Meinem Erlöser

[293] Du, den ich sonst, wie unter trüber Hülle

Des Mondes Antlitz dämmern sah;

Wie bist du mir in deiner Gottesfülle,

Erlöser, nun so nah;


Wenn ich im Morgenstrahle mich erhebe,

So fühl' ich's, daß du um mich bist,

Ich grüß' die Sonne, die die Stäbe

Von meinem Gitter küßt.[293]


Ich hör' dich säuseln in der Lüfte Freie

Und fühl' dein Wehen um mich her;

Ich seh' dich in des Himmels Bläue

Und in des Lichtes Meer;


Seh' im Mittag, wenn kleine Wolken ziehen,

Dem Zuge mit Entzücken zu,

Und seh' den Abendhimmel glühen

Und denke: dort bist du!


Seh' dich am Sternenhimmel flimmern,

Wenn ihn dein Kleid mit Licht beflammt,

Seh' dich im nassen Grase schimmern,

Wie auf des Veilchens Sammt.


Wie lieb sind mir die Menschen, meine Brüder!

Ich schaur' in süßer Sympathie;

Denn Glieder sind sie, Jesu Glieder;

Mit Blut besprengt sind sie.


Doch näher noch, noch unaussprechlich näher,

Erlöser, bist du mir;

Mein Herz, du weißt es, Herzensspäher,

Mein Herz ist voll von dir.


Du bist um mich in meiner öden Zelle,

Umgibst mich früh und spät,

Machst meine stummen Wände helle

Und sonnest meinen Pfad.


Wenn Einsamkeit um mich die Flügel breitet

Und mich in schwarze Schatten hüllt,

Wenn Sehnsucht auf den Wangen gleitet

Und meine Augen füllt;


Wenn ich mein Weib im Wittwenschlei'r erblicke

Und schling' den Arm um sie herum

Und ach! nur Duft an meinen Busen drücke

Und starrend steh' und stumm;[294]


Wenn Kinder mir wie unterm Flor erscheinen,

Wenn Mutter, Bruder, Freund mich schreckt

Und mich ihr fernes dumpfes Weinen

Zur Jammerklage weckt:


Dann seh' ich dich, erbarmender Erlöser,

Wie du voll sanftes Mitleids bist;

Und deine Liebe wird mir größer,

Als Erdenliebe ist.


Und wenn ich Nachts am sterngestickten Himmel

Dem vollen Mond ins Antlitz seh',

Und ach! im stürmischen Gewimmel

Der Qualen fast vergeh';


Und wenn ich oft im Innersten empfinde

Des Schöpfers Größ' und Reinigkeit,

Und fühl' mich selbst befleckt von Sünde,

Und wilder Lust entweiht;


Wenn Thränen dann in schnellen Tropfen rollen,

Daß ich so tief gefallen bin;

So streck' ich nach dem Wundenvollen

Die starren Arme hin,


Und stammle: Ach, Versöhner, sei mir Alles,

Besprenge mich mit deinem Blut,

Mich staubgebornen Sohn des Falles,

O Mittler, mach mich gut!


Dann steht dein Kreuz vor meines Geistes Augen;

Es fließt das Opferblut von dir.

Ich bücke mich, die Tropfen aufzusaugen,

Und Stärkung sind sie mir.


O Bundesmittler, der mit jedem Tage

Mir unaussprechlich näher ist;

Ach, wenn sich bald mit sanfter Klage

Mein Aug im Tode schließt;[295]


Wenn sie verlöschen, meines Lebens Funken,

Wenn Todesschweiß die Stirne deckt,

Und meine Seele tiefgesunken

Die Todeswoge schreckt:


So thu' ein Wunder, reiß mich aus den Qualen,

Und laß der losgewundnen Seel'

Dein Sonnenantlitz früher tagen,

O mein Immanuel!


Und nimm mich auf in deine Friedenswohnung!

(Der Leib ist, Mutter Erd', für dich)

Und neun' mit brüderlicher Schonung

Vor deinem Vater mich.


Am Tag der Jubel und der höchsten Psalmen,

Wo wir aus stillen Gräbern gehn,

Laß unter Millionen Halmen

Auch meine Halme wehn!


Und gib mir alle meine Lieben wieder;

O dann, Erlöser, sinken wir

In Strahlen deines Thrones nieder

Und danken, danken dir.

Quelle:
Christian Friedrich Daniel Schubart: Gedichte. Leipzig [o.J.], S. 293-296.
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