Das Nest auf der Ulme

[165] An diesem Morgen kam die Prinzessin Gundolfine mit einem Gesicht zum Frühstück, als hätte sie drei Pfund Bittersalz aufessen müssen. »Es hat heute nacht gespukt«, sagte sie böse.

»Das ist hier in meinem Schloß noch nie geschehen«, antwortete der Herzog.

Da fiel der Prinzessin etwas ein, und sie rief: »Dann war es Kasperle.«

»Nein, das war es nicht. Das war im Turm eingeschlossen.«

»Es soll kommen, ich will es fragen!«

»Meinetwegen«, brummte der Herzog.

Da wurde Kasperle geholt, und dem kleinen Schelm wurde es wind und weh bei dem Gedanken, vor die Prinzessin geführt zu werden. Dazu sagte ihm noch der Haushofmeister: »Kasperle, Kasperle, das kann schlimm ausgehen! Sie denkt, du seiest das Gespenst gewesen.«

Jemine, und Kasperle konnte doch nicht lügen! Dummheiten machen, ja, aber schwindeln, nein, das brachte es nicht fertig.

Da war es schon im Zimmer, und der Herzog rief: »Hier kommt es.«

Kasperle sah vor Verlegenheit nicht rechts und nicht links, trat zaghaft auf, und weil es ohnehin auf dem glatten Boden schlecht gehen konnte, glitschte es aus und stolperte. Es wollte sich an einem Kammerherrn, der neben[165] ihm ging, festhalten, beide verloren das Gleichgewicht und schlitterten in das Zimmer hinein, als wäre der Boden eine Eisbahn.

Der Kammerherr wollte sich auch irgendwo anhalten, und unglücklicherweise erwischte er das Bein des Stuhles, auf dem die Prinzessin saß. Da kam der Stuhl ins Rutschen, die Prinzessin wackelte hin und her, hielt sich am Herzog fest, und pardauz, bums, lagen alle miteinander auf dem Boden.

Der Herzog wurde fuchsteufelswild, und die Prinzessin Gundolfine schrie immerzu: »Daran ist nur Kasperle schuld.«

Das aber dachte: Es ist am besten mitzuschreien, und es schrie so gewaltig, daß die andern allmählich erstaunt verstummten. So ein Geschrei war nicht üblich im herzoglichen Schloß.

»Stille!« rief der Herzog, aber das Kasperle schrie und schrie. Der kleine Schelm dachte: Wenn ich recht schreie, fragen sie mich nichts. Und er hatte recht gedacht. Der Herzog vergaß vor Ärger die Gespenstergeschichte der Nacht und rief wütend: »Bringt Kasperle in den Turm zurück, es soll dort eingesperrt bleiben!«

Das ließ sich der gute Haushofmeister nicht zweimal sagen; er winkte Veit, der zerrte Kasperle hinaus, und als unten alle noch aufgeregt durcheinander redeten, saß das schon wieder vergnügt in seinem Turm. Als Veit gegangen war, schaute es über das Land hinweg, hinüber nach Lindeneck. Ach, wie gern wäre es doch zu dem traurigen Marlenchen gelaufen!

Da fiel es ihm ein, es war ja ganz und gar eingesperrt, selbst das Schranktürchen war zu. Oder vielleicht doch[166] nicht ganz. Es schlüpfte in den Schrank, und richtig, das Türchen drehte sich; es stand wieder im Treppenhaus. Ganz vergnügt flitzte es eine Weile hin und her, weil aber unten noch immer viel Gelärm war, traute es sich nicht, die Treppe hinabzugehen. So blieb es oben, kauerte sich auf den Boden nieder und lauschte hinab.

Die Stimme der Prinzessin Gundolfine klang schrill bis zu ihm hinauf. Die Türen des Zimmers, in dem diese mit dem Herzog saß, standen offen; die Prinzessin behauptete, sonst halte sie es nicht aus, so heiß sei es. Sie war noch immer sehr aufgeregt und schalt fortwährend auf das Kasperle, verlangte strenge Bestrafung, und Kasperle, das dies hörte, dachte wieder einmal: Ausreißen wäre am besten!

