Auf dem Hübichenstein

[168] Am 27sten April 1816.


Tief im Gebirg, am Tannenhain

Steigt aus dem Thal ein alter Stein;

Er schaut in's Land hinaus gar fern,

Ihm nahn die Menschen nimmer gern.


Dort spannt sein Netz der Efeu aus

Und wölbt ein schattig grünes Haus;

Am Rande schwillt das Moos so weich,

Tief rinnt die Quelle durch's Gesträuch.


Dort sitzt der Elf im Mondenstrahl

Und singt hinab in's dunkle Thal;

Wie Windeshauch, wie Glockenklang,

So schallt sein Lied das Thal entlang.
[169]

Wie einsam ist es auf den Höhn!

Wie schaurig hier die Winde wehn!

Dumpf rauscht der wilde Bach herauf,

Und sucht durch's Dunkel seinen Lauf.


Ich schau' hinab den Bergespfad,

Ob nicht ein Menschenkind sich naht!

Doch Alle ziehen fort ins Land

Und scheun sich vor der Elfenwand.


Der Aermste, der die Felder baut,

Hält sicher dort im Arm die Braut,

Der Schäfer weiß die Trift, den Bach,

Wo seine Liebste weiden mag.


Sie grüßen sich mit Hand und Blick,

Sie geben Wort und Kuß zurück;

Sie drehn sich froh im bunten Reihn,

Ich sitze traurig und allein.


Ich habe Blumen, roth und blau,

Die glänzen schön von frischem Thau;

Ich habe Gold, so rein und licht,

Und nur die Liebe hab' ich nicht.


Und keine freut sich meiner Kraft,

Wenn sie in Höhn und Tiefen schafft;

Der Sturm nur jauchzt auf meinen Ruf,

Die Blume weiß nicht, wer sie schuf.


Was soll ich winden Kranz und Strauß,

Bleibt ewig mir die Liebste aus?

Was soll ich hüten all mein Gold,

Wird drum kein treues Herz mir hold?
[170]

O Liebesflamme, Liebeslust,

Nie wärmst du meine wilde Brust!

Das blüh'nde Lebe, weich und warm,

Ruht kalt im luft'gen Geisterarm.


Und spiegelt auch im tiefen Quell

Mein Bild sich schön und mondenhell,

Heran, du Nacht und Nebelwehn!

Ich mag mein Bild nicht länger sehn.


So singt der Elf im Dämmerstrahl;

Sein Lied verhallt im dunkeln Thal;

Dann spannt er seine Flügel aus

Und füllt die Nacht mit Sturm und Graus.

Quelle:
Ernst Schulze: Sämmtliche poetische Schriften, Band 3, Leipzig 1819–1820, S. 168-171.
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