Erster Auftritt.

[64] Margarethe allein, sitzt rechts am Spinnrocken und spinnt.

Nr. 9. Romanze.


MARGARETHE.

Spinne, arme Margarethe,

Bald naht deiner Tage Ziel;

Und das Rädchen, das ich drehte,

Stehet dann für immer still.


Sie hört auf zu spinnen.


Laß mich sehen die Gebieter

In dem Schloß der Ahnen wieder;

Nur dieses, o Gott, erflehe ich von dir,

Eh' ich sterbe.


Sie beginnt wieder zu spinnen.


Nur so lang drehe dich

Mein Rädchen, schnell und leicht;

Nur so lang drehe dich,

Dann ist mein Ziel erreicht.

Auf, dreh' dich schnell und leicht,

Dann ist mein Ziel erreicht![64]

Nur bei deinem Angedenken

Wird das Mutterauge hell,

Deine Kindheit durft' ich lenken,

Armer Julius Avenel.


Sie hört auf zu spinnen.


Einmal nur, mich zu beglücken,

Möchte ich aus Herz dich drücken!

Nur dieses, o Gott, erflehe ich von dir,

Eh' ich sterbe.


Sie beginnt wieder zu spinnen.


Nur so lang drehe dich

Mein Rädchen, schnell und leicht;

Nur so lang drehe dich,

Dann ist mein Ziel erreicht.

Auf, dreh' dich schnell und leicht,

Dann ist mein Ziel erreicht.


Sie steht auf, stellt das Spinnrad nach rechts hinten beiseite und spricht.


Genug für heute der Arbeit und der traurigen Erinnerungen. Miß Anna wird gewiß bald aus ihren Zimmern herunterkommen. Die arme liebe Waise, von der ehemaligen Gebieterin dieses Schlosses erzogen! Als ich sie gestern mit Gaveston, den sie ihr zum Vormund gaben, ankommen sah, war es mir, als seien alle meine Wünsche erhört und der Erfüllung nahe, als würde auch mein guter Julius zurückkommen, denn ehemals waren sie immer beisammen. Ach, und sie waren immer so artig, besonders wenn ich sie beide auf den Armen hielt und die Gräfin mir zurief: »Gebt ja wohl acht auf die Kinder, Margarethe!« Nun, ich will meinen, daß ich acht gab! Mein teurer Julius, Sohn meiner unvergeßlichen Herrschaft! Da haben wir's! Da bin ich schon wieder bei diesen Gedanken. Es geht mir damit, wie mit dem Turm der alten Ruine inmitten des Parks: wohin man den Blick auch wendet, man sieht ihn überall. Doch ich will das Fenster schließen, die Abendluft zieht kühl herein. Sie erhebt sich, wendet sich nach links vorn und sieht durch das halboffene Fenster. Aber was ist das? Erschrocken. Ich sehe Licht in den unbewohnten Räumen? Jaja, ich unterscheide es deutlich! Wär es vielleicht die »weiße Frau«,[65] die Beschützerin dieses Schlosses? Zeigt mir ihr Erscheinen die Rückkehr oder den Tod meines teuren Julius an?

Anna in einem schottischen Mantel gehüllt, eine verlöschte Laterne tragend, kommt durch den Haupteingang.


Quelle:
Boieldieu, François-Adrien: Die weiße Dame, Leipzig [1892], S. 64-66.
Lizenz:

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