Es hatte aber doch für sein Michele dem Herzog sein Wort gegeben, und das mußte es halten.

Endlich wurde es still unten. Der Herzog und die Prinzessin gingen im Park spazieren, und der Haushofmeister kam und sagte: »Heute mußt du oben bleiben, Kasperle, sonst wirst du erwischt.«

Kasperle versprach, artig zu folgen, aber das Bravsein wurde ihm bald langweilig. Es flitzte zum Türlein hinaus und hinein, aber der Vormittag wollte gar kein Ende nehmen. Endlich kam Veit und brachte ihm sein Mittagessen, und dabei sagte er: »Heute geht es unten hoch her. Der Herzog steigt eben selbst in den Weinkeller hinab und holt von dem ganz guten Wein herauf. Weißt du, aus dem Keller neben dem, in den sie dich neulich eingesperrt hatten. Den holt der Herzog immer selbst, nur die Prinzessin ist mitgegangen. – Meine Güte, was ist denn da schon wieder los?«[167]

Drunten ertönte Rufen, und Veit lief die Treppe hinab, das Kasperle aber blieb zurück mit einem Gesicht, als wäre es mitten in ein Hagelwetter hineingeraten.

Wenn der Herzog die leeren Fässer entdeckte!

Daß der nichts von dem Türchen wußte, ahnte Kasperle ja nicht. Es zitterte vor Angst, und da Veit in der Eile die Türe offengelassen hatte, ging es durch diese Türe, ließ sie weit offenstehen, schlich sich einen Gang entlang, kam an eine schmale Seitentreppe, und gerade als es die erreicht hatte, hörte es die Prinzessin schreien.

Jemine, jetzt hatten sie die leeren Fässer gefunden! Da war Kasperle schon unten, war draußen im Park und huschte an den Sträuchern entlang bis zum Wäldchen hin.

Das Bächlein gluckste und rann, aber Marlenchen saß nicht an seinem Ufer. Kasperle blieb stehen und überlegte. Wohin sollte es nur? Ehe es durch des Herzogs Land war, griffen es bestimmt dessen Landjäger auf; sie erkannten es sicher an seinem grasgrünen Kasperlekittel, den alle kannten. Und dann dachte es an sein Wort, das es gegeben hatte. Es seufzte tief. Am Bächlein kauerte es sich nieder, und sein kleines unnützes Kasperleherz war ihm zentnerschwer. Wäre doch Marlenchen dagewesen! Ach, die traurige kleine Freundin konnte ihn gewiß auch nicht schützen!

Auf einmal fiel ihm der Graf von Singerlingen ein. Vielleicht half ihm der in seiner Not, weil es ihn von der Prinzessin bewahrt hatte. Vielleicht gab der dem Herzog ein gutes Wort und bat ihn frei. Es dachte: Wenn ich immer an Wiesen entlang renne oder durch den Wald laufe, dann sieht mich vielleicht niemand. Aber wie fand es die Richtung? Da fiel ihm ein, wenn es auf die alte, hohe Ulme[168] klettern würde, konnte es von dort aus gewiß das Schloß des Grafen von Singerlingen liegen sehen und auch den Weg, der dorthin führte. Und auf der Ulme, im dichten Gezweig, sah ihn auch niemand vom Schloß aus. Da schützte ihn sein grasgrünes Röckchen.

