviel er auch sich darum bemühte; denn Iwan hatte nicht sowohl sich von ihm abgewendet, als vielmehr sich von ihm abgewöhnt. Er fühlte nicht mehr das Bedürfniß, Abends dem Freunde alles mitzutheilen, was er den Tag über erlebt, vollbracht, ja sogar was er gedacht, weil Richard mehrere Monate hindurch sich hatte vermissen lassen, gerade in den Stunden, die er sonst täglich mit ihm zuzubringen pflegte.

Der Mensch ist ein Sklave der Gewohnheit, besonders der weniger gebildete; es wurde dem schlauen Lunin ungemein leicht, die in Iwans Herzen wie in seiner Lebensweise aus Richards Abwesenheit entstehende Leere, welche durch das kränkende Gefühl der Vernachlässigung nur noch fühlbarer wurde, nach Gefallen zu benutzen. Neue[327] Bekanntschaften mußten die Lücke ausfüllen, Zerstreuungen, Lustparthien ihn betäuben helfen, bis er keiner einzigen seiner freien Stunden mehr Herr war. Durch Vermittelung seiner neuen Freunde war er abermals in einen Strudel geselliger Freuden gerathen, von denen manche der Art waren, daß er weder vor Julien noch vor Richard sich ihrer hätte rühmen mögen. Auch bewog Lunin durch allerlei Neckereien ihn sehr bald, seinem alten Freunde absichtlich aus dem Wege zu gehen, um den überlästigen Ermahnungen und Strafpredigten des überweisen Herrn Hofmeisters, wie Lunin ihn nannte, auszuweichen; besonders war dies der Fall, wenn Iwan kein ganz reines Gewissen hatte, und der kam leider nur zu oft.

Und so blieb denn Richards treues Bemühen, sich dem irre geführten Freunde wieder zu nähern, ebenfalls ohne Erfolg; nicht nur, daß ihm jeder Versuch, Iwan über Lunins Unwerth[328] die Augen zu öffnen, mißlang, Iwan gerieth jedesmal darüber in kaum zu bändigenden Zorn; und es bedurfte wirklich all' der alten Liebe, die Richard noch in seinem Herzen zu ihm trug, all' des Mitleids, welches diese eben so unbegreifliche als gefährliche Verblendung in ihm erregte, um dabei in leidlicher Fassung zu bleiben, und durch schwer zu erringende Mäßigung einen nie zu heilenden Bruch abzuwenden, der für beide nur höchst verderblich ausfallen konnte.

Iwans Gefühl für Torson schien von dem, was er für Lunin empfand sehr verschieden, es glich mehr scheuer Verehrung als inniger Liebe. Jede Äusserung zum Nachtheil desselben, jedes ihn tadelnde Wort, nahm er als eine ihm selbst widerfahrne Beleidigung auf, und vertheidigte ihn nach besten Kräften mit Gründen oder mit Heftigkeit und Drohungen, wie es eben gehen wollte. Andeutung, oder Anspielungen auf jene oft besprochne Ähnlichkeit, die er nur in sehr geringem[329] Grade zugab, duldete er durchaus nicht; dagegen wurde jedes Wort des hochverehrten Mannes gleich einem weisen, keinem Zweifel unterworfnen Orakelspruche aufgenommen, und wehe dem, der etwas dagegen einzuwenden wagte.

Richard wußte sich endlich nicht anders zu rathen, als daß er auf Torsons sehr vertrautes Betragen gegen Julien ihn aufmerksam machte, auf die reichen Geschenke, welche diese ohne Weigerung von dem fremden Manne annahm, Iwan brach darüber in helles Lachen aus.

Warum, sprach er, sollte sie diese theuern Flitter, die ihr Freude machen und die ich ihr nicht kaufen kann, nicht annehmen? sie werden mit dem größten Vergnügen ihr geboten, und sie braucht nur die Hand darnach auszustrecken, ohne sich dadurch irgend eine Verbindlichkeit aufzuladen. Hast Du denn nicht das nämliche gethan? weißt Du noch an jenem Abende, dem ersten in der Kaserne, wo ich von lauter solchen[330] Kostbarkeiten Dich umringt fand? Und was den vertraulichen Ton betrifft, der Dir so sehr an ihm mißfällt! soll man denn immer aus dem Komplimentirbuche sprechen? ich gestehe es Dir, ich bin des faden geschnörkelten Wesens müde, es thut mir im Herzen wohl, wenn ich einmal ein gerades, aus offner Brust gesprochnes Wort zu hören bekomme. Auf Julie verlaß ich mich, sie ist rein und treu wie Gold; Torfon kommt neben ihr mir vor, wie so ein Onkel aus Mexiko oder Lissabon oder Jamaika, was weiß ich, den wir letzthin auf dem Theater spielen sahen. Gönne doch den beiden ihr unschuldiges Vergnügen an einander! wenn ich es zufrieden bin, was geht es Dich weiter an? Und ich bitte Dich um Gotteswillen, mache Dich nur nicht lächerlich, indem Du mich eifersüchtig machen willst; ich eifersüchtig auf den alten Herrn! trüge ich nur die kleinste Anlage zur Eifersucht in mir, so gäbe es doch noch ganz andere Leute, die zu[331] dieser Albernheit mich bewegen könnten, und das ganz in der Nähe – Du selbst zum Exempel, mein überweiser Freund.


Seit längerer, oder vielmehr seit langer Zeit, hatte keine Versammlung des Bundes Statt gehabt; die Gemüther waren für des Obrist Pestels sonst so mächtigen Einfluß durch nicht ganz erfreuliche Nachrichten etwas weniger empfänglich geworden; denn keiner seiner, als unfehlbar von ihm angekündigten Versuche, aus den in Moskau und andern Theilen des russischen Reichs bestehenden Vereinen zum Wohl des Vaterlandes mit dem Petersburger Bunde der ächten Kinder desselben ein Ganzes bilden zu wollen, war ihm gelungen. Niemand wollte zu jener blinden Unterwerfung unter den Willen des Rathes der Alten sich verstehen, dessen Oberhaupt Pestel, als Präsident desselben, eigentlich[332] war, weil dieser unbedingte Gehorsam zu den gräßlichsten Verbrechen führen konnte.

Der Vorsatz, mit großer Mäßigung und vieler Umsicht zu verfahren, sprach von allen Seiten sich aus. Man wünschte durch Lehre und Beispiel das Volk auf die Verbesserung seiner bürgerlichen Zustände allmälig vorzubereiten, die allgemeine Verbreitung nützlicher Kenntnisse herbeizuführen, die Sitten zu verbessern, und auf Vernichtung alter, tief eingewurzelter Volksvorurtheile hinzuarbeiten.

In diesem Sinne auf die Nation zu wirken, wurde von den edleren und mächtigeren Mitgliedern jener Vereine für allein wünschenswerth erklärt; sie waren bereit, mit aller Kraft zur Erhöhung des allgemeinen Wohlstandes beizutragen, nur mußte jede Gewaltthat vermieden werden; und von einem Eide, der zu willenlosen Werkzeugen sie herabwürdigen sollte, wandten alle mit Entsetzen und Widerwillen sich ab.[333]

Innerlich ergrimmt über diese seinen noch tief verborgenen Plänen entgegentretenden Hindernisse, besaß Pestel, ungeachtet seiner schwererrungenen Selbstbeherrschung, doch nicht immer Kraft genug, um das Gefühl das in ihm tobte ganz zu unterdrücken, wenn er, was wiederholt der Fall war, von dem schlechten Erfolge seiner Unterhandlungen Bericht ablegen mußte.

Die Verblendeten! rief er einst, unwillkürlich von Zorn hingerissen, in einer Versammlung des engsten Ausschusses, in welcher keines der jüngern Mitglieder, folglich weder Richard noch die beiden Söhne des Fürsten Andreas gegenwärtig waren: Die Verblendeten! die Thoren! die nicht sehen, nicht ahnen, daß mit schonendem, einen jeden mit erläuternden Gründen dessen was von ihm gefordert wird bedienendem Geschwätze, hier nichts gethan werden kann. Sie begreifen nicht, daß gerade der Weg den sie einschlagen möchten, zum Gräuel aller Gräuel nothwendig[334] führen muß, zur wildesten Anarchie eines kaum zur Hälfte kultivirten Volkes, wo keiner gehorchen, alle befehlen wollen, bis darüber alles zu Grunde geht, und die Trümmer über Kluge und Narren zu sammen schlagen.

Nein, meine Brüder, Krebsschäden lassen nicht mit Rosenwasser sich heilen; Gehorsam, blinder Gehorsam der rohen Menge, unbekannten Obern und unbekannten Gesetzen auf Tod und Leben gewidmet, ist die einzige solide Basis, auf welche der Grundstein zum Bau allgemeinen Wohls und allgemeiner Freiheit sicher und dauernd gelegt werden kann, müßte selbst einiges Blut dabei als Mörtel dienen. Ist dieses einmal vollbracht, dann ist es an den kundigen Meistern, den Bau im hellen Sonnenlichte weiter zu fördern, ihn zu vollenden, so groß, so strahlend, so herrlich, als menschlicher Sinn und menschliche Kraft es vermögen.

Wie dieser Gehorsam zu erzwingen sei, da[335] er, wie es scheint, in Güte uns nicht werden soll, dem sei von heute an unser angestrengtestes Nachdenken geweiht; jeder von uns möge, bei unsrer nächsten Zusammenkunft, das Resultat seines ernsten Überlegens den Andern zur Berathung darüber mittheilen.

Nur auf eines erlaube ich mir, die Versammlung aufmerksam zu machen. In unsrer nächsten Nähe, in den Reihen unsrer Brüder steht Einer, von der Natur mit Allem ausgerüstet, um uns für diesen Zweck als tüchtigstes Werkzeug zu dienen, und alles niederzuwerfen, was sich uns entgegen stellen möchte. Mit riesengleicher körperlicher Stärke, geistig mit eisernem Willen, mit dem furchtlosesten Muthe, mit einer Brust ohne Erbarmen, sobald es unsrem Bunde gilt, der ihm alles ist, Gott, Religion und Gesetz; mit einem Worte ein Mann, dem außer dem Bunde nichts heilig ist, der das Wort Berücksichtigung nicht kennt, den kein Band an das[336] bürgerliche Leben fesselt, kein Vater, keine Mutter, weder Geschwister noch Verwandte, weder ein Freund noch eine Geliebte. Isolirt wie er, steht und stand vielleicht noch nie einer in der Welt.

Leute die ihn kennen, nennen ihn einen ruchlosen Abenteurer, ich möchte sagen er sei mehr, er sei der inkarnirte Teufel in Person, aber das hindert nichts; uns ist er treu, und wenn die Noth gebietet, darf man wohl die Hülfe böser Dämonen benutzen, sobald man nur der rechten Zauberformel gewiß ist, sie im gehörigen Augenblicke wieder fest zu bannen.

Der den ich meine ist Lunin, der uns allen wohlbekannte. Er hat schon einige ihm ähnliche junge Leute, von denen aber keiner mit ihm auf gleicher Höhe steht, an sich gezogen; andre stehen in der Nähe wie in der Ferne bereit, auf einen Wink von ihm herbei zu eilen, roh, leidenschaftlich, zügellos, voll der ausgesprochensten[337] Lebensverachtung, wie er selbst. Im Nu kann er deren einige Hundert um sich versammeln, die er erbötig ist, unter dem Namen einer verlornen Kohorte, sich selbst an der Spitze, zu unsrer Disposition zu stellen. Kommt nun der große Tag, lassen wir diese Würgengel los, um – –

Ein überlauter allgemeiner Schrei des Entsetzens, des empörtesten. Widerwillens, unterbrach den Redner, und ließ ihn nicht wieder zum Worte kommen; ein Fall, den er noch nie erlebt hatte. Er selbst mochte wohl fühlen, daß er zu weit gegangen sei, daß er von Unmuth und heimlichem Zürnen sich habe verleiten lassen, der ihm sonst eignen Vorsicht zu vergessen und seine Karten aufzudecken, ehe das Spiel gewonnen war. Er wollte wieder einlenken, mildern, erläutern, doch seine Stimme konnte durch das allgemeine aufgebrachte Tosen nicht durchdringen. Eigentlich wurde keine einzelne recht vernehmbar;[338] gleich den empörten Meereswogen stürmten alle durch einander, und nur in Geberden, Blicken und lautem unverständlichem Geschrei sprach das allgemeine Mißfallen sich aus.

Lange währte es, bevor es den Gemäßigsten und Angesehensten gelang, die empörten Gemüther durch ernstes Zureden in sofern zu beschwichtigen, daß sie wieder zu einiger Besinnung gelangten, und die Versammlung ohne förmlichen Bruch auseinander ging. Obrist Pestel aber hütete sich weislich dafür, sie so bald wieder zusammen zu berufen, und überließ es inzwischen der Zeit, den üblen Eindruck, den sein letzter Vortrag hinterlassen hatte, wieder zu verlöschen.


