Kasperle als Gespenst

[113] Als Kasperle im seidenen Bett erwachte, schimmerte die Sonne golden durch die herabgelassenen Vorhänge. Es sprang aus dem Bett heraus und lugte durch ein Ritzlein hinaus, obgleich Michele es dringend gewarnt hatte, dies zu tun. Draußen lag die Waldwiese im ersten Frühsonnenschein, und selbst in das verschlossene Zimmer hinein drang das Singen und Jubilieren der Vögel, die den neuen Tag begrüßten. Wie lustig es klang! Kasperle erhob purzelvergnügt sein Stimmlein und sang mit. Es war schon gut, daß es in dem einsamen Schloß niemand hörte, denn vor dem Gesang konnte schon einer davonlaufen. Es klang, als quietschten zehn schlecht geölte Türen und drei verrostete Wetterfahnen dazu, doch Kasperle fand seinen Singsang schön, und singend lief es in dem Schlosse treppauf, treppab, und dabei kam es auch in die Küche. Und da merkte es, daß es schrecklich hungrig war, und das Singen verging ihm. Es begann neugierig in alle Töpfe und Schränke zu schauen, doch nirgends fand sich etwas Eßbares. Kasperle dachte seufzend an die gefüllten Speisekammern im Grafenschloß, und gerade wollte es die Küche wieder verlassen, als es in einer Ecke eine Tür entdeckte. Rasch schloß es diese auf, ein halbdunkler Raum gähnte ihm entgegen, in dem es merkwürdig gut roch. Kasperle schnupperte und schnupperte, sah sich um und sah auf einmal von der Decke herab lange Würste hängen; auch ein paar Schinken und Speckseiten waren dabei. Kasperle war in die Räucherkammer geraten, in der es noch Vorräte vom letzten Besuch des Herzogs her gab. Potzwetter, staunte da Kasperle! Und lange besann es sich[113] nicht, ob es zugreifen dürfe oder nicht. Es sprang hoch, sprang, bis es eine Wurst erwischte; an der zerrte es, bis es sie in seinen Händen hielt. Dann verschloß es die Kammer wieder und lief vergnügt mit seiner Wurst bis zur kleinen Pforte, an der Michele pfeifen sollte. Das dauerte noch ein Weilchen, und Kasperle biß inzwischen herzhaft in die Wurst hinein, und als Michele kam, hatte es schon ein gutes Stück verschmaust.

Der Kamerad machte große Augen, als Kasperle ihm von der Wurstkammer erzählte. »Das darfst du nicht, die Würste aufessen, sie gehören doch dem Herzog!«

Doch Kasper war ein leichtsinniger Strick. Der fand nichts Unrechtes am Wurstraub, sagte, die hätte der Herzog gewiß längst vergessen, und Michele glaubte ihm dies nur zu gern. So aßen sie Wurst zu ihrem Brot, schmausten reichlich Himbeeren und verlebten einen sehr vergnügten Tag zusammen. Am Abend trieb Michele die Ziegen heim, und Kasperle kehrte in das stille Schloß zurück. Es sah sich nicht mehr viel um, sondern kroch gleich in sein seidenes Bett. Darin schlief es, bis es durch das goldene Leuchten hinter den Vorhängen geweckt wurde; da war wieder ein neuer heiterer Tag für Kasperle aufgegangen. Es lief rasch durch das Schloß, holte wieder ein Würstlein aus der Räucherkammer und stand schon an der kleinen Pforte, als Michele daherkam. Der sputete sich arg und rief schon von weitem dem Kasperle halblaut zu: »Verstecken, verstecken!«

Kasperle witschte flink in das Gebüsch, und als Michele herkam, tuschelte der ihm zu: »Der brummige Matthias steht vor seinem Hause, laß dich nicht sehen!«

Der Förster wunderte sich ein wenig darüber, daß der Ziegenhirt seine Herde so dicht am Schloß vorbeitrieb, aber Kasperle sah er nicht. Das flitzte zwischen die Ziegen, lief auf allen vieren und war geschwind im Walde verschwunden.[114]

Und wieder verging den beiden Kameraden der Tag wie ein schöner Traum. Es wurde Abend, es wurde wieder Morgen, und so folgte ein Tag dem andern, alle waren sie sonnenreich und voll heiterer Lust.

Über eine Woche war so vergangen, da wachte Kasperle eines Morgens auf und wunderte sich, wie dunkel es war. Vielleicht ist's noch Nacht, dachte es, aber dann vernahm es ein unablässiges Plätschern und Rauschen, und als es durch das Ritzchen im Vorhang hinausspähte, merkte es, daß es regnete. In wahren Bächen rann es vom Himmel herab, plitsch, platsch, immerzu. Düster, grau hingen die Wolken tief herab, der Wald sah aus, als schliefe er noch, nichts rührte und regte sich ringsum. Es kam auch kein Michele mit seinen Ziegen. Der saß bei der Bäuerin und half Gemüse putzen und dachte dabei sehnsüchtig an seinen Freund Kasperle. Dessen Sehnsucht nach Michele war nicht minder groß. Es langweilte sich arg in dem einsamen Schloß, und weil es nicht wußte, was es anfangen sollte, begann es das Schloß von oben bis unten zu durchstreifen. Es setzte sich auf alle Polsterstühle, rekelte sich auf allen Sofas herum und kam zuletzt wieder in des Herzogs Schlafzimmer. Darin hingen allerlei Bilder, darunter das einer Schäferin, die ein Lämmchen an einem himmelblauen Bande führte. Dies Bild gefiel Kasperle besonders gut. Um es besser zu sehen, rieb es ordentlich seine große Nase daran, ja es fing an, das Lämmchen zu streicheln. Dabei fühlte es an dessen Halsband eine kleine Erhöhung, und weil es wissen wollte, was dies bedeute, drückte es ordentlich fest darauf. Da rauschte es plötzlich sacht, das Bild wich von der Wand, und Kasperle sah erstaunt in einen kleinen Raum hinein; kühl und dumpf wehte es ihm daraus entgegen.

