Zweiter Auftritt.

[66] Anna, Margarethe zu ihrer Linken.


MARGARETHE wendet sich vom Fenster ab und dem Haupteingang zu. Wer kommt da?

Anna tritt ihr einige Schritte entgegen.


MARGARETHE erstaunt. Miß Anna – bleich und zitternd! Was fehlt Euch, liebe Miß?

ANNA legt den Mantel ab, übergiebt ihn Margarethe und stellt die Laterne auf den Kamin rechts. Nichts, gute Margarethe.

MARGARETHE. Ich glaubte Euch in Eurem Zimmer. Wo kommt Ihr her?

ANNA. Aus den alten Ruinen.

MARGARETHE. Gott sei gelobt, so wart Ihr es, die ich soeben sah. Und Ihr getraut Euch ganz allein – in der Nacht?

ANNA. Wahrhaftig, ich zittre auch noch. Doch Gaveston hatte sich entfernt und ich wollte jenes prächtige Gebäude in der Mitte des Parkes besichtigen. Ich kam glücklich dort an, leider konnte ich nicht hinein.

MARGARETHE. Das glaube ich. Sobald man die Nachricht von dem Tode des Grafen erhielt, wurde alles verschlossen und gerichtlich versiegelt. Erst morgen, nach dem Verkauf des Gutes, werden die Siegel gelöst.

ANNA beiseite. O welch ein unglückseliger Zufall!

MARGARETHE. Aber was fiel Euch ein, zu dieser Stunde in den Park zu gehen? Warum kommt Ihr nicht lieber zu mir? Ich bin so erfreut, so glücklich, Euch wieder zu sehen! Und seit Eurer Ankunft habe ich in Gavestons Nähe kaum ein Wort mit Euch reden können.

ANNA. Du hast recht. Andere Gedanken, die meine ganze Seele beschäftigten, verhinderten daß – vergieb mir, liebe gute Margarethe![66]

MARGARETHE. Doch erzählt: wie ist es Euch ergangen, seit die edle Familie Avenel dies Schloß verließ? Was ist aus Euch geworden, nachdem Ihr der Gräfin gefolgt, als ihr Gemahl zur Armee abging und mein guter kleiner Julius mit dem häßlichen Manne nach Frankreich eingeschifft wurde.

ANNA. Ach, der Gefährte meiner Kindheit, er ist verschwunden, man hörte nichts mehr von ihm. Sein Vater starb in der Verbannung, seine Mutter war lange Zeit hindurch in einem Staatsgefängnisse eingeschlossen.

MARGARETHE. O Himmel!

ANNA. Ich verließ meine Wohlthäterin nicht; acht Jahre war ich durch thätige Sorgfalt bemüht, den Namen ihrer Tochter, wie sie mich nannte, zu verdienen. Doch nun, nach ihrem Tode, welch ein Unterschied. Dieser Gaveston, den man mir zum Vormund gab – Vor drei Monaten begleitete ich ihn auf einer Reise aufs feste Land; dort ließ er mich auf einem Landsitze bei einer seiner Anverwandten und da –

MARGARETHE. Nun?

ANNA. Ich weiß nicht, ob ich dir das übrige vertrauen soll.

MARGARETHE. Wer verdient wohl Euer Zutrauen mehr als ich?

ANNA. Der Krieg war ausgebrochen, man schlug sich dicht vor den Pforten unseres Parks. So geschah es, daß ich eines Tages nicht weit von unserm Wohnsitz einen jungen verwundeten Offizier, einen der unsrigen, einen Landsmann fand. Konnte ich ihn ohne Hilfe lassen? Und dann – soll ich es dir gestehen, dachte ich bei seinem Anblick lebhaft an Julius.

MARGARETHE. Wie, wenn dieser junge Mann – ?

ANNA. Beruhige dich, er war es nicht, denn ich weiß seinen Namen. Aber Gavestons Rückkehr veranlaßte, daß wir schleunigst abreisen mußten und seitdem sah ich den jungen Mann nicht wieder, der vermutlich meine Erscheinung für einen Traum gehalten und mich schon längst vergessen haben wird.

MARGARETHE. O ich errate – während Ihr recht oft an ihn denkt, ihn vielleicht gar liebt. Ach, das macht mir vielen Kummer.[67]

ANNA. Warum?

MARGARETHE. Ich hoffte, Ihr würdet nie einen andern als Julius lieben – und hundertmal habe ich an Eure Verbindung mit ihm gedacht.

ANNA. Welch ein Gedanke! Wie, der Erbe der Grafen von Avenel und ich, eine arme Waise ohne Geburt und Vermögen! Sollte ich so die Güte meiner Wohlthäterin vergelten? Nein, Margarethe! Julius, ehemals mein Freund, mein Bruder, wäre nun mein Herr und mein Gebieter; als solchen ziemt es uns, ihn zu ehren, ihm treu zu dienen und wenn es sein muß, alles aufzuopfern, ihm sein Erbe zu erhalten.

MARGARETHE. Wie wäre das möglich! Wird nicht morgen sein Gut verkauft? Ein anderer wird sich die Rechte und den Titel der Grafen von Avenel anmaßen und kehrt Julius auch zurück, so wird er nur ein Fremdling in dem Hause seiner Väter sein.

ANNA. Wer weiß! Warum den Mut verlieren? Noch hoffe ich!

MARGARETHE. Wie könnt Ihr das?

Man vernimmt einen entfernten Hornruf.


ANNA. Du sollst alles erfahren. Doch hörst du – Gaveston ist zurückgekehrt, man verschließt die Thore. Sie zieht Margarethe etwas beiseite und sagt ihr vertraulich und schnell. Vernimm also geschwind. In wenig Augenblicken wird ein junger Mann aus der Nachbarschaft erscheinen und im Namen Julius von Avenel Einlaß begehren. Du wirst ihn hierher führen und dafür sorgen, daß man ihm dieses Zimmer für diese Nacht überläßt.

MARGARETHE. Es soll geschehen, verlaßt Euch ganz auf mich! Und sollte ich die ganze Nacht über auf ihn warten müssen. Ach, was würde ich nicht für Euch und Julius thun!

ANNA. Geh nun, ich höre Gaveston. Sie wendet sich mit einigen Schritten nach links.

MARGARETHE. Gute Nacht, liebe Miß! Sie entfernt sich mit Annas Mantel durch den Haupteingang, nachdem sie sich vor dem eintretenden Gaveston verneigt hat.

Gaveston kommt durch den Haupteingang.
[68]


Quelle:
Boieldieu, François-Adrien: Die weiße Dame, Leipzig [1892], S. 66-69.
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