Richard war durch Dienstgeschäfte zu einer kleinen Reise veranlaßt worden, die einige Tage länger, als er es erwartet hatte, von Petersburg ihn entfernt hielt. Er war die ganze Zeit[339] über ohne Nachricht von dort her geblieben, und hatte bei seiner Rückkehr sich eben voll ungeduldiger Erwartung aus dem Sattel geschwungen, als eine dringende Aufforderung, noch am Abende des nämlichen Tages in der Bundesversammlung unfehlbar zu erscheinen, ihn bis zum Erschrecken überraschte. Seit vielen, vielen Monaten war, wie eben erwähnt worden ist, von keiner solchen die Rede gewesen, und das Ungewohnte derselben mochte die wunderliche Angst, das unheilwitternde Grausen erregen, das schaudernd durch Mark und Gebein ihm dabei fuhr, und sich weder weglachen, noch wegdemonstriren lassen wollte. Er schämte sich dessen nicht wenig, aber das Herz wurde ihm deshalb um nichts leichter.

Seine Unruhe trieb ihn zum Grafen Stephan, um bei diesem Schutz gegen sich selbst zu suchen, und auch vielleicht etwas Bestimmtes über die Veranlassung zu dem Aufrufe, der ihn so beunruhigte,[340] zu erfahren; er fand ihn nicht daheim, und auch die Gräfin konnte seinen Besuch nicht annehmen, weil zwei ihrer Kinder plötzlich und heftig erkrankt waren.

Er eilte zum Fürsten Konstantin, dessen Palast ganz in der Nähe lag; der Fürst war eben ausgefahren.

Nicht anders ging es ihm beim Fürsten Andreas; er fand weder diesen noch einen seiner beiden Söhne. Richards innere Beklommenheit steigerte sich furchtbar; er wollte als rein körperlich, als Vorgefühl einer herannahenden schweren Krankheit sie sich erklären, denn er wußte nicht mehr woran er mit sich selbst war; aber er fühlte sich vollkommen gesund, ohne die kleinste Spur eines Übelbefindens.

Ist der Fall denn etwas so ganz Unerhörtes, daß man zur allgemein üblichen Visitenstunde keinen zu Hause antrifft, weil alle auf verschiedenen Wegen zerstreut sind, um diese lästige Gesellschaftspflicht[341] zu erfüllen? fragte er sich selbst; ist es nicht mir und jedem, der in der Gesellschaft lebt, schon unzählige Male begegnet, warum muß es denn gerade heute so sehr mir auffallen?

Fast beschämt, beim Wiedersehen nach tagelanger Abwesenheit in dieser unverantwortlich trüben Stimmung zu erscheinen, konnte Richard es sich doch nicht versagen, Trost und Ermuthigung dort zu suchen, wo er sicher sein konnte, beides zu finden. Helena war bei ihrer Mutter in einer kleinen Gesellschaft, die sich zum Frühstück dort versammelt hatte. Richard erhielt sogleich Zutritt, sobald sein Name genannt wurde, Eudoxia empfing ihn mit gewohnter Huld und Freundlichkeit; die größtentheils aus Damen bestehende Gesellschaft folgte ihrem Beispiele, und Helenas lächelnder Gruß drang wie ein erwärmender Sonnenstrahl in sein getrübtes Gemüth.

Das durch Richards Ankunft unterbrochene[342] allgemeine Gespräch wurde wieder angeknüpft, das neueste Stück im Theater, die gestrige Assemblée, die heutige Tagesgeschichte wurden lebhaft vorgetragen, besprochen, belacht; Scherz, Lust, Zufriedenheit leuchteten aus allen diesen muntern Augen.

Warum hängt denn Diesen der Himmel so voll Geigen, und über mir allein so schwer und dunkel herab? doch wohl nur, weil ich ein hypochondrischer Thor bin! dachte Richard, und strebte nach einem ihn aufrichtenden Blicke von Helenen.

Ihr Auge begegnete dem Seinen, doch ach! der bei seinem unerwarteten Erscheinen es belebende Glanz war erloschen, ein unverkennbarer Ausdruck von Niedergeschlagenheit und bangem Besorgtsein hatte ihn verdrängt, so viel Mühe sie sich auch geben mochte, dies der Gesellschaft zu verbergen.

Sie weiß! sie weiß, wovon die Andern noch[343] nichts wissen! rief es in Richards vorahnendem Gemüthe. Er wollte in ihre Nähe gelangen, aber auch nur zwei Worte in dieser Umgebung ihr unbelauscht zuzuflüstern, war unmöglich.

Die Gesellschaft erhob sich, die Wagen fuhren vor; jetzt endlich, jetzt! jubelte Richard innerlich; aber sie Alle waren zusammen gekommen, um nach dem Frühstück gemeinschaftlich in das Konzert eines berühmten Violinisten sich zu begeben, welches für die späteren Vormittagsstunden der vornehmen Welt angekündigt worden war, und Richard wurde von der Fürstin Eudoxia eingeladen, sie zu begleiten. Er mußte den Vorsatz aufgeben, den Kapellmeister Lange zu besuchen, um vielleicht in dessen Hause etwas zu erfahren. Er hoffte im Konzert ihn anzutreffen, aber auch dort, wo er und die Seinen nie zu fehlen gewohnt waren, suchte er zu seiner großen Verwunderung ihn vergebens; selbst Torson und Julie waren nicht zugegen,[344] was seine immer steigende Besorgniß noch vermehrte.

Der ganze Tag blieb übrigens für ihn einer von jenen nicht genug zu verwünschenden, an welchen man durch tausend unbedeutende Zufälligkeiten abgehalten wird zu thun, was man möchte, und zu dem was man nicht will, sich gezwungen sieht; bis endlich die Stunde schlug, welche in die Versammlung ihn rief.


Bis zur letzten Stunde von dem ihn neckenden Mißgeschicke des heutigen Tages verfolgt und aufgehalten, war Richard der zuletzt dort Ankommende; gleich hinter ihm wurde die Thüre, und zwar diesmal mit ungewöhnlicher Sorgfalt geschlossen.

Obrist Pestel schien nur seine Ankunft abgewartet zu haben; denn, sobald Richard seinen gewohnten Platz eingenommen, bereitete er sich,[345] die Sitzung, wie er immer zu thun pflegte, mit einer Anrede an die Versammlung zu eröffnen, die diesesmal ungewöhnlich zahlreich, und, mit nicht zu verkennender Auswahl, aus allen drei Graden der Verbündeten zusammen gesetzt war. Richards Blicke irrten forschend umher; die ernsten Gesichter der Mehrzahl trugen nur den Ausdruck gespanntester Erwartung; Fürst Andreas und die zu ihm sich hielten, blickten schweigend vor sich hin, ohne in Haltung und Miene das Geringste von dem, was in ihnen vorgehen mochte, zu verrathen. Mit wild funkelnden Augen, rohen Trotz in den leidenschaftlich verzerrten Zügen, stand seitwärts eine etwas abgesonderte Gruppe junger Männer um Lunin versammelt, von der Richard mit Widerwillen sich abwandte, herzlich froh seinen Iwan nicht unter diesen zu erblicken. Sein Auge suchte den Grafen Stephan, und fand ihn bald an seinem gewohnten Platze; regungslos, in sich selbst versunken,[346] mit tief gebeugtem Haupte saß er da, ein Schmerzensbild.

Feierlich-langsam, mit tiefer gemäßigter Stimme begann Obrist Pestel jetzt seine Rede; sie klang wie Trauergeläute, das dem Leichenzuge des Glückes eines ganzen Hauses vorangeht, alle die es hören auf ein großes Unheil vorbereitend, das im Begriffe zerschmetternd auf sie zu stürzen, in diesem Augenblicke noch über ihrem Haupte hängt. Dann zog der Redner ein Papier hervor, entfaltete es mit vieler Feierlichkeit, um es vorzulesen; es war ein Brief von einem eben abwesenden Mitgliede des Bundes, einem der angesehensten und eifrigsten, das sogar zu den ersten Stiftern desselben gehörte. Das Schreiben war an den Grafen Stephan gerichtet und Pestel mitgetheilt worden.

Ein banges Aufstöhnen, gleich dem eines unter Qualen Verscheidenden, zitterte durch das allgemeine Schweigen; es rang aus Stephans[347] Brust sich los, immer tiefer und tiefer sank sein vorhin schon gebeugtes Haupt fast bis auf seine Kniee herab; seine Hände falteten sich konvulsivisch über demselben, und verbargen völlig sein Angesicht. Richard hatte keinen Athem mehr; kein Laut rings umher, nur das Picken der Taschenuhren, und die Stimme des Vorlesers waren zu hören.

Der Kaiser, so verkündete jener Brief, der Kaiser, wie man aus sichrer Hand weiß, hat beschlossen, alle eroberten Provinzen Polen wiederzugeben, sich selbst, nebst seinem Hofe, nach Warschau zurückzuziehen, und das unglückliche Rußland, unbeschützt, rathlos und hülflos, der diesem Schritte entspringenden wilden Unordnung, der mörderischen Wuth, der rasenden Anarchie des auf das Äußerste gebrachten, zügellosen Volkes zu überlassen.

Eine Sekunde lang herrschte Schweigen, lautloses Schweigen wie im Grabe; dann brach der[348] Sturm aus. Ähnlich jenen Orkanen der Tropenländer, die, plötzlich aus tiefster Stille er wachend, Felsen zersplittern, tausendjährige Bäume entwurzeln, Seen und Inseln vernichten und schaffen, und den Lauf der Ströme verändern, tobte der furchtbarste Tumult. Der schadenfroheste Dämon, der jemals der Hölle sich entschwang, hatte über sie Alle die Schaale der Verblendung ausgegossen; so viele helle Köpfe unter ihnen! die gewiß in bessern Momenten das schlecht ersonnene Mährchen höhnend verlacht haben würden! sie glaubten Alle daran.

Zuerst vereinten alle diese Kehlen sich in einem einzigen Schreckensschrei; es war als ob davor die Wände erbebend einstürzen, die Decke des Saales aus den Fugen gehoben, weit weg in die Lüfte fortgeschleudert werden müsse. Einzelne Gruppen, von den übrigen sich absondernd, bildeten sich, Waffen blitzten in vielen Händen; furchtbarer noch als diese, erglühten Augen in[349] wilder Raserei. Gleich gereizten Hyänen, mit gesträubtem Haar, schäumend vor innerer Wuth, unter unerhörten Flüchen und Verwünschungen stürzten einige auf die Kniee, der blutigsten Rache sich zu weihen; vertraute Freunde verbanden durch einen furchtbaren Eid sich zum schonungslosesten Kampfe auf Leben und Tod. Alte, im Dienste ergraute Krieger weinten vor Zorn brennend heiße Thränen, Andre starrten, vor Schreck über das Unerhörte, mit weit offenen, erstorbenen Augen in den Tumult hinein; noch Andre brachen in laute Klagen, in Verwünschungen ihres Geschickes aus, zerrauften ihr Haar, rissen Sterne und Orden, die sie schmückten, von ihren Kleidern herunter und traten sie mit Füßen. Wuth, Empörung, Verzweiflung überall! eine Scene, die nur Dante, der Sänger der Hölle, in ihrer entsetzlichen Wahrheit zu schildern vermöchte.

Endlich führte physische Ermattung einen[350] kurzen Anschein von Ruhe herbei. Pestel wollte diese benutzen: Der große Augenblick ist gekommen, die uns gegebene Kraft zu bewähren, rief er mit lauter klangvoller Stimme; die hehre, dem heiligen Vaterlande geweihte Stunde schlägt, wo die verlorne Kohorte, den tapfern Lunin an ihrer Spitze, alles vor sich niedermähend, uns den Weg bahnen – –

Er ward nicht weiter gehört; lauter, grimmiger noch als vorher, rasete von neuem der Tumult. Selbst Pestel wurde einen Augenblick bleich; Lunins kolossale Gestalt hatte katzenartig, gleich einem zum Sprunge auf sein Opfer bereiten Raubthiere, sich bis zu ihm durchgewunden, er verschwand sogleich auf einen Wink seines Meisters in die entfernteste Ecke des Saales. Richard folgte ihm mit den Augen; Torson, den dieser Blick suchte, den er schon lange vermißt hatte, schien unbegreiflicher Weise gar nicht zugegen zu sein, auch Iwan war nirgends zu erblicken.[351]

Nur Einer ist der Schuldige, und dieser Eine büße es mit dem Leben! Schonung und Rache dem verrathenen Volke, Tod und Untergang dem Verräther! rief eine, den wilden Tumult übertönende, durchdringend laute Stimme, und plötzliche Stille entstand. Fürst Theodor, Obrist eines Regiments, dem seine Zeitgenossen den bezeichnenden Beinamen, der Tiger, beilegten, hatte diese Worte gerufen.

Und nun – zum erstenmale wurde von den Verbündeten jenes grausenvolle Wort ausgesprochen, jenes Wort, das nie gefunden sein sollte, Kaisermord!

Die stärksten Nerven erbebten, die lautesten Kehlen verstummten vor dem schauervollen, wenn gleich fast tonlos ausgestoßenen Klange, er bebte erschütternd in jedem Ohre, gleich dem Donner des Weltenrichters.

Doch diese Stille wurde bald wieder unterbrochen; neue Debatten, bei denen Pestel sein[352] gewohntes Übergewicht wieder geltend machte, erhoben sich, aber leider nicht um gegen ein Verbrechen anzukämpfen, das bei der gegenwärtigen Lage der Dinge von der Mehrzahl als unvermeidlich nothwendig angesehen wurde; die wenigen besser Gesinnten, die gegen diese Ansicht sich erhoben, wurden schnell überstimmt und mußten verstummen.