Die Ulme war hoch, aber Kasperle fürchtete sich vor der Höhe nicht. Rutsch, rutsch, da war es schon ein Stück oben. Rutsch, rutsch, höher und höher kletterte es. Es sah schon die Elsternnester auf der Spitze und sah die Vögel neugierig ihre Köpfe herausstrecken. Die schimpften laut, und Kasperle schnitt wieder Gesichter. Das empörte die Elstern, sie fingen laut zu schelten an, beugten sich weit aus den Nestern und machten böse Augen. Drei Nester waren es, und in jedem Nest saß eine ganze Elsternfamilie. Kasperle hätte sich schon[169] fürchten können, es merkte aber, die schwatzhaften Vögel hatten Angst vor seinen Teufels- und Räubergesichtern. Da kletterte es vergnügt höher und höher, verdrehte die Augen, zog den Mund krumm und schief, wackelte mit Nase und Ohren, und die Elstern kreischten immer lauter vor Angst.

Die Alten riefen den Jungen zu: »Wir wollen fliehen, fliegt auf, fliegt auf!« Aber die Jungen konnten vor Angst ihre Flügel nicht heben. Sie flatterten erschrocken in den Nestern herum, und endlich sagte die älteste, würdigste Elsternmadame, die schon viele Jahre in ihrem Neste wohnte: »Jetzt hacke ich ihm die Augen aus.«

Da schnitt Kasperle ein Hexengesicht, und plumps, sank die mutige Elster zurück. Sie jammerte laut vor Angst, und in dem Augenblick dachte Kasperle: Wenn sie doch ruhig wäre! Denn von unten hörte es lautes Rufen: »Kasperle, Kasperle! – Er ist ausgerissen, der Bösewicht«, gellte eine Stimme, und Kasperle hörte ganz genau, es war die Prinzessin, die rief.

Gewiß hatten sie die leeren Fässer entdeckt.

Das hatten der Herzog und seine Base nun tatsächlich. Sie waren, gefolgt von etlichen Dienern, in den Keller gekommen, in dem die köstlichen Weine lagerten, und der Herzog hatte befohlen: »Von dem Faß in der Mitte.«

Da hielt der Diener den silbernen Krug unter den Hahnen, drehte ihn auf, aber kein Tropfen kam heraus.

Die Prinzessin schnupperte unterdessen in dem Keller herum und sagte: »Wie sehr es hier nach Wein riecht, höchst sonderbar!«

»Das Faß ist leer«, meldete der Diener.

»Leer?« rief der Herzog verdutzt. »Ja, wie kommt denn[170] das?« Er trat selbst an das Faß heran, pochte, schüttelte, – es war leer.

»Du hast es wohl selbst ausgetrunken«, sagte seine Base spitz.

»Unsinn!« Der Herzog war wirklich verärgert. »Nimm aus dem linken Faß!« rief er dem Diener zu. Der drehte an dem Hahnen und hielt das Krüglein unter, aber kein Tropfen kam heraus. Das war doch toll! Und beim dritten Faß ging es ebenso.

»Es muß jemand im Keller gewesen sein«, rief der Herzog. »Schnell, schnell, man bringe Licht, um alles untersuchen zu können!«

»Du hast gewiß alle Fässer allein ausgetrunken«, sagte die Prinzessin Gundolfine wieder spitz, und der Herzog ärgerte sich so, daß er ganz grün wurde. Er schrie immer lauter: »Licht her, Licht her!« Und die Diener kamen mit Lampen und Kerzen gerannt. Sogar die Kammerherren trugen Kerzen, und alle leuchteten in dem kleinen Keller herum. Plötzlich rief der jüngste Hofjunker, der Augen wie ein Falke hatte: »Hier ist eine Türe.«

»Unsinn, der Keller hat nur eine Tür!« erwiderte der Herzog, aber da schob das Junkerlein das Pförtchen zurück, und alle sahen erstaunt in einen zweiten Keller hinein. Auf einmal riefen etliche: »In dem Keller hat Kasperle gesteckt.«

»Ja, und dann war es krank und hat immerzu geschlafen.« Der dicke Oberstallmeister brach plötzlich in ein dröhnendes Lachen aus. »Am Ende hat das Kasperle ein Schwipslein gehabt.«

»Oooh!« Der Herzog sah drein, als wäre vor ihm ein Kirchturm umgepurzelt. Die Prinzessin aber kreischte:[171] »Dieser schreckliche Kasper, den muß man aufhängen, in den Brunnen werfen, schlagen, der muß furchtbar bestraft werden!«

»Man hole ihn!« Der Herzog stöhnte. Wirklich, das Kasperle war doch ein arger Strick, er mußte es wirklich streng bestrafen!

