Am 15ten November 1813

[30] Hätt' ich dich nie gesehen,

Dann könnt' ich rasch dahin

Durch's heitre Leben gehen

Mit jugendlichem Sinn!


Und klagen würd' ich nimmer;

O Lenz, wie ist so bald

Entflohn dein goldner Schimmer,

Und dein Gesang verhallt!


Wo frische Rosen ständen,

Da fänd' ich Dach und Strauß,

Und wenn die Rosen schwänden

Verließ' ich Schmuck und Haus.


Wohl wechseln Licht und Farben,

Doch bleibt das Leben dein,

Und wo die Blüthen starben,

Wird dich die Frucht erfreun.


Jetzt muß ich ewig weinen

Um einen welken Kranz.

Die Frucht wird nie erscheinen,

Und ewig starb sein Glanz.
[31]

Doch heg' ich wohl mit Freuden

Den Schmerz in stiller Brust;

Und hätt' ich mindre Leiden,

So hätt' ich mindre Lust.


Wohl sinkt aus trüben Düften

Die Dämmrung öd' und grau;

Doch schwillt von süßern Düften

Die Blüth' im nächt'gen Thau.


Wohl kehrt das Vöglein nimmer,

Das einst sein Lied dir sang;

Doch hört dein Herz noch immer

Den wundersüßen Klang.


Wer Schönes je empfangen,

Dem bleibt es ewig nah;

Doch ewig muß verlangen,

Wer nie das Schöne sah.


Hätt' ich dich nie gesehen,

Dann müßte bald mein Herz

In Sehnsuchtsqual vergehen;

Jetzt lebt es durch den Schmerz.

Quelle:
Ernst Schulze: Sämmtliche poetische Schriften, Band 3, Leipzig 1819–1820, S. 30-32.
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