Und nun noch das Gräßlichste! die hier leise geflüsterten, dort laut gepflogenen, oder in thierischer Wuth laut gebrüllten Berathungen über das Wie und Wann! Sie währten lange, sie drohten immer heftiger und verworrener zu werden, bis die alle übertönende Donnerstimme des Tigerfürsten ihnen ein Ende machte.

Wartet! rief er, wartet, bis in nächster Woche mein Regiment die Wachen bezieht! Dann vollbringe Einer unter uns, was zur Rettung Aller vollbracht werden muß. Dazu braucht es nur eines Kopfes, eines Arms, was sollen da[353] viele? Doch welchen unter uns das Geschick zu dieser großen That erkoren hat, das werde hier, und noch in dieser Stunde, durch das Loos bestimmt, ehe wir für heute aus einander gehen.

Von allen Seiten wurde diesem Vorschlage stürmischer Beifall gezollt, der dem langwierigen, immer mehr sich erbitternden Streite ein Ende zu machen versprach. Was man zu dem grausigen Spiele nothwendig brauchte, war zur Hand, wenn gleich zu andern Zwecken bestimmt; die Voranstalten dazu waren also in wenigen Minuten bewerkstelligt, die Häupter der Anwesenden gezählt; Sergius, als Secretair des Bundes, brachte die verhängnißvolle Urne herbei, und warf eine gleiche Anzahl weißer Kugeln hinein, nur eine, eine Einzige unter diesen, blinkte in rothem trügerischem Goldglanze. Das Geräusch mit welchem jede derselben langsam gezählt und einzeln auf den Boden des Gefäßes hinabgelassen wurde,[354] durchschauerte auch die muthigsten Heldenherzen mit innerm Grauen.

Jetzt sollte das Todesloos gezogen werden, doch keine Hand regte sich, um die Ziehung zu beginnen. Von drückender Vorahnung befangen, mit bleichen Gesichtern und hochaufathmender Brust, standen sie Alle wie am Boden festgebannt umher. Keiner von diesen Vielen, die noch vor wenigen Minuten den wildesten Ausbrüchen ungemäßigter Leidenschaftlichkeit sich hingaben, wollte hier der Erste sein, kein Einziger von denen, die sonst überall es sein wollten. Auch Pestel suchte noch nach Worten, eindringend genug, um den Bann zu lösen, der sie gefesselt hielt; er selbst konnte nicht der Erste sein, der sein Loos zog, denn als Präsident des Bundes war die ganz zuletzt auf dem Boden der Urne zurückbleibende Kugel für ihn bestimmt.

Ein ängstlicher, unartikulirt, wie in höchster Todesnoth ausgestoßener Schrei schreckte alle aus[355] der düstern Versunkenheit auf, die sie befangen hielt; mit alles was ihr im Wege stand vor sich niederwerfender Riesenkraft, drängte sich aus dem Hintergrunde des Saales durch die Reihen der Brüder hindurch, bis dicht vor Pestel hin eine Gestalt, die beim ersten Anblicke Niemand erkannte. Ein Schreckensbild höchster Verzweiflung, mit weit hervorquellenden, blutunterlaufenen starren Augen, mit wild sich sträubendem, verworrenem Haar, mit wie im Todeskampfe konvulsivisch verzerrtem bleichem Gesicht. Er schleuderte mit mächtigem Arm die Urne mit den Kugeln fort, sie fiel zu Boden, die Kugeln rollten im Saale umher, und die goldene führte der Zufall dicht zu seinen Füßen hin.

Er raffte unter lautem dämonischen Gelächter sie auf, und hielt hoch über seinem Haupte sie der Versammlung entgegen: ein Wunder! jubelte er; ein sichtbares Zeichen von dort Oben – oder vielleicht von dort Unten? – gleichviel, ich bin der Erwählte![356]

Yakuchin! Iwan Yakuchin! erscholl es von mehreren Seiten. Es war der unglückliche, es war Richards Iwan, den man jetzt an der Stimme erkannte.

Richard drängte zu dem Wahnsinnigen sich hin, denn dafür hielt er, und mußten Alle ihn halten, aber ein einziger gewaltiger Stoß warf ihn weit zurück.

Wer sich selbst lieb hat, der rühre mich nicht an, der wage nicht mir zu nahe zu kommen, rief Iwan. Ihr meint, ich sei rasend; ich bin es nicht, aber ich warne Euch dennoch, ich bin gefährlich. Ich kenne Niemand mehr, weder Feind noch Freund, Ihr Alle, die ganze Welt ist mir wie Staub unterm Fuße, denn das Schicksal hat in mir, in mir allein sein Opfer auserkoren. Verlassener, verrathener als ich, lebt Keiner auf Erden! dieses Jammerleben, was soll es mir? ich werfe es von mir.

Richard, Alex und noch Einige, die Mitleid[357] für den Jüngling empfanden, sogar Obrist Pestel, näherten sich ihm abermals; bleibt zurück! rief er befehlend, und sie gehorchten der gebietenden Gewalt hoffnungslosesten Unglücks, das offen und kühn dem Mächtigsten entgegen treten darf, so bald es nichts mehr weder zu schonen noch zu fürchten hat. Sie bildeten einen dicht geschlossenen Kreis um Iwan her, hielten sich aber in der von ihm gebotenen Entfernung.

Iwan zog jetzt sein Schwert aus der Scheide; Alle, den traurigsten Ausgang erwartend, erbebten bei dem Anblicke; und doch hielt die Furcht, diesen zu beschleunigen, sie an ihren Plätzen zurück. Er aber kniete anscheinend gelassen in der Mitte des um ihn geschlossenen Kreises nieder, faßte den Griff des Schwertes mit beiden Händen, hielt ihn dicht vor der Brust, und blickte unverwandt zu der Spitze desselben auf; nur das Weiße seiner Augen blieb sichtbar, er sah aus, als ob er bete, mit unaussprechlicher Inbrunst.[358]

Das währte so einige Sekunden; dann aber, immer in der nämlichen Stellung verbleibend, erhob er die Stimme zum furchtbarsten Eide, den je eine menschliche Seele erdacht. Mit Worten, vor denen Alle schauderten, die sie vernahmen, weihte er sich dem Untergange, dem zeitlichen wie dem ewigen, indem er den Kaiser zu tödten gelobte, und gleich nach vollbrachter That sich selbst; denn wer könnte dann noch leben wollen! setzte er mit eisiger Kälte hinzu, indem er sich von den Knieen erhob, das verworren herabhängende Haar aus der Stirne strich, und das Schwert zurück in die Scheide stieß.

Und nun gebt mir meine Ordre, ich bin zu jeder Stunde zu Allem bereit, sprach er fast verachtend, wollte sich in militärischer Stellung hoch aufrichten, wurde aber im nämlichen Augenblicke sein Bild in einem ihm gegenüber angebrachten großen Spiegel gewahr. Unmäßiges Grauen vor seiner eigenen Gestalt überkam ihn, er taumelte,[359] seine Kniee brachen unter ihm zusammen; hätten die, welche ihm am nächsten standen, ihn nicht in ihren Armen aufgefangen, er wäre, wie aufgelöset in allen Gelenken, unfehlbar zu Boden gesunken.

Der Zustand währte indessen wieder nur einige Sekunden. Iwan erholte sich schnell, machte von denen so ihn hielten sich los, und stand frei da, den ernsten fragenden Blick auf die gerichtet, von welchen er Antwort erwartete.

Jetzt, da sie vor der Ausführung der Frevelthat standen, die Sie kurz vorher, in blinder Wuth, unter ungeheuerm Toben gefordert hatten, und nur noch die nähere Anordnung des Vollbringens von ihnen erwartet wurde, regte sich keiner; lautloses Schweigen, überall. Übermannt von geheimem Schrecken, bleich, mit gesenktem Blicke standen sie da, bis einer unter ihnen sich erhob. Es war ein Officier von bedeutendem militärischem Range, dem Namen[360] nach, vielleicht auch von Geburt ein Deutscher, wenigstens von deutscher Abkunft. Mit großer Geistesgegenwart ergriff er glücklich den einzigen günstigen Augenblick Pesteln zuvorzukommen, um hier, wo bis dahin nur blinder Eifer und die aufgeregteste Leidenschaftlichkeit das Wort geführt hatten, auch die besänftigende Stimme der Vernunft laut werden zu lassen; ein Unternehmen, an dessen Ausführung vorhin, bei dem allgemeinen Toben, gar nicht zu denken gewesen wäre.

Allen vernehmbar, umständlich, ohne durch Weitschweifigkeit zu ermüden, bestrebte sich der wohlwollende besonnene Mann das Unwahre der Nachricht, die bis zu diesem Grade sie empören konnte, ihnen klar und deutlich auseinander zu setzen; bewies, mit nicht zu widerlegenden Gründen, die jedem einleuchten mußten, die Unmöglichkeit derselben. Schmucklos, aber eindringlich, von unerkünstelter Überzeugung ihm eingegeben, waren[361] seine Worte; sie entsprangen aus vollem warmem Herzen, und konnten daher den Weg zu den Herzen seiner Zuhörer nicht verfehlen. Auch glätteten viele umdüsterte Stirnen sich wieder, die bleichen Gesichter färbten sich, in manchem abgewendeten Auge blinkte eine heimliche Thräne der Reue, und Dank und Beifall wurde dem Redner von allen Seiten laut gezollt.

Ermuthiget durch dieses Beispiel, bemächtigte jetzt auch Sergius sich des Worts, ehe der etwas aus der Fassung gerathne Obrist Pestel dazu kommen konnte es zu ergreifen. Beide, er und Graf Stephan, hatten zu jenen ersten Stiftern der durchaus harmlosen Gesellschaft gehört, aus welcher später, im Verlaufe der Jahre, der jetzige Bund, unter Pestels Leitung, so ganz verschieden von jenem ersten Anfange sich entwickelt hatte. Auch in dieser umgewandelten Gestalt war Sergius noch immer einer der treuesten und eifrigsten Anhänger desselben geblieben; er bekleidete,[362] wie schon mehrmals erwähnt worden ist, die Stelle eines Secretairs des Bundes, und gehörte als solcher zu den drei Direktoren, den Häuptern des Rathes der Alten.

Nachdem Sergius seine vollkommene Übereinstimmung mit den Ansichten seines edlen und geistreichen Vorgängers in den wärmsten Ausdrücken ausgesprochen hatte, erbat er sich die Erlaubniß jene Nachricht, die sie alle in nicht genugsam zu bereuende schmerzliche Verwirrung gestürzt habe, auch noch von einer andern Seite zu beleuchten, um auf diese Weise auch die letzte Spur ihrer zu nicht zu berechnendem Unheile führenden Nachwirkung zu vertilgen. Er sagte, er wolle für einen Augenblick das Unglaubliche, ja Unmögliche, als Wahrheit annehmen, und den Fall setzen, der Kaiser habe, wie jener unselige Brief es berichte, den unglücklichen Entschluß sein Volk zu verlassen wirklich gefaßt; und ergoß sich dann mit unglaublichem Scharfsinne[363] und anschaulichster Klarheit in Beweisen, daß selbst in diesem undenklichen Falle jenes Verbrechen, das er nicht mehr zu nennen wagen möchte, nur die unheilvollsten Folgen nach sich ziehen könne, ohne den eigentlichen Zweck des Bundes der ächten Kinder des Vaterlandes im mindesten zu fördern. Im Gegentheile müsse jede Möglichkeit des Gelingens dadurch auf immer vernichtet werden, aus dem einfachen Grunde, weil es dem Bunde seiner innern Einrichtung nach an allen Mitteln fehle, eine solche Unthat, würde sie auch glücklich vollbracht, zu benutzen. In den glühendsten Farben schilderte er ihnen nun alle Gräuel der zügellosesten Empörung, die einer solchen Verletzung aller göttlichen und menschlichen Gesetze auf dem Fuße nachfolgen müsse, indem er zugleich an die dem Königsmorde in Frankreich unmittelbar folgende Schreckenszeit sie erinnerte.

Bin ich noch lebend der Gemeinschaft böser[364] Geister verfallen? oder bin ich noch wirklich unter Menschen? rief plötzlich in heftigem Zorne auffahrend Iwan Yakuchin, nachdem er mit gespanntester Aufmerksamkeit den Reden jener beiden gefolgt war. Ihr Teufel in Menschengestalt, was habe ich Euch gethan, daß Ihr mein ehrlich ruhiges Gewissen mir nicht gönnt? daß Ihr mit einem innern Vorwurfe es belasten mußtet, den ich nimmer verwinden kann? Ihr Bösewichte, ihr teuflischen Verführer, habt zuerst durch blendende Höllenkünste mich zu dem gräßlichen Vorsatze gebracht, das Verbrechen zu begehen, für welches weder im Himmel noch auf Erden Vergebung ist, denn Kaisermord und Vatermord sind eins; und nun verwerft Ihr selbst als nutzlos, als überflüßig die ungeheuere That? Wie nun, wenn Ihr diese Entdeckung später gemacht hättet, nachdem ich vollbracht – – was wäre in dieser und jener Welt aus mir geworden, und kann ich[365] jemals vergessen, daß ich es vollbringen gewollt?

