Frage

[73] Warum ist mir das Morgenroth

So blutgestreift? die Welt so todt?

Warum strahlt mir das Sonnenlicht

Oft so beschwerlich ins Gesicht?

Und warum weint die Wolke mir?

Was trau'rt der Linde Blütenzier?

Die Lüfte wimmern: jedes Bild

Ist mir in Trauerflor gehüllt!

Der Thau, beglänzt vom Sonnenschein,

Däucht mir, vom Schmerz geweint zu sein,

Die Wohlgerüche in der Luft

Umschwimmen mich, wie Gräberduft;

Die lieben Blümlein allzumal

Sind mir versengt vom Sonnenstrahl.

Der Vogel aus der Luft herab

Tönt mir, wie Sterbgesang am Grab;

Und alles, alles um mich her

Scheint kummervoll und thränenschwer.

Die Farben grün und weiß und roth,

Sind abgestanden, schwarz und todt.

Die Menschen, deren Trost ich such',

Sind Geister, die im Leichentuch

Mich ansehn bleich, und furchtbarstumm.

Du guter Gott! warum, warum?

Hast du der ganzen Erde Pracht

Zu einem Todtenschlund gemacht?

Ach nein! die Welt ist noch, wie vor,

Nur dem, der, Freiheit! dich verlor,[73]

Ist diese Welt, so schön gemacht,

Ein Todtenschlund voll Fluch und Nacht;

Wo alles heult, den Schädel schlägt,

Verzweiflung brüllt, und Ketten trägt!

O Gott im Himmel, mach' mich frei

Aus dieser Höllentäuscherei!

Quelle:
Christian Friedrich Daniel Schubart: Gedichte. Leipzig [o.J.], S. 73-74.
Lizenz:
Kategorien:
Ausgewählte Ausgaben von
Gedichte
S Mmtliche Gedichte, Volume 1
S Mmtliche Gedichte, Volume 3
Gedichte. Aus der