Sechste Szene

[357] Gower tritt ein.


GOWER.

So schwindet uns die Zeit, der längste Raum,

Das Meer wird überhüpft, es lebt der Traum,

Wir reisen in der Einbildung sogleich

Durch alle Grenzen und von Reich zu Reich;

Wenn ihr verzeiht, so ist es kein Verbrechen,

Daß alle Land' dieselbe Sprache sprechen,

Wo unsre Szene lebend scheint. Vergönnt mir,

Der in den Lücken steht, das Wort, so kennt ihr

Die Bühnen der Geschichte. Wiederum

Fährt Perikles auf falscher See herum,

(Viel edle Herrn und Ritter mit ihm sind)

Um seines Lebens Lust zu seh'n, sein Kind;

Auch Helicanus sich nicht von ihm trennt,

Und zur Regierung bleibt, den ihr wohl kennt,

Nun Escanes, den Helicanus hat

Gebracht zu hohem Ehrenamt im Staat.

Die schnellen Schiffe, günst'gen Winde brachten

Den Herrn nach Tharsus (zu Philoten machten

Wir die Gedanken, die in Eile gingen),

Die Tochter, die verloren, heim zu bringen;

Laßt, Schatten gleich, sie sich ein Weilchen regen,

Ich will dem Ohr, was Aug' jetzt sieht, auslegen.

STUMMES SPIEL.


Perikles tritt mit seinem Zuge von der einen Seite auf, Cleon und Dionysa von der andern; Cleon zeigt dem Perikles das Grabmal, worauf Perikles heftige Klage führt, ein Trauerkleid anlegt und im größten Schmerz abgeht.


GOWER.

So leidet Glaube durch den Heuchelschein,

Der falsche Schmerz spielt oftmals wahre Pein,

Perikles, in Kummer ganz zerflossen,

Seufzerdurchbohrt, von Tränen übergossen,

Schifft wieder fort, und schwört, er schneidet nicht

Sein Haar, und wäscht nicht mehr sein Angesicht;

Er sitzt im Trauerkleid, ein Sturm her wettert,

Der fast sein sterbliches Gefäß zerschmettert,[357]

Er merkt ihn kaum. Nun mögt ihr hören jetzt

Die Grabschrift, die Marinen hat gesetzt

Die böse Dionysa:

»Hier ruht die Schönheit, Anmut, Güte,

Die in des Lebens Lenz verblühte,

Von Tyrus, Fürst ihr Vater dort,

An die der Tod übt' schnöden Mord;

Marina hieß sie, als zum Licht sie kam,

Thetis im Stolz ein Stück der Erde nahm,

Und Überschwemmung fürchtend, hat das Land

Zum Himmel Thetis Pate drauf gesandt;

Drum diese nun, zum ew'gen Zorn erregt,

Mit wilder Wut die fels'gen Ufer schlägt.«

Nicht besser birgt sich schwarze Meuterei,

Als hinter sanfte glatte Schmeichelei.

Mag Perikles nun glauben den Berichten,

Bis endlich die Verwirrung ihm mag schlichten

Fortuna: indes wir Euch spielen müssen

Der Tochter Ach und Weh und schweres Büßen

Im Dienst der Bösen: ruhig mögt Ihr's seh'n,

Und denkt euch alle jetzt in Mitylen'.


Geht ab.


Quelle:
William Shakespeare: Sämtliche Werke in vier Bänden. Band 2, Berlin: Aufbau, 1975, S. 357-358.
Lizenz:
Kategorien:

Buchempfehlung

Lewald, Fanny

Clementine

Clementine

In ihrem ersten Roman ergreift die Autorin das Wort für die jüdische Emanzipation und setzt sich mit dem Thema arrangierter Vernunftehen auseinander. Eine damals weit verbreitete Praxis, der Fanny Lewald selber nur knapp entgehen konnte.

82 Seiten, 5.80 Euro

Im Buch blättern
Ansehen bei Amazon

Buchempfehlung

Geschichten aus dem Sturm und Drang. Sechs Erzählungen

Geschichten aus dem Sturm und Drang. Sechs Erzählungen

Zwischen 1765 und 1785 geht ein Ruck durch die deutsche Literatur. Sehr junge Autoren lehnen sich auf gegen den belehrenden Charakter der - die damalige Geisteskultur beherrschenden - Aufklärung. Mit Fantasie und Gemütskraft stürmen und drängen sie gegen die Moralvorstellungen des Feudalsystems, setzen Gefühl vor Verstand und fordern die Selbstständigkeit des Originalgenies. Michael Holzinger hat sechs eindrucksvolle Erzählungen von wütenden, jungen Männern des 18. Jahrhunderts ausgewählt.

468 Seiten, 19.80 Euro

Ansehen bei Amazon