Gleich einer überirdischen Erscheinung, gleich einem Rache heischenden Dämon, stand der zornentflammte Jüngling in seiner gänzlichen Verlassenheit vor ihnen, und keiner hatte das Herz sich ihm thätig entgegenzustellen, oder auch nur ihn mit Ernst zur Ruhe zu verweisen. Einige versuchten mit besänftigenden Worten ihn zu beschwichtigen, er hörte nicht darauf.

Eure wohlgesetzten Reden, Eure trefflichen Statuten, Euere herrlichen Pläne für das allgemeine Wohl des Vaterlandes, führen sie zum Ersinnen solcher Thaten? – fuhr Iwan fort: – nun so bleibt von heute an Euer Rath fern von meiner Seele, ich trete aus eurer Gemeinschaft hinaus, und scheide auf immer von Euch! Wollt Ihr vorher nicht Rath halten, ob es für Eure Sicherheit nicht etwa erforderlich wäre mich hier zu ermorden, ehe ich den Fuß über die Schwelle[366] setze? fragte er mit kalter schneidender Ironie. Thut es, tödtet mich, was liegt mir daran, was noch am Leben? Für eine Nußschale werfe ich es Euch hin. Nur so viel noch: dieser kleine Mord wäre nicht minder überflüßig, als jener große es gewesen wäre, und dürfte in seinen Folgen doch unbequem für Euch werden, wenn er entdeckt würde. Ihr habt meinen Eid, den ich nie brechen kann, und hätte ich der Hölle ihn geschworen; schweigen muß ich, ich sei lebend oder todt. Ihr antwortet nicht? Nun so schüttle ich an Eurer Thüre den Staub von meinen Füßen und gehe nie wiederzukehren. Mögt Ihr indessen Euch nach Bequemlichkeit über mein Leben oder meinen Tod unter Euch berathen.

Iwan wandte sich zum Gehen, Alle traten zurück ihm freie Bahn zu lassen; mit festem Schritte ging er langsam bis zur Thüre, dort schien er wie von Schwindel ergriffen zu wanken,[367] dann betäubt im Begriff taumelnd zu sinken. Richard und Alex eilten ihm nach, ergriffen noch zur rechten Zeit ihn am Arme, und führten ihn hinaus.


Trübseliger, als jemals in seinem Leben, lag der gute kleine Kapellmeister Lange auf seinem Sopha; krank war er nicht, glaubte aber es zu sein, und meinte zuweilen sogar die Annäherung des Todes zu fühlen. Eigentlich war er nur tief betrübt, und der sonst immer zufrieden Glückliche wußte in diesen ihm ganz neuen Zustand sich nicht zu finden. Völlig entmuthiget, versagte er allen seinen Freunden den Zutritt, sogar sein Flügel blieb verschlossen, und so fehlte ihm denn Alles, was sonst sein eigentlichstes Leben ausmachte.

Nur seine treue Hausfrau war ihm geblieben; gleich einem tröstenden Engel wich sie ihm[368] fast nie von der Seite, obgleich sie noch schmerzlicher verletzt war, als er selbst. Auch jetzt saß sie, bei der sorgfältig verhüllten Lampe, an ihrem Tischchen neben ihm; um von seinen traurigen Gedanken ihn abzuziehen, hatte sie versucht ihm vorzulesen, schlug aber das Buch wieder zu, als sie gewahr wurde, wie ihre Worte unbeachtet an ihm vorüber glitten.

Ist er gestorben? fragte sie leise, mit zitterndem Tone, als sie die Thüre hinter sich öffnen hörte, ohne nach dem Eintretenden sich umzusehen.

Er lebt und vielleicht dürfen wir wieder zu hoffen wagen, denn Iwan Yakuchin ist es doch den Sie meinen? antwortete eine weit sonorere Stimme als die ihres alten Dieners Jegor war, die sie zu vernehmen erwartete; erschrocken sprang sie von ihrem Sitze auf, und Fürst Eugen stand vor ihr.

Seit zehn Tagen zum erstenmal, ruht der[369] zerrüttete Geist des Armen in tiefem Schlummer von seinen langen Qualen aus; möge diese Nachricht es entschuldigen, daß ich gegen Ihr Verbot mich hier einzudrängen wage: sprach Eugen mit der ihm eignen, ihn so wohl kleidenden Herzlichkeit.

Noch ehe Frau Karoline nur ein Wort antworten konnte, flog ihr Mann mit Blitzesschnelle von seinem Sopha, wie ein Pfeil von der Sehne auf. Die Gegenwart Eugens wirkte auf ihn mit magischer Gewalt, er vergaß daß er sterbend sei, suchte in der entferntesten Zimmerecke seine goldbetroddelte Mütze hervor, wo sie seit vielen Tagen völlig unbeachtet geruht hatte, verlor darüber in der Eile einen seiner Pantoffeln von gesticktem Saffian, der weit weg, quer über den Fußboden hingeschleudert wurde, bemerkte jetzt mit einemmal seine sehr vernachlässigte Toilette, fing an sich gewaltig seines Schlafpelzes von astrachanischem Lämmerfelle zu schämen,[370] in welchem sonst kein fremdes Auge ihn erblicken durfte, und kam über dem Allen dermaßen außer Fassung, daß er nicht anders sich zu helfen wußte, als indem er einen gewaltigen Anlauf nahm, mit gleichen Füßen wieder auf das Sopha sprang, und eiligst in der Stellung eines Todtkranken sich darauf hinwarf.

Ungeachtet große Thränen noch in ihren Augen perlten, mußte Frau Karoline über die Hastigkeit, mit der dieses Alles vollbracht wurde, laut auflachen; Eugen konnte sich nicht enthalten ihrem Beispiele zu folgen, und auch der Kapellmeister stimmte zuletzt mit ein, und lachte lauter als die Andern über sein eignes wunderliches Treiben.

Die Lampe wurde von ihrer Umhüllung befreit, das Zimmer wie gewöhnlich erleuchtet, der Kapellmeister über sein astrachanisches Lämmerfell getröstet, der Befehl, jeden weitern Besuch abzuweisen, der Dienerschaft wiederholt eingeschärft,[371] und in weniger als zehn Minuten saßen die drei Freunde in traulicher, wenn gleich nicht fröhlicher Mittheilung beisammen. Rede und Gegenrede erleichterten ihnen die beklommene Brust, sie fühlten, wie der Mensch nie des Menschen mehr bedarf, als in Trübsal und Schmerz.

Einsamkeit, so wünschenswerth sie dem Trauernden auch erscheinen mag, ist alsdann unser größter Feind: alles ausschließende Einsamkeit, die keine ist, noch sein kann! denn wer entfloh jemals seinen eigenen düstern Gedanken? In Mittheilung aber geht das Herz uns wieder auf; und wenn auch die Freunde nicht immer begreifen was und wie wir leiden, wenn sie auch durch ungeschicktes Tröstenwollen die Wunde, die sie heilen möchten, vielleicht zu unsanft berühren, so lernen wir doch, indem wir ihm Worte leihen, unser Unglück und auch uns selbst besser verstehen, und treten wieder in die allgemeine Bahn[372] des Lebens ein, von der man ohne Gefahr nie abweichen darf.

Das Geschick des Einzelnen verschwindet in dem gewaltigen Lebensstrome, der das kolossale Petersburg durchbrauset, wie der einzelne Regentropfen in den Wellen der Newa sich verliert; und so war denn auch erst an diesem nämlichen Tage, und nur durch Zufall, die Kunde von Iwans lebensgefährlichem Zustande durch des Kapellmeisters selbst gewählte Abgeschiedenheit von der Außenwelt bis zu diesem durchgedrungen. Ein dumpfes Gerücht ließ sogar Iwans Tod befürchten, und die gutmüthigen Menschen hatten sogleich ihren treuesten Diener um Nachricht von dem Leben oder Tode des Jünglings ausgesandt, den über ihren eigenen Schmerz so ganz vernachlässiget zu haben, sie jetzt sehr bereueten. Treuer, umständlicher, als Jegor diese bringen konnte, hofften sie jetzt von Eugen sie zu erhalten.[373]

Nicht ganz unbefangen, suchte Eugen, aus leicht zu errathendem Grunde, über den ersten Ausbruch von Iwans Krankheit so schnell als möglich hinwegzueilen, und erwähnte nur, daß sein Brudex Alex und Richard, in todtenähnlicher Betäubung, von der er auf der Straße plötzlich befallen worden wäre, ihn in seine Wohnung gebracht hätten.

Mehrere Stunden vergingen, ehe er aus tiefer Ohnmacht erwachte, fuhr Eugen sehr bewegt fort: doch welch ein Erwachen war das! so mag dereinst am Tage des Weltgerichts das Erwachen des zu ewigen Höllenqualen verdammten Sünders sein. In wilder, nur gewaltsam zu bändigender Raserei, kämpfte der Unglückliche mit den gräßlichsten Greuelbildern seiner Phantasie! und zehn ganze Tage, zehn endlose Nächte hindurch, hat keine Minute Schlaf, kein einziger heller Augenblick, sein gränzenloses Leiden unterbrochen! Die Sorge für die Pflege des Armen blieb Richard[374] allein überlassen; ich und mein Bruder waren durch anderweitige Pflicht zu ernstlich in Anspruch genommen, um sie mit ihm theilen zu können, und so durfte er Tag und Nacht von Iwans Seite nicht weichen. Auch nur für eine Stunde ihn Fremden zu übergeben, durfte Richard nicht wagen, denn wie leicht konnten Iwans wilde unzusammenhängende Reden – – Eugen stockte hier in sichtlicher Verwirrung, fuhr aber nach kurzem Besinnen wieder fort: wie leicht, wollte ich sagen, kann bei der Pflege Gemüthskranker dieser Art die kleinste Vernachlässigung die traurigsten Folgen nach sich ziehen! In welchem Zustande aber unser Freund Richard sich jetzt befindet, wie abgespannt, wie an allen Kräften erschöpft, mögen Sie selbst ermessen.

Und Iwan! hoffen Sie wirklich? wird er genesen? wird er leben? fragten beide zugleich, Lange und seine Frau.[375]

Die Jugendkraft unterliegt endlich, die in seiner Qual unerschöpflich schien, erwiederte Eugen. Iwan schläft, tief und fest.

Er ist todt? rief der Kapellmeister.

Er schläft, war die sehr gemessene Antwort Eugens: er schläft, und der treuste aller Freunde, beinahe nicht minder Ruhe bedürfend als der Kranke, sitzt neben seinem Lager und bewacht seine Athemzüge. Der eilfte Tag ist heute, nach dem Ausspruche des Arztes, der entscheidende über Leben und Tod. Iwans ruhiger Schlaf giebt uns einige, wenn gleich schwache Hoffnung. Mit dieser Nachricht schickt mich Richard zu Ihnen, und wünscht zugleich zu erfahren ob Julie um Iwans traurigen Zustand weiß, und wie sie – –

Halt! halt! halt! nur den Namen und noch Einen nicht! schrie der Kapellmeister, und hielt in zitternder Hast beide Ohren sich zu.

Und Sie wüßten nicht? Sie und auch Richard wüßten wirklich nicht, welche unerhörte[376] Schändlichkeit, welcher Verrath an Allem, was dem Menschen heilig sein muß, den armen Iwan rasend machte, ihn vernichtete? rief zu gleicher Zeit Frau Karoline in ungewöhnlicher Heftigkeit.

Eugen erbleichte über die Auslegung dieser Worte, die wider seinen Willen sich ihm aufdrängte. Unmöglich konnte Iwans Krankheit, die überdem erst vor einigen Stunden ihnen bekannt geworden war, die einzige Veranlassung des tiefen Schmerzes sein, der in dem ganzen Wesen dieser beiden sich aussprach, und noch weniger der völligen Zurückgezogenheit, in der sie seit mehreren Tagen ganz gegen ihre sonstige Weise lebten. Das bedachte er erst jetzt; auch wie sie mit Herz und Seele ihren Kaiser verehrten, wie sie auf Leben und Tod, in unverbrüchlicher Treue ihm ergeben waren, und hell und deutlich leuchtete der furchtbare Gedanke in ihm auf, sie wissen um das Geheimniß jener Nacht, in welcher Iwans Krankheit ausbrach, und Torson,[377] der jetzt sich nirgends finden läßt, hat es ihnen verrathen. Regungslos, fassungslos, stand Eugen wie versteinert da, und wußte nicht wohin er die Blicke wenden sollte.

Julie ist nicht mehr bei uns – auch seit zehn Tagen – uns verlassen – mit Torson entflohn – heimlich in dunkler Nacht: – brachte Frau Karoline mit abgewandtem Gesicht, in kurzen abgebrochenen Sätzen mühsam hervor.

Gott sei Dank, daß es nichts Schlimmeres ist! hätte Eugen beinahe überlaut gerufen; glücklicher Weise besann er sich noch zu rechter Zeit, und nur ein tief geholter Seufzer, den seine treuherzigen Freunde seiner Theilnahme an ihrem Kummer zuschrieben, half ihm die bange Sorge abschütteln, die ihn eben um Fassung und Besinnung bringen wollte.

