Bei Capri

[452] Der Wind schaukelt uns ohne Fortkommen hin und her, und schon fast den ganzen Tag tanzen wir hier vor Massa, Kapri und Ischia herum. Den einundzwanzigsten April abends gab das Kriegsschiff, welches jetzt, glaube ich, die ganze Flotte des Königs von Neapel ausmacht, das Signal, und wir arbeiteten uns aus dem Hafen heraus. Den andern Morgen hatten wir Sizilien und sogar Palermo noch ziemlich nahe im Gesichte; der Rosalienberg und die Spitzen von Termini und Cefalu lagen ganz deutlich vor uns, das andere war von dem trüben Wetter gedeckt. Mehrere Schiffe mit Orangen und Öl hatten sich angeschlossen, um die sichere Fahrt mit dem Kriegsschiffe und dem Paketboot zu machen. Das letztere hat auch zwanzig Kanonen und ist zum Schlagen eingerichtet. Wir saßen lange zwischen Ustika und den liparischen Insel, und ich las, weiß der Himmel wie ich eben hier auf diesen Artikel fiel, während der Windstille Georgika Virgils, die ich hier besser genoß als jemals. Nur wollte mir die[452] Schlußfabel von dem Bienenvater nicht sonderlich gefallen: sie ist schön, aber hier gezwungen. Dann las ich, da der Wind noch nicht kommen wollte, ob wir gleich in seinem mythologischen Vaterlande waren, ein großes Stück in die Aeneis hinein. Hier wollte mir nun, unter vielen Schönheiten im vierten Buche, die Beschreibung des Atlas wieder nicht behagen, so herrlich sie auch klingt. Es ist, dünkt mich, etwas Unordnung darin, die man dem Herrn Maro nicht zutrauen sollte. Da ich eben nicht viel zu tun habe, will ich Dir die Stelle ein wenig vorschulmeistern. Merkur kommt von seinem Vater auf der Ambassade zu Frau Dido hierher. Die Verse heißen, wie sie in meinem Buche stehen:


iamque volans apicem et latera ardua cernit

Atlantis duri, coelum qui vertice fulcit;

Atlantis, cinctum assidue cui nubibus atris

Piniferum caput et vento pulfatur et imbre;

Nix humeros infusa tegit: tum flumina mento

Praecipitant senis, et glacie riget horrida barba.


Die Verse sind unvergleichlich schön und malerisch; aber er bringt auf dem obersten Scheitel Sturm und Regen, läßt den Schnee auf den Schultern liegen, Flüsse aus dem Kinn strömen und weiter unten den Bart von Eis starren. Das ist nun alles ziemlich umgekehrt, wenn ich meinem bißchen Erfahrung glaube. Ich weiß nicht, was Heyne aus der Stelle gemacht hat. So weit oben werden schwerlich noch Fichten wachsen. Ich überlasse es Dir, Deinen Liebling zu verteidigen, ich selbst bleibe hier in meiner Hermeneutik etwas stecken. Wer in seinem Leben keine hohen Berge gesehen und bestiegen hat, nimmt so etwas freilich nicht genau. Schade um die schönen Verse. Diese Nacht begegneten uns viele französische Schiffe, die ihre Landsleute von Tarent holen wollen. Alles ist[453] ungeduldig, bald am Lande zu sein; aber Aeolus hat uns noch immer seinen Schlauch nicht gegeben, und wir müssen aushalten. Das Essen ist recht gut und die Gesellschaft noch besser; meine Geduld ist also weiter auf keiner sehr großen Probe, und ich habe noch die ganze Odyssee zu lesen. Der russische und englische Gesandte sind auf dem großen Schiffe; wir haben also noch die Ehre, ihretwillen recht langsam zu fahren, da das Kriegsschiff schwerer segelt. Die Geschichte des Tages auf unserer Flotte sagt eben, daß der Leibgaul der russischen Exzellenz gefährlich krank geworden ist. Wie viele von den Leuten seekrank sind oder sterben, das ist eine erbärmliche Kleinigkeit; aber bedenke nur, der Leibgaul des russischen Gesandten! – Der ist ein Kerl von Gewicht. Man erzählt bei Tische dies und jenes; sogar die Geschichten der Hofleute aus ihrem eigenen Munde bestätigen die schlechte Meinung, die ich durchaus von der neapolitanischen Regierung habe. Es waren einige sybaritische Herren des Hofes bei uns, die doch nicht lassen konnten, dann und wann etwas vorzubringen und einzugestehen, was Stoff zu Ärgernis und Sarkasmen gab. Meine Taziturnität nahm daraus die Quintessenz. – Es ist wieder tiefe Nacht im Golf geworden, der Wind bläst hoch und wirft uns gewaltig. Ich habe auf allen meinen Fahrten, Dank sei es meiner guten Erziehung, nie die Seekrankheit gehabt; ich lege mich also ruhig nieder und schlafe.

Quelle:
Johann Gottfried Seume: Prosaschriften. Köln 1962, S. 452-454.
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