Unter den Dienern befand sich auch Veit, der lief mit, um das Kasperle zu holen. In seinem Herzen dachte er mitleidig: Vielleicht kann es noch entwischen.

Und dann fanden sie die Türe des Turmzimmers offen, und kein Kasperle war zu sehen. Der Schelm war ausgerissen.

Als das der Herzog erfuhr, vergaß er Mittagessen und Wein, er war bitterböse, rief, man solle überall suchen und die Landjäger ausschicken, um das Kasperle wieder zu fangen.

»Und dann wird es aufgehängt«, rief die Prinzessin Gundolfine.

»Nein, denn von einem toten Kasperle habe ich nichts mehr«, erwiderte der Herzog.

»Ach, aufhängen wäre das beste!«

»Nein, es ist mein Kasperle!«

»Aber mich hat es geärgert. Das Gespenst heute nacht war sicher auch Kasperle«, rief die Prinzessin. »Es muß doch aufgehängt werden!«

»Nein!« schrie der Herzog zornig, und so stritten sich beide eine ganze Weile herum, was mit dem Kasperle geschehen sollte. Sie hatten es aber noch gar nicht.

Unterdessen suchten die Diener überall herum. Veit sagte: »Ich suche im Wäldchen.« Er dachte: Wenn ich da das Kasperle sehe, kann es noch ausreißen. Aber etliche[172] Kammerherren sagten auch, sie suchten im Wäldchen, und der gute Veit mußte sich das gefallen lassen.

Kasperle sah sie von seinem hohen Sitz aus alle kommen. Jemine, klopfte da sein unnützes kleines Kasperleherz! Und die dummen Elstern kreischten und flatterten immer noch um es herum. Kasperle wollte sie zur Ruhe bringen, aber je unheimlichere Gesichter es schnitt, desto schlimmer krächzten sie. Es machte endlich sein dummes, gutmütiges Kasperlegesicht, aber da flatterten die Elstern gleich wütend auf es los und wollten ihm die Augen aushacken. Das war Kasperle zu toll, es schlug mit seiner Faust nach ihnen und machte ein Teufelsräubergesicht.

»Wir müssen fliehen, fliehen«, krächzte die älteste Elsternmadame, »Kinder, strengt euch an!« Und die Kinder taten es. Sie hoben die Flügel und flatterten, und auf einmal flog die ganze Elsternschar mit so lautem Schreien davon, daß die Menschen unten aufmerksam wurden. Sie sahen hinauf, und der jüngste Hofjunker mit seinen scharfen Augen erblickte das Kasperle trotz seines grasgrünen Röckleins hoch oben auf der alten Ulme.

»Da sitzt es, da sitzt es!« rief er, und nun schauten alle hinauf und alle riefen: »Da sitzt es, da sitzt es!«

Kasperle fuhr der Schreck arg in die Glieder. Es wäre beinahe von dem Baume hinuntergesaust, und in seiner Angst griff es nach einem verlassenen Elsternnest, um sich daran festzuhalten. Dabei fühlte es etwas Hartes und hatte auf einmal einen großen goldenen Ring mit einem schönen Rubin in der Mitte in seiner Hand. Das war doch wirklich sonderbar. In einem Elsternnest lag ein goldener Ring! Kasperle war ausnehmend neugierig, und vor Neugier vergaß es sogar seine Angst. Es kletterte noch ein Stückchen[173] höher und schaute in das Nest hinein. Nein, so etwas, da lagen noch ein kleiner silberner Löffel und ein goldener Ohrring! Aber der Ring, den es in der Hand hielt, war das schönste Stück.

