Neujahrslied

[259] Mit Todesschauer denken wir

Der Jahre schnellen Lauf

Und singen in dem Tempel hier

Ein Lied zu Gott hinauf.


Schnell, wie Gedanken, Schall und Licht,

Flieht hinter uns die Zeit,

Und vor uns drohet ein Gericht

Und eine Ewigkeit.


Und dennoch morden wir die Zeit

Und fürchten nicht den Tod?

Und fürchten nicht die Ewigkeit,

Die uns, den Mördern, droht?


Wer nicht an Jesum Christum glaubt,

Und ihn nicht brünstig liebt,

Dem Schöpfer seine Ehre raubt

Und sie Geschöpfen gibt;


Wer wie ein Vieh aus Pfützen säuft,

Im Lasterkothe wühlt;

Wer Sünden wie Gebirge häuft,

Und doch den Berg nicht fühlt;


Und wer mit hündischer Begier

An seinen Gütern zerrt,

Vor einem Lazarus die Thür'

Mit großen Riegeln sperrt;


Wer eine blut'ge Thränenfluth

Aus Wittwenaugen preßt,

Und seinen fetten Wanst vom Blut

Zertretner Waisen mäst't;


Wer außen wie ein Schaf gekleidt,

Von innen wölfisch denkt,

Und wer das Glück der Ewigkeit

Für Erdenglück verschenkt;[260]


Wer Brüdern nach dem Leben greift,

Mit Rache angethan;

Wer nur Beleidigungen häuft

Und nicht verzeihen kann;


Wer gähnend seine Pflicht vergißt

Und Zeitvertreibe sucht,

Und wenn die Zeit verflogen ist,

Auf ihre Schwingen flucht;


Wer unreif zu der Ewigkeit

Zum Tode sich nicht schickt:

Das ist der Mörder, der die Zeit

Mit eigner Hand erdrückt.


Sind solche Ungeheuer hier,

Herr, so bekehre sie!

Der ganze Tempel seufzt wie wir:

Ach Herr! bekehre sie.


Wie viele singen heute auf,

Noch unbekehrt und blind,

Die nach vollbrachtem Jahreslauf

Schon Staub und Moder sind.


Wie dunkle Schatten fahren sie

Zur Hölle dann hinab;

Zu der Tyrannin, die noch nie

Die Todten wieder gab.


Drum arme Seele denke heut

Mit Ernst an deinen Tod;

Denn jedes unsrer Jahre schreit:

Gedenk an deinen Tod!


Zu dir, der sein wird, ist, und war,

Steig' unser Lied hinauf:

Ach Gott, nimm doch in diesem Jahr

Die Todten zu dir auf.[261]


Und du, Vertreter, rede laut,

Wenn uns der Richter droht;

Wenn Zorn aus seinem Auge schaut

Und aus der Stirne Tod.


Geist Gottes, zeige deine Macht,

Wenn uns das Auge bricht.

In einer solchen Mitternacht,

Da brauchen wir ja Licht.


Wie kann der frommen Christenschaar

Der Tod nun schrecklich sein?

Sie weihen ja das neue Jahr

Mit ihren Thränen ein.

Quelle:
Christian Friedrich Daniel Schubart: Gedichte. Leipzig [o.J.], S. 259-262.
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