Wer mag es mir verdenken, daß die Gesellschaft und das Leben in ihr, und die sogenannten guten Freunde, und alle die freundlichen[378] Leute um mich her seit dieser Erfahrung mir so widrig ekelhaft vorkommen, daß ich von dem allen nichts mehr hören noch sehen mag? nahm jetzt Lange mit dem Ausdrucke der tiefsten innersten Trauer das Wort, der an dem sonst immer heitern, freundlichen Manne nur um so rührender erschien. Du Karoline, fuhr er fort, bist ein treues Herz und ohne Falsch, Du allein, und nur an Dich allein will ich mich halten, und an Dich glauben, und sonst an keinen Andern. Thu' mir nur noch den einzigen Gefallen und stirb mir nicht, so lange ich noch lebe; hernach magst Du es halten wie Du willst. Ohne Dich könnte ich ja nimmermehr zurecht kommen, mir müßte ja sein, als wäre die liebe Sonne vom Himmel gefallen.

Helle Thränen rollten bei diesen Worten ihm über die Wangen; Frau Karoline drückte schweigend ihr Gesicht in ihr Taschentuch; Eugen war durch das seltsame Wesen des Kleinen[379] zu bewegt, um ein Wort aufbringen zu können.

Wie haben wir das Kind geliebt! fing der Kapellmeister nach einer kleinen Weile wieder an; auf Händen getragen haben wir sie. Und sie konnte uns schmeicheln, uns schön thun, und viele Monate lang Trug und Verrath im Herzen hegen! Ja, das konnte sie, ein kaum neunzehnjähriges Geschöpf, noch halb ein Kind! Nie werde ich darüber getröstet werden, das kann ich nie vergessen noch verwinden. Denn es ist mir nicht um Julien allein. Es ist mir weit mehr darum, daß so etwas wirklich geschehen, daß der Mensch so schlecht werden kann. Das ist es, was Muth, Vertrauen und alle Lust am Leben in mir vernichtet; klagte er mit rührender Beredsamkeit, die an ihm, der sonst fast nur in Tönen sprechen konnte, höchst seltsam auffiel.

Alle Drei saßen schweigend da. Ich habe keinen Bruder, nie einen gehabt, sprach Lange[380] dann weiter; aber hätte ich einen, und wäre er mein Zwillingsbruder, der mit mir zugleich unter dem Herzen meiner Mutter geruht, und hätte ich zeitlebens nichts anderes gethan, als für diesen Bruder gesorgt, und er ginge nun in einer bösen dunkeln Stunde hin, und raubte mir Alles, so daß mir nichts übrig bliebe, als das kahle Leben, und die Luft, die ich einathme, – ich weiß gewiß, ich fände noch etwas aus, das ihn entschuldigte. Noth hat ihn getrieben, mein Bruder wußte nicht was er that, in einem unbewachten Augenblicke ist der Teufel in sein Herz eingezogen, würde ich sagen und auch denken. Aber diesen fein ausgesonnenen Plan Wochen, ja Monate lang mit sich herumtragen, täglich, stündlich uns heuchelnd betrügen, und dabei aussehen wie das Bild der Unschuld, – das kann die ewige Barmherzigkeit selbst nicht vergeben, und der Gedanke, wie schlecht es der Unglücklichen vielleicht in dieser Stunde schon ergehen mag,[381] peinigt mich alten Narren weit mehr, als es für mich anständig wäre.

Eugen wollte jetzt ein paar begütigende Worte einzuschieben versuchen, er nannte Torson, aber der Kapellmeister fuhr darüber sehr heftig auf.

Das ist ja eben der zweite Name, den ich nie wieder zu hören wünsche, mein Fürst! rief er mit zornblitzenden Augen; der ist es ja eben, und doch darf man kaum ihn anklagen, denn gegen seine Mitschuldige gehalten, steht er rein und klar, wie ein Engel des Lichts da; seine Schuld wird, verglichen mit der ihrigen, winzig klein. Wahr ist es, er hat mich betrogen; aber warum ließ ich mich betrügen, da ich es hindern konnte? Nicht er, meine Blindheit, und daß ich zu feig war die Augen aufzuthun und um mich zu schauen, tragen die Schuld. Wenn jene Verlorne unglücklich wird, wer gab die erste Veranlassung dazu? ich selbst! und das ist ein Wurm mehr, der mir am Gewissen nagt.[382] Ich hätte jenen verkappten Satan entlarven, ihn durchschauen müssen; ich war gewarnt durch meine Hausfrau, die immer zehnmal so gescheit ist als ich; aber weise Worte verhallen unbeachtet in einem thörichten Ohr.

Weise Worte! meine Weisheit! rief Frau Karoline bitter lachend; meine eitle Einbildung war es, die mich abhielt, Dir alles weit dringender vorzustellen. Gebrechlichkeit, Dein Nam' ist Weib! ich habe dem Prinzen Hamlet diesen ungezogenen Ausspruch immer sehr übel genommen, doch diesesmal muß ich ihm beistimmen. Hätte ich nicht alles allein vollbringen wollen, hätte ich nicht in schnöder Sicherheit auf meine Vorsicht gebaut, und gemeint ich wäre – doch was hilft uns das alles jetzt – damals wäre es noch Zeit gewesen Dir die Augen zu öffnen, indem ich Dir alles weit klarer und dringender vorstellte, als ich es leider gethan, jetzt ist es zu spät. Julie ist verloren, und der arme unglückliche[383] Iwan ebenfalls. Ich hätte beide retten können. Ach! der Übel größtes ist die Schuld!

Die Bahn war gebrochen; Frau Karoline war, sich selbst unbewußt, wieder in ihre gewohnte Weise gerathen, und Eugen erhielt endlich von ihr einen umständlichen Bericht von Juliens Flucht, oder Entführung, wie er lieber es nennen mochte.

Beide, Julie und Torson, hatten bis zur letzten Stunde jede Vermuthung ihres Vorhabens durch ihr Betragen von sich fern zu halten gewußt. Nur am Abende des letzten Tages, den sie in dem gastlichen Hause zubrachte, klagte Julie über einen leisen Anflug von Migräne, der sie zuweilen unterworfen war. Der Schmerz steigerte sich oft zu einem hohen Grade, hielt aber nie lange genug an, um ernstliche Besorgniß zu erregen. Frau Karoline rieth ihr, sich gleich zur Ruhe zu begeben, wie sie in solchen Fällen immer that, half ihr sich unbemerkt aus[384] der Gesellschaft zu entfernen, in welcher auch Iwan und Lunin gegenwärtig waren, und begleitete sie auf ihr Zimmer.

Dort versprach sie jedes Geräusch von der mit jeder Minute scheinbar mehr Leidenden möglichst fern zu halten, vor allen Dingen aber sie nicht wecken zu lassen, und sollte sie darüber auch den Mittag verschlafen. Alles das war in ähnlichem Falle schon unzähligemal geschehen, und konnte unmöglich als etwas Ungewöhnliches auffallen. Frau Karoline umarmte Julien, wünschte ihr eine leidliche Nacht, und ging.

Ging! und das verstockte Kannibalen-Herz äußerte nicht das kleinste Zeichen von Rührung bei dem letzten Abschiede von einer Frau, die ihr stets mütterliche Liebe bewiesen; rief hier der Kapellmeister dazwischen.

Sie wußte nicht, daß es der letzte sei; erwiederte Eugen, und legte betheuernd seine Hand[385] auf die Brust. Frau Karoline fuhr in ihrer Erzählung fort.

Die Mittagsstunde war längst vorüber, Julie hatte sich nicht blicken lassen, Frau Karoline fand die Thüre ihres Zimmers verschlossen; sie pochte, erst leise, dann lauter, dann rief sie Juliens Namen. In liebender Besorgniß schloß sie mit ihrem Hauptschlüssel endlich das Zimmer auf, Julie war nicht darin; sie ist früh ausgegangen, um in freier Luft das fatale Kopfweh verwehen zu lassen, und hat bei dem herrlichen Wetter wohl daran gethan: dachte die arglose Frau und begab sich ruhig an ihre häuslichen Geschäfte.

Die Zeit des Mittagessens kam heran; einige Freunde des Hauses stellten wie gewöhnlich sich ein, nur Torson nicht, der doch selten auszubleiben pflegte. Und noch immer von Julien keine Nachricht! Der Kapellmeister versuchte es, die jetzt nicht länger zu verhehlende Besorgniß[386] seiner Frau wegzulachen, versicherte, die Vermißte habe auf einem Besuche bei, in einem weit entfernten Quartiere der Stadt wohnenden Freunden, sich verspätet, und sei bei ihnen zu Tische geblieben. Der Fall war schon einigemale vorgekommen, Frau Karoline gab sich Mühe auch diesesmal daran zu glauben, sie zeigte ihren Gästen ein heitres Gesicht, doch innerlich stieg ihre Angst mit jeder Minute.

Dieser Zustand war nicht lange zu ertragen, die Unruhe trieb sie fort von der Gesellschaft auf Juliens Zimmer, was sie dort wollte, war ihr selbst nicht klar; ohne Zweck und Ziel irrte sie in den ihr wohlbekannten Räumen umher, die Thüre von Juliens Garderobe stand halb offen, Frau Karoline wollte sie schließen, warf zufällig einen Blick hinein, und was sie dumpf ahnend befürchtet, ohne es sich selbst zu gestehen, stand mit einemmale deutlich als Wirklichkeit vor ihr.

Die Garderobe war fast ganz leer, der größte[387] Theil von Juliens Wäsche und Kleidern fehlte, nebst allem, was sie auf einer weiten Reise nöthig haben konnte. Was sie an Schmuck und andern Kostbarkeiten besessen, mit denen Torson in der letzten Zeit sie so verschwenderisch beschenkt hatte, war bei näherer Untersuchung ebenfalls verschwunden, zugleich alle jene, ihr sehr werthen namenlosen Kleinigkeiten, die sie in Königsberg und Petersburg von Freunden zum Andenken erhalten und heilig aufbewahrt hatte.

Alles was sie von ihren Habseligkeiten zurückgelassen, lag übrigens in gewohnter Ordnung da, nirgends eine Spur von übereilter Flucht; aus Allem ging hervor, daß diese Vorkehrungen zu derselben schon tage-, vielleicht wochenlang vorher getroffen worden waren; an Gewaltthat war hier gar nicht zu denken.

Tausend bittre und schmerzliche Gefühle stürmten bei dieser Entdeckung auf die arme Frau ein; als ihr Mann sie endlich aufsuchte, fand[388] er sie in einem fast besinnungslosen Zustande, auf sein ängstliches Rufen eilte das ganze Haus herbei. Sie kam bald wieder zu sich selbst, war aber zu ergriffen, zu erschrocken, um das Ereigniß, welches sie in diesen Zustand versetzt hatte, gleich bekannt werden zu lassen.

Alle Diener wurden verhört, doch nur zwei derselben konnten einige Auskunft geben, das Kammermädchen Katinka, und ein in einem permanenten Branntweinrausche lebender Ofenheizer, Nikita. Die Übrigen hatten sämmtlich nichts gesehen noch gehört.

Katinka, deren Schlafkammer Wand an Wand mit Juliens Zimmer lag, obgleich keine Thüre von dort aus in dasselbe führte, wollte am vorigen Abend, bis spät in die Nacht hinein, ein leises Flüstern und Hin- und Hergehen bei Julien bemerkt haben; zugleich ein Geräusch, als ob Schränke vorsichtig geöffnet, und Schiebefächer aus Kommoden hervorgezogen würden. Sie[389] hatte lange darauf gehorcht, da aber übrigens alles im Hause ruhig blieb, war sie endlich darüber eingeschlafen.

Nikita hatte schon Bedeutenderes vorzutragen. Er pflegte gewöhnlich den ersten Absatz der Treppe vor Juliens Zimmer zur Lagerstätte sich zu erwählen, und hatte auch in der vergangenen Nacht, in seine Decke gehüllt, sich quer über denselben gebettet. Er versicherte, besonders seit einiger Zeit, an dieser Stelle viel von Gespenstern gelitten zu haben, die Nachts über ihn hinwegstiegen; da sie aber übrigens ihm nichts zu Leide gethan, habe er sich dadurch weiter nicht im Schlafe stören lassen. Diese Nacht aber habe eines davon ihm so derb auf den Magen getreten, daß er wohl die Augen habe aufthun müssen; und da sei er eben eine verschleierte Dame gewahr worden, die über ihn wegstolperte, und wahrscheinlich die Treppe hinunter gefallen wäre, hätte Herr Torson sie nicht in seine Arme aufgefangen.[390] So viel er bei dem unsichern flackernden Scheine der kaum noch glimmenden Treppenlampe habe urtheilen können, sei die Dame die Frau Kapellmeisterin selbst gewesen, Herrn Torson aber habe er deutlich erkannt, denn dieser habe sein Rohr mit dem goldnen Knopfe ihm um den Kopf sausen lassen, und ihm ganz leise ins Ohr geschrieen: »Narr! ducke Dich und schlaf'!«

Nun, da habe ich mich denn unter meine Decke geduckt, und habe geschlafen; denn Gehorsam muß sein, setzte Nikita mit großer Selbstgefälligkeit hinzu.

Sie ist entführt! gewaltsam entführt! rief Eugen.

Rechnen Sie denn das heimliche Hinwegschaffen ihrer Effecten für nichts? und der baumstarke Nikita lag zu ihren Füßen, auf einen Wink von ihr zu ihrem Beistande bereit; ein einziger Schrei hätte alle Bewohner des Hauses um sie versammelt; eiferte Frau Karoline.[391]

Armer, unglücklicher Iwan! wie verstehe ich erst jetzt dich so ganz! seufzte Eugen.