Himmel, vielleicht war das gar des Herzogs Ring, den der Herr von Lindeneck gestohlen haben sollte. Kasperle hielt das kostbare Ding in der Hand, besah es von allen Seiten und dachte: Wenn ich den dem Herzog bringe, verzeiht er mir vielleicht. Aber just da kam unten die Prinzessin Gundolfine angelaufen und kreischte: »Man hole eine Kanone und schieße den Kerl herunter!«

Kasperle schnitt sein Teufelsgesicht hinab. Aber was half das, die da unten liefen nicht davon, wie die Elstern davongeflogen waren. Die blieben stehen, schimpften hinauf, redeten von einer Kanone und der Wasserspritze; sehr freundlich klang das nicht.

Kasperle überlegte. Ausreißen konnte es nicht, auch hatte ja der Herzog noch nicht gesagt: »Geh zum Teufel!«, also war es noch nicht frei. Aber wenn es mit dem Ring ankam, würde der Herzog vielleicht wieder versöhnt sein. Wenn nur die Prinzessin nicht unten gestanden wäre, an der es vorbei mußte!

Plötzlich kam dem Kasperle ein Gedanke. Blitzschnell nahm es das Nest, in dem außer den Kostbarkeiten auch noch allerlei Unrat lag, und warf es hinab, der Prinzessin gerade auf den Kopf.

Unten erhob sich ein lautes Geschrei, aber alle sahen ein paar Augenblicke nicht zu Kasperle hinauf, sondern auf die Prinzessin, und da rutschte der kleine Schelm schnell den Baum hinab, schoß auf einmal einen Purzelbaum über alle hinweg und rollte und kollerte bis zum[174] Schlosse hin, ehe die unter dem Baume nicht recht wußten, was geschehen war. Im Schloß flitzte er an ein paar Dienern vorbei, husch, husch, in das Zimmer des Herzogs hinein, in dem der seine Mittagsruhe zu halten pflegte. Und richtig, da saß der Herzog auch übelgelaunt in seinem großen Sessel und ärgerte sich. Ja, über was ärgerte er sich alles! Über Kasperle, den ausgelaufenen Wein, seine Base, das verspätete Mittagessen, am meisten aber doch über Kasperle.

Es muß streng, ganz streng bestraft werden, dachte er, und da purzelbaumte gerade das Kasperle in das Zimmer hinein, stand plötzlich vor ihm und hielt ihm seinen Ring unter die Nase. Dazu machte der kleine Kerl das betrübteste, unnützeste Kasperlegesicht.

»Aber Kasperle«, rief der Herzog, »wo hast du denn den Ring her?«

Kasperle legte den Kopf schief, schielte den Herzog bittend an und erzählte von seiner Kletterei auf die Ulme und den scheltenden Elstern.

»Mein Himmel«, sagte der Herzog, »eine Elster hat den Ring gestohlen, und der arme Herr von Lindeneck ist darum in Verdacht gekommen! Kasperle, um des Ringes willen soll dir alles, alles verziehen sein.«

Da kugelte und kollerte Kasperle im Zimmer herum, und plötzlich bettelte es: »Herr Herzog, laß mich nach Lindeneck laufen!«

»Dann reißt du aus.« Der Herzog schüttelte ernst den Kopf, aber Kasperle hing tiefbetrübt die Nase. »Du hast doch noch nicht gesagt: ›Geh zum Teufel!‹«, murmelte es und seufzte schwer dazu.

»Ei, das ist richtig! Vorher reißt du also wirklich nicht[175] aus?« rief der Herzog lachend. »Nun, dann brauche ich ja keine Sorge zu haben; das sage ich nie. Also laufe nur nach Lindeneck und bestelle, der Herr von Lindeneck möchte gleich zu mir kommen. – Aber«, er rieb sich nachdenklich die Nase, »weißt du denn, wo Lindeneck liegt?«

Kasperle nickte eifrig, und ganz zutraulich erzählte es dem Herzog von seiner Freundschaft mit dem traurigen Marlenchen.