Ja wohl unglücklich! setzte Karoline hinzu. Gerade im Augenblicke, als jede Möglichkeit eines Zweifels uns entschwunden war, kam er. Wir konnten ihm nichts verhehlen; der Zustand, in welchem er uns fand, und unsre Umgebungen verriethen ihm Alles. Was er begann, was er sprach, ich weiß es nicht; sein Anblick raubte mir vollends den kleinen Rest von Besinnung. Später vernahm ich, daß er das ganze Haus, vom Boden bis zum Keller durchsuchte, und dann gleich einem Wahnsinnigen hinaus auf die Straße stürzte. Jegor folgte ihm aus freiem Willen; der gute Alte konnte ihn nicht einholen, aber er verlor ihn nicht aus dem Gesicht, bis er in einem, zu den Hintergebäuden des Palais Ihres Herrn Vaters gehörenden Hofe, in eine Seitenthüre ihn verschwinden sah. Jegor wartete eine Weile auf seine Wiederkehr, umging[392] dann mehreremale das ganze Gebäude, erkundigte sich bei dem ihm bekannten Portier, ob er Iwan Yakuchin nicht gesehen, und begab sich dann nach Hause, mit der beruhigenden Nachricht, daß Iwan unter der Obhut von Freunden wenigstens in Sicherheit sei. Seitdem haben wir bis heute Morgen nichts weiter von ihm vernommen, und sehnten uns auch nicht darnach. Daß er uns mied, fanden wir ganz natürlich, denn was konnte er zu unserm, was wir zu seinem Troste beitragen?

Jene Seitenthüre, die Jegor erwähnte, ist ein in eine andre Straße führender Durchgang, das konnte er freilich nicht wissen, erwiederte Eugen ein wenig betroffen; haben die Nachforschungen der Polizei, die Sie gewiß veranstalten ließen, keine Spur von den Entflohenen entdeckt? fragte er dann mit hastiger Lebendigkeit.

In frühester Morgendämmerung will man[393] ein paar Personen, die sie der Beschreibung nach wohl gewesen sein könnten, in der Gegend des Hafens gesehen haben, wo einige der kleinen Schiffe eben segelfertig lagen, welche uns alljährlich Früchte, Blumen und Singvögel aus Danzig und Königsberg bringen, aber nur für Passagiere aus den niedern Ständen eingerichtet sind; sprach der Kapellmeister. Und nun, mein Fürst, wenn Sie mir wirklich wohlwollen, kein Wort wieder von Jenen! es sei als wären sie nie gewesen, ich bitte inständigst darum: setzte er auf eine Weise hinzu, aus welcher deutlich hervorging, wie ernstlich diese Bitte gemeint sei.


Iwan lag indessen in ununterbrochenem todtenähnlichem Schlummer; nur ein kaum merkbarer Lebenshauch, der zuweilen die müde Brust langsam senkte und hob, war das einzige Zeichen, daß er dem Grabe noch nicht ganz verfallen[394] sei. Verborgen kämpfte indessen in seinem Innern die Natur den harten Kampf auf Leben und Tod, seine Jugendkraft siegte, das Fieber wich, mit ihm der Wahnsinn, der so lange den Armen mit glühenden Krallen gefesselt gehalten, und Iwan erwachte nach vier und zwanzig Stunden, matt, todesmatt, aber er lebte doch noch, und war dem Bewußtsein wiedergegeben.

Unter Richards und seiner Freunde treuer Pflege stellte in der Folge die Hoffnung, ihn dem Leben zu erhalten, sich täglich fester; zwar blieb er lange noch kraftlos, wie ein krankes Kind, doch jedes wahrhaft beunruhigende Symptom war verschwunden; sein Blut bewegte sich ruhig, kein Fieber jagte es mehr in ungestümen Wogen vom Herzen zum Herzen. Man durfte allmälig mit Gewißheit darauf rechnen, den langsam Genesenden bald ganz erkräftigt zu sehen; und da er jetzt auch anfing, an dem was außer ihm vorging, einigen Antheil zu nehmen, sogar[395] mitunter auf mannigfaltige Art, so viel es seine Schwäche erlaubte, sich zu beschäftigen, so stand Richard nicht weiter an, ihn täglich ein paar Stunden der Obhut seines Dieners allein zu überlassen, auf dessen wachsame Sorgfalt er rechnen durfte.

Doch wie groß war sein schmerzliches Erstaunen, als er eines Tages, etwas später als gewöhnlich, zu ihm zurückkehrte, und in einem ganz veränderten Zustande ihn fand, der von nun an sich täglich verschlimmerte, ohne daß es möglich gewesen wäre die Veranlassung desselben zu entdecken, oder auch nur für das Übel das den Unglücklichen innerlich zerstörte einen Namen zu finden. Kalt, bewegungslos, wie vom Starrkrampf gefesselt, lag er todtenbleich auf seinem Lager hingestreckt. Abgemagert bis zum Skelett, kaum noch der Schatten von dem was er gewesen, verschmähte er fast alle Nahrung, beantwortete keine Frage, nahm in grenzenloser[396] Apathie an allem, was um ihn her vorging, nicht den mindesten Antheil. Obgleich er fast immer mit geschlossenen Augen dalag, schlief er doch selten und nur auf kurze Augenblicke wirklich ein. Die Ärzte, welche seine Freunde um ihn her versammelten, verkannten keineswegs das Gefahr drohende dieses Zustandes, aber er blieb ihnen unerklärlich, um so mehr, da kein Symptom eigentlichen wirklichen Krankseins sich zeigte, das ihnen hätte zum Leitfaden dienen können.

In seiner großen Besorgniß wandte Richard sich endlich an den ersten Leibarzt des Kaisers, und dieser ließ, auf Fürsprache des Fürsten Andreas, sich bewegen den Kranken zu besuchen; mochte aber ebenfalls, eben so wenig als seine Kollegen, einen entscheidenden Ausspruch hier wagen. Der Fall schien ihm indessen merkwürdig genug, um zu einem zweiten Besuche ihn zu veranlassen; er nahm Platz neben des ganz regungslos[397] daliegenden Iwans Lager, und beobachtete ihn schweigend mit angestrengtester Aufmerksamkeit, während Eugen und Richard, hinter ihm stehend, sich ziemlich leise mit einander im Gespräch unterhielten.

Eugen sprach von einem merkwürdigen Naturereignisse, das sich vor kurzem in der Umgegend von Tiflis begeben. Tiflis? rief plötzlich der Leibarzt: Tiflis? wiederholte er: sprachen Sie nicht von der Stadt Tiflis, am Kaukasus? fragte er fast überlaut, und Eugen wiederholte umständlich, was er so eben seinem Freunde erzählt hatte.

Daß Iwan, der bis dahin wie versteinert dagelegen, bei Nennung jenes Namens wie von einem elektrischen Schlage getroffen, zusammen fuhr, was weder Eugen noch Richard gewahr worden waren, war dem geübten Blicke des trefflichen Arztes nicht entgangen.

Ein merkwürdiges Ereigniß gleich diesem,[398] nahm er jetzt laut und deutlich das Wort, wäre schon an und für sich hinreichend, es jedem eifrigen Freunde der Natur ewig bedauern zu lassen, daß jenes schöne Land uns so fern liegt! Die Reise dorthin ist überdem mit so großen und vielen Schwierigkeiten verknüpft, daß sie nur wenigen, von Umständen besonders Begünstigten, möglich werden kann. Wenig Himmelsstriche sind von der Natur so reich ausgestattet als der Kaukasus, besonders aber die Umgebungen von Tiflis. Jahrelang, mit täglich erneutem Interesse könnte man im eifrigsten Naturstudium dort verweilen. Die siedendheiß den Felsen entsprudelnden Heilquellen stehen keinen in der Welt an Wirksamkeit nach. Ich selbst habe das kaukasische Gebirge zwar nur aus der Ferne, und Tiflis leider gar nicht gesehen, als ich auf Befehl unsers Kaisers, die noch viel zu wenig gekannten Gesundbrunnen bei Konstantinogorsk, besonders den Sauerbrunnen von Kislawodsk[399] untersuchen mußte; letzteren könnte man füglich die Quelle ewiger Jugendkraft nennen.

Doch schon um Kislawodsk herum, gleicht das Land den Beschreibungen der paradiesischen Wohnung unsrer ersten Eltern, fuhr der Arzt in lebhafter Begeisterung fort; wie schön mag es erst jenseits des Gebirges, um Tiflis herum sein. Bei einem Kunstfreunde sah ich vor einigen Tagen mehrere, von dem seit einigen Jahren dort wohnenden berühmten Maler, Karl von Kügelgen, der Natur treu nachgebildete Landschaften, und konnte mich kaum wieder davon los machen. Der Kaukasus gleicht weder den Schweizer Alpen, noch dem schottischen Hochgebirge, alles ist anders, aber nicht minder herrlich. Ein eigner Charakter, im wundervollsten Wechsel nordischer Erhabenheit und südlicher Üppigkeit, zeichnet jene Gegenden vor allen Andern aus.

Sogar Eugen und Richard wurden jetzt zu[400] ihrem höchsten Erstaunen gewahr, welche fast magische Gewalt die Rede des Arztes auf Iwan übte. Der Starrkrampf, der so lange ihn gefesselt gehalten, wurde wie durch einen Zauberspruch plötzlich gelöst, die Züge seines Gesichts gewannen wieder Farbe, Leben und Ausdruck, seine Brust hob sich leichter athmend, wie neu beseelt. Tagelang hatte er regungslos wie eine Leiche dagelegen, und jetzt vermochte er sogar mit eigner Kraft sich im Bette aufzurichten, und als der Arzt den Maler Kügelgen erwähnte, zog er eine kleine unscheinbare Mappe hervor, die er unbemerkt bei sich verborgen gehalten, und benetzte sie mit einem Strom von Thränen, den ersten vielleicht, die er seit seiner Kindheit geweint.

Das Übel, das mit verzehrender Gewalt ihn befallen, war jetzt nicht mehr zu verkennen; eben jene kleine unscheinbare Mappe hatte den Ausbruch desselben veranlaßt, oder doch wenigstens beschleunigt. Lange hatte sie unbeachtet,[401] sogar vergessen, unter andern Papieren begraben, in Iwans Schreibtisch gelegen, als dieser während Richards Abwesenheit auf den Einfall kam, hier einmal Ordnung stiften zu wollen. Die Mappe fiel ihm in die Hände; ohne deutlich sich zu erinnern, was sie enthielt, öffnete er sie, und umgeben von Gärten und Bäumen, von hohen majestätischen Felsengruppen umfriedet, lag das ländliche Haus seines Vaters vor ihm. Karl von Kügelgens Meisterhand, der jetzt schon ebenfalls, fern von seinem gemordeten Zwillings-Bruder den langen Schlaf schläft, hatte vor vielen Jahren, skizzenartig, aber geistreich und treu, diese Zeichnung entworfen, und bei seinem Abschiede von Iwans gastfreien Eltern, sie ihnen zum Andenken hinterlassen. In der Staffage des Vordergrundes waren sogar einige Figuren angebracht, denen im leichtesten Umriß unverkennbare Ähnlichkeit mit Iwans Eltern und Geschwistern aufgedrückt war.[402]

Heimweh, tief und verborgen an den Grundfesten seines Lebens nagendes Heimweh ergriff hyänenartig bei diesem Anblicke den Sohn des Gebirges, und überwältigte den kaum Genesenden völlig. Er mußte diesem wunderbaren, in tausend verwirrenden Gestaltungen sich zeigenden Übel geistig und körperlich erliegen, das nur in bleibendem Wahnsinne oder im Tode enden kann, wäre es nicht noch zur rechten Zeit erkannt worden, um das einzige Mittel das davon heilen kann anzuwenden, welches aber auch in seiner Wirkung nie täuscht: Wiedersehn!

Schnell, kräftig, ohne Säumen, mußten jetzt alle Anstalten getroffen werden, den Unglücklichen zu retten, und durch die gesicherte Hoffnung baldiger Rückreise in sein Vaterland ihn vor einem Rückfalle zu bewahren, der ihn völlig dem Untergange zugeführt haben würde. Der kaiserliche Leibarzt stellte ihm ein Zeugniß aus, mit dessen Hülfe es dem Fürsten Andreas gelang, ihm[403] zu Wiederherstellung seiner Gesundheit Urlaub auf unbestimmte Zeit zur Rückkehr in sein Vaterland auszuwirken. Während dessen wurden die besten Maßregeln getroffen, um Iwans Anverwandte von seinem Zustande und seiner baldigen Ankunft zu benachrichtigen; was allerdings in jenen fernen oft unruhigen Gegenden nicht so leicht auszuführen ist als bei uns, wo Herr von Nagler Postillionen und Postpferden Flügel anzusetzen weiß.

Zuletzt mußte auch Richard sich entschließen den Freund, für den er schon so viel gethan und gelitten, zu begleiten, den man, aus verschiedenen Gründen, auf einer so weiten Reise nicht wagen durfte, nur sich selbst und der Obhut eines Dieners zu überlassen.


Betragen wir uns nicht wie Kinder? und zwar wie recht verzogene, verwöhnte Kinder, die[404] sich anstellen, als ob wunder großes Unrecht ihnen widerführe, wenn es nun endlich heißt: für heute ist es genug, morgen kommt wieder ein Tag: sprach Helena lächelnd zu ihrem im bangen Vorgefühle des nahen Abschieds versunkenen Freunde.

Morgen! seufzte Richard, und welche Reihe unheilbringender Tage, die ich fern von Dir hinleben muß, wird vielleicht dem folgen, der morgen anbricht! Helena! wüßtest Du, wäre es möglich daß – doch nein. Aus einigen Äußerungen, die Dir zuweilen entschlüpfen, möchte es mir zwar scheinen, als ob – doch es ist unmöglich. Wie könntest Du in dieser heitren Unbefangenheit verharren, wenn Du nur auf das Entfernteste ahnetest, welche Greuel eine Menschenbrust, dicht neben Dir, verschließen kann! Morgen reise ich! wer kann vorhersehen, ob meine Entfernung von Dir sich nicht über die ihr vorgezeichnete Grenze ausdehnen wird? Ich[405] gehe mit beklommener Brust und centnerschwerem Herzen. Gieb mir den einzigen Trost mit auf den Weg, der einigermaßen mich beruhigen kann; gestehe mir nur das Einzige, weißt Du, oder kannst Du wenigstens errathen, was es ist, das, gerade in dieser Zeit, auch die kürzeste Trennung von Dir und den Deinen mir so ungewöhnlich, so grenzenlos erschwert?

Wie magst Du nur mit solchen dunklen Fragen und Anspielungen diese Stunde uns verderben! erwiederte Helena. Indessen, setzte sie nach kurzem Bedenken hinzu, da es doch scheinen will, als ob Du ohne meine Antwort nicht mit Dir selbst fertig werden kannst, so will ich auch hierin Dir willfahren, und Dir gestehen, nicht was ich blos errathe, denn mit dergleichen pflege ich mich nicht abzugeben, sondern was ich wirklich weiß.

Mit diesen Worten stand sie auf, und trat dicht vor ihn hin; Richard blickte forschend sie[406] an, als wolle er durch ihre Augen bis in das Innerste ihrer Seele dringen; seine zitternde Hand umschloß die ihrigen, die sie ihm ruhig überließ, sein ganzes Wesen deutete auf heftig gespannte Erwartung; Helena schien das alles nicht zu bemerken.

Achte genau auf meine Worte, schiebe keinem derselben eine andere Auslegung unter, denn wörtlich wie ich es meine, so spreche ich es auch aus, fing sie sehr ernst und bedeutsam an; was ich weiß, sollst Du jetzt erfahren. Fürs erste weiß ich, daß es Frauen nicht ziemt in Geheimnisse eindringen zu wollen, an welchen öffentlich Theil zu nehmen ihr Geschlecht ihnen verwehrt. Dann weiß ich aber auch, daß Männer durch halbverständliche Andeutungen und Fragen ihnen dieses bescheidene Zurücktreten nicht erschweren sollen, indem sie dadurch obendrein sich selbst der Gefahr aussetzen, in einem unbewachten Augenblicke das, was ihnen das Heiligste sein muß, ihr[407] feierlich gegebenes Wort zu verletzen. Sie dürfen nie vergessen, daß selbst in dringender Todesgefahr dieser Ausweg ihnen verschlossen bleiben muß. Schweigend soll der Mann untergehen, schweigend sogar die Geliebte ins Grab sinken sehn können, wenn nur Meineid sie retten kann. Die schmerzlichste Trennung müßte ja einer solchen That unausbleiblich folgen; weit schmerzlicher als der Tod muß es sein, in dem einst Geliebten einen Wortbrüchigen verachten zu müssen.

Helena schwieg. Richard schlug, geblendet von der Hoheit, welche in diesem Augenblicke sie umstrahlte, die Augen nieder. Sie sah ihn lange und fest an; ich sehe, Du hast mich verstanden, sprach sie leise.

Sieh nicht so schwarz in unsre schöne Welt hinein, in unser an Hoffnungen so reiches Jugendleben: nahm sie lächelnd wieder das Wort, als Richard in düsterm Schweigen noch immer[408] vor sich hinstarrte. Was für ein Unheil ist es denn, das uns heute bedroht? eine Trennung von höchstens dritthalb Monaten, denn Deinen Urlaub wirst Du gewiß nicht überschreiten wollen. Und nach so viel Sorge, Angst und Nachtwachen am Krankenbette, bedarfst Du zu Deiner Erholung dieser Reise fast nicht weniger als Dein Freund, den Du in die Arme seiner Familie zurückführen willst. Unbegreiflicher Verrath eines heiß geliebten Mädchens hat, wie ich von Eugen vernahm, den Armen dem Wahnsinne, und beinahe dem Tode zugetrieben.

Nicht nur die Untreue der Geliebten, viel Gräßlicheres noch hat eine Wunde ihm geschlagen, die keine Zeit heilen kann, sprach Richard.

Ich denke das Erste allein wäre genug, um seinen traurigen Zustand zu erklären, fiel Helena ihm ein: übrigens habe ich, so viel ich weiß, ihn nie gesehen; es wäre indiskret, in seine nähern Verhältnisse eindringen zu wollen.[409]

Richard sah ein, daß Helena absichtlich alles vermied, was zu Erläuterungen führen konnte, denen auszuweichen sie fest entschlossen war; er fügte sich ihrem Willen, so schwer es ihm auch wurde. Ihre beiden Brüder kamen jetzt hinzu, um den Freund vor seiner Abreise noch einmal zu sehen. Ihre Gegenwart löste jeden Mißton in Richards Gemüth, Helena suchte in der gemäßigteren Stimmung ihn zu erhalten, die allmälig sich seiner bemächtigte, und die Anmuth ihres Geistes trug auch diesmal den Sieg davon. Ehe er sich dessen versah, hatte er von der Geliebten Abschied genommen, um sich nun zu ihrem Vater zu begeben, der ihn erwartete, und der ruhigere Schlag seines nur noch von wehmüthigem Trennungsschmerze erfüllten Herzens, das vorhin in wilder Aufregung tobend, ihm die Brust zu zersprengen drohte, erschien ihm selbst beinahe wie ein Wunder.
[410]

Fürst Andreas saß an seinem Schreibtische, als Richard zu ihm hinein trat. Sorgsam vorbereitet, als gälte es einem geliebten, eine lange, nicht ganz gefahrlose Reise antretenden Sohne, und nicht dem armen namenlosen Fremdlinge, der weiter keine Ansprüche an ihn hatte, als die er gütig ihm gewähren wollte, lag alles ausgebreitet vor ihm, was zur Annehmlichkeit und Sicherheit von Richards Reise bis an die fernste Grenze des kolossalen Kaiserreiches beitragen konnte: Kreditbriefe, Reiseroute, Empfehlungen an die bedeutendsten Bewohner und an die Behörden der Orte, durch welche sein Weg ihn führen mußte. Daneben lag das Tagebuch, welches der Fürst vor mehreren Jahren auf dieser nämlichen Reise eigenhändig und sorgfältig niedergeschrieben hatte.

Richard fand bei diesem väterlichen Empfange keine Worte, um sein dankbares Gefühl laut werden zu lassen. Doch nicht dieses allein war es, was Athem und Sprache ihm benahm, noch[411] viel Andres erfüllte bis zum Überfließen sein Herz. Er wollte zum stummen Beweise seines Dankes wenigstens die Hand seines Wohlthäters an seine Lippen drücken, der edle Fürst zog in väterlicher Umarmung ihn in seine Arme, an seine Brust, und Richard brach in Thränen aus; er konnte nicht anders, es war zu viel für das ihn überwältigende Gefühl.

Der Fürst war weit davon entfernt, diesen Ausbruch seines Gefühls dem augenscheinlich Tiefbewegten verargen zu wollen, aber doch hielt er es für gerathen, ihn nicht zu bemerken, um nicht in die nächste Veranlassung zu demselben eindringen zu müssen, welche er dem ihm nicht unbekannt gebliebenen Abschiedsbesuche bei Helenen zuschrieb.

Schonend wollte er ihm Zeit lassen sich zu fassen, und nahm deshalb sein Tagebuch zur Hand, aus welchem er einiges wohl zu Beherzigende ihm mittheilte. Er sprach viel von den Sitten und Gebräuchen der Völker, mit denen[412] Richard unterwegs in Berührung kommen würde, prieß die erfreulichen Fortschritte der Kultur in Georgien, seit dieses Volk beim Anfange dieses Jahrhunderts, unter dem Kaiser Paul, sich freiwillig dem russischen Scepter unterworfen, vergaß aber auch nicht die wilden Horden der Tschetschen und Tscherkessen zu erwähnen, die zu großen Räuberbanden vereint, oft gleich einem Heuschreckenheere das Land überfallen und den Reisenden gefährlich werden.

Dann kam er auf die Behandlung des Landbaues, dessen Verbesserung unter diesem günstigen Himmelsstriche, in diesem üppig fruchtbaren Boden, seiner Behauptung zufolge, noch Vieles zu wünschen übrig läßt; zuletzt erwähnte er das dortige Fabrikwesen, die Stoffe in Gold, Silber und Seide, die köstlichen Shawls, die reichen Teppiche jener Länder. Hier befand sich der gute Fürst in seinem Elemente, fröhlichen Muthes schwang er sich auf sein Lieblings-Steckenpferd,[413] und tummelte sich eine gute Weile zwischen Plänen und Ideen zur Vervollkommnung jener Fabrikate und Erleichterung der Verbreitung derselben durch den Handel, ganz lustig herum. Richard hörte, wenigstens scheinbar aufmerksam, ihm zu, als der Fürst, der jetzt ihn ruhiger geworden glaubte, mitten in Aufträgen, die er in Hinsicht auf jene Pläne zum allgemeinen Besten ihm gab, sich selbst plötzlich unterbrach.

Bin ich thöricht, rief er, Dich da mit Dingen zu behelligen, die wahrscheinlich ganz außerhalb des Bereichs Deines Wirkungskreises liegen bleiben werden! Denn das kaukasische Gebirge wirst Du wohl nur von fern erblicken, und die uralte Stadt Tiflis gar nicht, was mir freilich sehr leid thut. Iwans Verwandte kommen vermuthlich noch diesseits des Gebirges ihm entgegen, um nach der ihm zu seiner völligen Genesung verordneten Heilquelle von Kislawodsk[414] ihn zu begleiten, die an belebender Kraft freilich ihres Gleichen in der Welt nicht hat. Auch Dir möchte der Gebrauch dieses wunderbaren Wassers ebenfalls sehr heilsam sein, aber es wird Dir an Zeit dazu mangeln; Du darfst Deinen, ohnehin auf ungewöhnlich lange Zeit Dir gewährten Urlaub, in keinem Falle überschreiten, und in jenen Gegenden, auf schlechten, zum Theil fast ungebahnten Wegen, kommt man so rasch nicht vorwärts als bei uns. Du hast auch auf die noch schwachen Kräfte Deines Freundes Rücksicht zu nehmen; pflege ihn sorgsam, und fahre ja in jeder Hinsicht fort, ein wachsames Auge auf ihn zu halten. In jeder Hinsicht, Du verstehst mich? in jeder Hinsicht: wiederholte der Fürst, indem er einen ganz eignen Nachdruck auf diese Worte legte. Und nun laß uns beim Abschiede uns kurz fassen, ich liebe keinen langen, setzte er sehr mild, fast weich werdend hinzu; geh' jetzt, mein Sohn, kehre mit neugestärkter[415] Lebenskraft zur rechten Zeit in Deine Heimath zurück. Gehe, wiederholte er sich abwendend, mit einer verabschiedenden Bewegung der Hand, als er bemerkte, daß Richard in augenscheinlich höchst leidenschaftlicher Aufregung stehen blieb.

Der Fürst blickte sehr ernst, wenn gleich nicht zürnend ihn an; es herrschte in dem ziemlich geräumigen Zimmer eine Stille, man hätte den Fall einer Stecknadel hören können, und Richard stand noch immer lautlos und unbeweglich.

Hast Du noch etwas auf dem Herzen, mein Sohn? fragte endlich Fürst Andreas; daß Du mir vertrauen darfst, weißt Du, doch ermahne ich Dich, Eines wohl in Überlegung zu ziehen, ehe Du den Gedanken laut werden lässest, der noch in Unentschiedenheit auf Deinen Lippen zu schweben scheint; bedenke wohl, daß das einmal ausgesprochene Wort kein Gott wieder zurückruft, es ungehört zu machen liegt außer dem[416] Gebiete der Möglichkeit; und doch giebt es Dinge, die weder Dir auszusprechen, noch mir anzuhören, für jetzt wenigstens durchaus noch nicht ziemen will.

In steigender, mit sich selbst ringender Spannung, stand Richard noch immer schweigend da.

Noch eines empfehle ich Dir wohl zu beherzigen, fuhr der Fürst halb verlegen, halb mißmüthig fort: hüte Dich vor Ungeschick und Übereilung, bedenke daß der Verständige geduldig es abwartet, bis durch des Himmels Begünstigung und sein eignes Bemühen die Frucht am Baume gereift ist; nur ein Thor wird vor ihrer gänzlichen Entwickelung, gleichsam noch halb in der Blüthe, sie herunterreißen wollen. Nur dem vollendeten Tagewerke gebührt der Lohn. Um zu zeitigen, muß man allem was zeitigen soll, Zeit lassen; die Lehre liegt schon in dem Worte allein.