Der Herzog wurde sehr, sehr nachdenklich. Er schämte sich, daß er dem Herrn von Lindeneck so unrecht getan hatte, und er dachte bei sich: Eigentlich ist das Kasperle besser als ich. – Solche Gedanken hatte der Herzog selten, wenn sie ihm aber kamen, dann blickten seine Augen milde und gütig, und das Kasperle dachte: Jetzt gefällt er mir.

»Nun laufe nur schnell!« sagte der Herzog. »Halt, der Haushofmeister mag dich ein Stück geleiten, denn wenn dich meine Base Gundolfine erwischt, geht es dir schlecht. Sie denkt sogar, du hättest heute nacht gegeistert, und du lagst doch in deinem – Kasperle?« Der Herzog machte plötzlich wieder böse Augen, denn Kasperle ließ gar zu schuldbewußt seine Nase hängen. »Du warst es also doch, Kasperle?«

Der Schelm nickte, und schon wollte der Herzog schelten, da fiel sein Blick auf den Ring, und er sagte: »Na ja, klettern kannst du freilich! Aber nun laufe nur, auch das soll dir verziehen sein!«

Kasperle huschte hinaus, froh, daß der Herzog nicht weiter gefragt hatte. Er fand den Haushofmeister, erzählte ihm flink alles, und der ließ ihn zu einem schmalen Pförtchen hinaus.[176]

Als die Prinzessin zornig und scheltend in das Schloß zurückkehrte, rannte Kasperle schon über eine große Wiese Schloß Lindeneck zu. War die Prinzessin Gundolfine aber wütend! Sie machte wirklich Augen wie eine Eule, als sie erfuhr, Kasperle sei beim Herzog gewesen und alles, alles sei verziehen.

»Ich verzeih' ihm nicht«, schrie sie, »nie und nimmer! Es soll seine Strafe schon bekommen!«

Doch als der Herzog ihr sagte, den vermißten Ring habe Kasperle in einem Elsternnest gefunden und dem Herrn von Lindeneck sei bitteres Unrecht geschehen, da redete sie gleich vom Abreisen. Sie fühlte ihre Schuld, aber sie wollte sie nicht eingestehen, wie der Herzog es tat.

Der Herzog, der die Gewohnheit hatte, manchmal laut mit sich selbst zu sprechen, sagte, als die Prinzessin von ihrer Abreise sprach: »Ach, das wär' fein!«

»Hach«, kreischte die Prinzessin, »ich falle in Ohnmacht! Das sagt man mir!« Und weinend lief sie in ihr Zimmer, und sie schluchzte so laut, daß es bald im ganzen Schloß zu hören war.

Wenn sie doch abreisen würde! dachten alle, und sie sagten es auch laut und leise zueinander. Aber die Prinzessin Gundolfine dachte gar nicht an eine Abreise; die wollte bleiben, wollte sich an Kasperle rächen. Denn daß der kleine Schelm den Ring gefunden hatte, das rechnete sie ihm nur als neuen Streich an. In ihrem Zimmer hielt sie Rat mit einer Kammerfrau und einer Hofdame, die beide genau so boshaft wie sie selbst waren. Und weil sie dabei doch nicht weinen konnte, mußte eine andere Kammerfrau an der Türe stehen und schreien und jammern,[177] denn der Herzog sollte das allergrößte Mitleid mit seiner Base bekommen.

Doch was zuviel ist, ist zuviel. Der Herzog mochte das Geschrei nicht mehr hören und sagte: »Bringt mir Watte!« Dann steckte er sich Watte in die Ohren und erklärte, man solle ihn nur wecken, sobald Kasperle käme, legte sich hin und hielt seinen Mittagschlaf.[178]

Quelle:
Herold Verlag, Stuttgart, 1983, S. 165-179.
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