Dem armen Richard wurde es immer ängstlicher und befangener zu Muthe; die Worte, die[417] Blicke seines Wohlthäters, alles verwirrte ihn. Daß die dunkeln, ihm ganz unverständlichen Reden desselben nur dahin abzwecken sollten, ihn von einem übereilten Geständnisse seines Verhältnisses zu Helena abzuhalten, das kam ihm, der noch nie daran gedacht hatte, durchaus nicht in den Sinn. Zwar hatte der Fürst durch absichtliches Nichtbemerken, und auch auf andre Weise diesem Verhältnisse gewissermaßen seine Zustimmung gegeben, aber es lag in seinem Plane, es zu ignoriren, während er es duldete, und Richards seltsames Benehmen hatte ihn wirklich eine Erklärung befürchten lassen, die wenigstens für jetzt ihn sehr unangenehm berührt haben würde. Richard aber, in diesem Augenblicke nur von einem einzigen Gedanken erfüllt, legte den geheimnißvollen Warnungen seines Beschützers eine Deutung unter, deren Gräßlichkeit ihn mit Angst und Schauer ergriff. Und so standen beide einige Sekunden lang im seltsamsten gegenseitigen[418] Mißverstehen einander schweigend gegenüber.

Richard hielt es nicht länger aus. Außer sich, bebend, als gelte es die ewige Seligkeit, warf er, zum erstenmale in seinem Leben, sich dem Fürsten zu Füßen, und umfaßte dessen Kniee.

Was soll das? rief dieser heftig, indem er zürnend zurücktrat: Komödie wirst Du doch mit mir nicht spielen wollen?

Eine verneinende Bewegung, ein flehendes Aufblicken zu ihm, waren die einzige Antwort, welche Richard aufzubringen vermochte.

Mein Sohn, sprach der Fürst in etwas ruhigerer Fassung, nochmals warne ich Dich, hüte Dich vor Unbesonnenheiten, denn es giebt Dinge, die ich mit dem besten Willen selbst Dir nicht ungeahndet hingehen lassen darf. Ich fordre nochmals Dich auf, dieses nie zu vergessen. Und nun entdecke mir, was so schwer auf Deinem Herzen zu lasten scheint, wenn Du nach dieser[419] sehr ernst gemeinten Warnung überzeugt bist, es zu dürfen. Aber nicht so: setzte er hinzu, indem er des noch immer vor ihm knieenden Richard Arm ergriff: mir gegenüber, Auge in Auge, wie es zwischen freien Männern sich gebührt.

Mitleid! Erbarmen! Rettung erflehe ich; nicht für mich! aus mir werde was mein Schicksal will; rief Richard, kaum seiner selbst mächtig, indem er von den Knieen sich erhob: für Sie, mein Beschützer, mein Wohlthäter, mein Vater, Rettung für Sie, für die Ihrigen, für Millionen Menschen, für unser großes heiliges Vaterland.

Ich verstehe nicht was Du meinst, erwiederte voll Erstaunen der Fürst.

Hier auf dieser Stelle möchte ich mein Herzblut vergießen, allem entsagen, was mir auf Erden am theuersten ist, wüßte ich dadurch Sie zu bewegen, auf mein Flehen zu hören: fuhr Richard aus vollem überströmenden Herzen fort.[420] Ein unaussprechliches vorahnendes Gefühl verfolgt mich Tag und Nacht; fürchterliche Angst, die mich so von hier nicht scheiden lassen will, Dankbarkeit, Pflicht, alles treibt mich, und sollte Ihr Zorn darüber ewig mich verfolgen, ich muß flehend Sie beschwören, o treten Sie zurück aus jenem fürchterlich entarteten Bunde! vernichten Sie jene Rotte, deren teuflische Künste Sie und uns Alle zu umgarnen trachten; jene sogenannten Söhne des Vaterlandes, die Tugend und Vaterlandsliebe auf der Zunge, über vom Fürsten der Finsterniß, im tiefsten Abgrunde der Hölle ersonnene Verbrechen brüten; vor allem aber das würdige Werkzeug desselben, jenen gleißnerischen trügerischen Buben – –

Das wäre es also? das quälte Dich, und darüber, glaubst Du, könnte ich Dir zürnen? Nein, wahrlich, auf diese Entdeckung mich vorzubereiten, bedurfte es so großer Umwege nicht; unterbrach ihn sehr freundlich der sichtbar erleichterte[421] Fürst. Guter, redlicher Mensch, wie könnte ich Deine Absicht verkennen? komme nur wieder zu Dir selbst, fasse, beruhige Dich, und Du sollst erfahren, wie überflüßig Deine große Sorge war. Daß ich Dir immer Vertrauen schenkte, so viel Deine große Jugend und Deine Stellung im Leben dieses erlaubten, habe ich Dir oft mit der That bewiesen. Von diesem Augenblicke an verlasse ich mich auf Dich, wie auf mich selbst, und Du sollst alles erfahren; doch laß uns das Wichtige mit geziemender Ruhe behandeln.

Was Du verlangst, ist größtentheils vollbracht: fing der Fürst mit dem väterlichen Ausdrucke innigen Wohlwollens an, als Richard von jener gewaltsamen Aufregung sich völlig erholt hatte. Der Bund, den Du mit großem Rechte entartet nennst, zerstiebt einstweilen in sich selbst, und seine förmliche Auflösung, die doch nicht ganz unbemerkt vorüber gehen möchte, wird dadurch[422] überflüßig. Gleich nach jener letzten großen Versammlung, die wohl keiner jemals vergessen wird, der ihr beiwohnte, hat eine ziemlich bedeutende Anzahl der Verbündeten vor dem Rathe der Alten den Wunsch um Entlassung aus demselben erklärt; ohne Zögern ward er jedem mit der Versicherung gewährt, daß der Bund ohnehin als völlig aufgelöset zu betrachten sei. Zwar haben wir schon früher denen, die in ihrem Eifer etwas lauer zu werden schienen, das Nämliche aus Vorsicht gesagt, doch diesesmal verhält es sich wirklich so; der Bund ist völlig im Verfalle und seinem Ende nahe; wer nicht Muth genug besitzt, um förmlich ihm zu entsagen, der tritt schweigend zurück, oder verreiset auf einige Zeit; und zu diesen letztern zählen sich Männer von großer Bedeutung, die einst zu den ersten Stiftern unsrer Verbindung gehörten.

Richard war jetzt nicht nur ruhig genug, um ein sehr aufmerksamer Zuhörer zu sein, er hatte[423] auch sogar den Muth gewonnen, einige Zweifel an der wirklichen Aufhebung des Bundes zu äußern, vor allem aber sein bittendes Warnen in Hinsicht auf den Obrist Pestel zu wiederholen.

Ich bitte mir hierin unbedingten Glauben zu gewähren, der Bund sinkt schnell, ohne äußeres Zuthun, und deshalb um so unaufhaltsamer seiner völligen Auflösung zu; erwiederte Fürst Andreas. Seit jener Nacht hat keine große Versammlung wieder Statt gehabt; doch während Du an Iwans Krankenbette wachtest, sind wir nicht müßig geblieben; eine kleine Auswahl wahrhaft wohlgesinnter Freunde hat oft sich versammelt, um sich über das was zuvörderst Noth thut zu berathen; daß Pestel nicht in ihrer Mitte war, brauche ich wohl nicht zu versichern. Er und sein Thun sind uns jetzt kein Geheimniß mehr; wir kennen ihn jetzt, jenen eifrigen Verfechter der Freiheit, der alles vor sich niedertreten möchte, um sich selbst zu erheben. Das Lügengewebe[424] liegt ausgebreitet vor uns, mit dessen Hülfe es ihm damals gelang unsern Sinn zu verwirren, so daß er jenem Abgrunde des Verbrechens uns zutreiben konnte, vor welchem des armen Iwans ausbrechender Wahnsinn wie durch ein Wunder uns bewahrte. Entlarvt steht er vor uns, der große Künstler, und es wird keines zweiten Wunders bedürfen; wir kennen ihn jetzt, und das sichert vor ihm und seinen Künsten.

All' unser Wollen und Beabsichtigen war rein, wie das Licht der ewigen Wahrheit, ehe jener aus List, Ehrgeiz, und nichts heilig achtendem Egoismus zusammengesetzte Fremdling, in unsern engen Freundeskreis sich einzuschleichen wußte; fuhr der Fürst im Verlaufe des immer ernster und angelegentlicher sich gestaltenden Gesprächs fast klagend fort. Unsre Pläne für das allgemeine Wohl des Vaterlandes waren solcher Art, daß selbst die große edle Seele unsers Czaars,[425] den Gott uns noch lange erhalten möge, weder seinen Beifall, noch selbst seine Unterstützung ihnen versagt haben würde, wären wir mit der Ausbildung derselben nur so weit ins Klare gekommen, daß wir sie, wie es unser fester Wille war, ihm hätten vorlegen können. Doch Pestel wußte dieses heimlich zu verhindern; gleich einem geschickten Taschenspieler leitete er durch allerlei Künste unsre Aufmerksamkeit von dem Punkte ab, dem wir sie ausschließend hätten zuwenden sollen. Nicht Abänderung einiger verjährten Mißbräuche, die für unsre Zeit nicht mehr passen, nicht Verbesserung der Zustände, wie sie jetzt noch bestehen, will er mit uns vereint herbeiführen. Alles umwerfen, alles vernichten, und dann auf rauchenden Ruinen sich einen Thron erbauen, das ist sein Plan, den wir glücklicher Weise jetzt durchschauen.

Im engern Kreise stellt er uns immerwährend die vereinten Staaten von Nordamerika als[426] Vorbild auf; immer läßt er die unsinnige Idee durchblicken, dieses unübersehbar große Reich in eine Republik umzuwandeln. Unser Washington möchte er werden; er ein Washington! eher ein Bonaparte, wenn Glück, Talent und Gelegenheit ihn wie diesen begünstigen möchten, und die ewige Barmherzigkeit zwei solcher Zuchtruthen, so schnell auf einander folgend, auf die kaum befreit aufathmende Welt herabsenden wollen könnte.

Die blutigen Gräuel wilder Anarchie, welche zur Zeit des Terrorismus unter Marat, Robespierre, und den übrigen Hyänen in Menschengestalt das unselige Frankreich verwüsteten, sind, wie er behauptet, hier durchaus undenkbar; denn, spricht er, in Paris ging die Revolution vom Pöbel aus, hier wird sie von der Armee ausgehen; aber zu seinem eigenen Verderben wird er erfahren, in welchen ungeheuern Irrthum er verfallen ist. Zwar unterläßt er nichts, was dazu[427] dienen kann, den Soldaten gegen seinen Oberherrn zu erbittern; wir folgen ihm auf jedem seiner Schritte, und es entgeht uns nicht, wie er mit unmenschlicher Härte, oft sogar schreiend ungerecht, leichte militairische Vergehungen bestraft, und dann es heuchelnd bedauert, durch expressen Befehl von höchster Hand zu so unbilliger Strenge gezwungen zu sein. Doch es wird, es kann ihm nie gelingen; der russische Soldat ehrt Gott wie seinen Kaiser, und seinen Kaiser wie Gott; in dem rohen aber treuen Sinne dieser einfachen unverbildeten Gemüther, schmilzt der Begriff von Beiden in Eins zusammen.

Sobald Pestel und seine Genossen irgend eine Äußerung wagen, die mit dem natürlichen Pflichtgefühle des gemeinen Soldaten nicht ganz vereinbar ist, frägt dieser gleich: ist das aber nicht gegen unsern Eid? und weiß der Kaiser darum?

Einige Stunden waren in diesem, für beide[428] Theilnehmer gleich interessantem Gespräche unbemerkt vergangen; denn daß Fürst Andreas nicht immer allein das Wort führte, und über vieles weitläuftiger sich verbreitete, was hier enge zusammen gedrängt erscheint, bedarf wohl kaum erwähnt zu werden. Mitternacht war vorüber, die unvergleichlich schöne kurze Sommernacht des hohen Nordens begann schon dem Tage zu weichen. Heller und immer heller flammte es im Osten auf, den nahen Aufgang der Sonne verkündend, als endlich Richard mit sehr erleichtertem Gemüthe von seinem hohen väterlichen Freunde Abschied nahm.

Sein Weg führte an dem Hotel des Grafen Stephan ihn vorüber, den er, auf mancherlei Weise daran verhindert, seit längerer Zeit nicht gesehen. Tiefe nächtliche Stille deckte noch das große Gebäude; für den Abschiedsbesuch, den er hier abzulegen sich vorgenommen, war es jetzt beides, zu spät und zu früh geworden. Er wandte[429] daher ohne Säumen sich seiner Wohnung zu, wo er Iwan noch schlafend, und für sich selbst noch ein paar Stunden zum Ausruhen zu finden hoffte. Zu seinem Erstaunen kam Iwan schon völlig reisefertig ihm beim Eintritte entgegen, und drang mit fliegender Ungeduld auf augenblickliche Abreise.

Nur fort, nur fort aus dieser geschniegelten Welt, rief er in fieberhafter Hast: hier brennt der Boden mir unter den Sohlen, ich kann nicht athmen, der Himmel lastet schwarz und schwer, gleich dem Deckel eines Sarges, auf mir, und nur daheim in meinen Bergen weht frische Lebensluft.

Quelle:
Johanna Schopenhauer: Richard Wood. Theil 2, Leipzig 1837, S. 1.
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