Erschrocken sprang Kasperle gleich in das goldene Bett zurück, es kroch unter die Decke, und da lag es eine Weile zitternd vor Angst. Aber alles blieb still. Nur draußen[115] rauschte und rauschte unablässig der Regen. Kasperle steckte scheu den Kopf wieder unter der Decke hervor. Die geheimnisvolle Türe, die das Bild verdeckt hatte, stand noch halb offen, und in dem Raum dahinter war es auch ganz still.

Kasperle seufzte schwer. Es hatte Angst, aber neugierig war es auch. Endlich siegte doch die Neugier, und es kletterte wieder aus dem Bett heraus und schaute hinter das Bild. Eine ganz enge, schmale Kammer war es, die sich vor ihm auftat; aus der führte ein Trepplein in die Tiefe. Die Kammer selbst war in ein grünliches Licht getaucht, und Kasperle sah, daß sie ein rundes Fensterloch hatte, vor dem der Efeu ganz dicht gewachsen war; man mochte wohl von draußen das runde Fenster gar nicht sehen hinter der dichten Efeuwand. In der kleinen Kammer selbst stand nur eine altmodische Kiste, in die Kasperle eiligst seine Nase steckte.

Potztausend, sah es darin aus! Ein paar silberne und goldene Becher und eine goldene Kette lagen drin und ein dicker Beutel voll Gold. Darüber war ein roter Samtvorhang gebreitet, der schon recht verblichen war. Kasperle warf ihn über die Schulter, hängte sich die goldene Kette um den Hals und spazierte so ein Weilchen in der Kammer hin und her. Doch dann erwachte wieder die Neugierde. Es warf alles in die Kiste zurück und begann das Trepplein hinabzusteigen, Stufe um Stufe. Etwas bänglich war ihm doch zumute, und als ihm von unten aus der Dunkelheit herauf eine feuchte, dumpfe Luft entgegenschlug, da kehrte es rasch um und schlüpfte wieder in das Schlafzimmer. Es zog das Bild wieder zurück, ganz leicht ging das nicht, aber plötzlich schnappte etwas ein, und von der geheimnisvollen Kammer war nichts mehr zu sehen.

Kasperle suchte nun wieder nach dem Knopf am Halsband des Lammes, es fand ihn, drückte darauf, und wieder[116] rauschte die Türe auf. Das muß Michele sehen, dachte Kasperle, als es die Türe wieder schloß. Es ging nun überall im Schloß herum und untersuchte alle Bilder, weil es dachte, hinter jedem Bild müßte eine geheime Türe sein. Doch so viel es den steifen Herren und Damen, deren Bilder die Wände schmückten, auch auf die Nasen, Münder, Augen und Bäuche drückte, keine Tür tat sich mehr auf.

Darüber wurde es Abend, und Kasperle kroch wieder ins Bett. Es freute sich dabei auf den kommenden Tag, da würde doch sicher schönes Wetter sein.

Doch der Regen rann und rann. Am nächsten Morgen war es noch grauer; noch düsterer sah der Wald aus, und wieder blieb Michele mit seinen Ziegen daheim. Kasperle langweilte sich und rumorte wieder im Schlosse herum. Das geheime Kämmerchen untersuchte es ganz genau, es ging auch ein paar Schritt die Treppe hinab, weiter wagte es sich aber nicht. Es holte sich wieder eine Wurst aus der Räucherkammer, doch die wollte ihm gar nicht mehr so recht schmecken. Micheles Brot und die Himbeeren im Walde waren besser gewesen. Und draußen regnete es[117] weiter. Immerzu, ohne Unterlaß rann es vom Himmel herab, und am andern Morgen war es wieder so. Da blieb Kasperle vor lauter Kummer im Bett liegen, bis auf einmal ein helles Licht das Zimmer erfüllte. Kasperle sprang auf und sah hinaus. Draußen war soeben die Sonne hervorgekommen, sie hatte endlich die Regenwolken besiegt. Hier und da schimmerte der Himmel tiefblau, und die grauen Wolken jagten davon, als hätten sie die allergrößte Angst, von Frau Sonne noch beim Schwänzlein gepackt zu werden. Heißa, nun wurde morgen gewiß schönes Wetter!

Kasperle tanzte vergnügt im Zimmer herum. Dann rannte es wieder im Schloß treppauf, treppab, holte sich eine riesengroße Wurst, die es morgen mitzunehmen gedachte, und kroch dann vergnügt in sein seidenes Bett. Morgen würde es seinen Freund Michele wiedersehen.

In dieser Nacht kam auch der Mond zum Vorschein. Er war zwar noch blaß, und es fehlte ihm ein ganzes Stück am Rundsein, doch ging schon ein feiner, wunderbarer silberner Glanz von ihm aus. Er stand gerade über der Waldwiese vor dem Schloß, als Kasperle einmal aufwachte und verschlafen dachte: Nun regnet es schon wieder. Es sah durch das Vorhangritzchen, da sah es den Mond glänzen, und das Rauschen, das es hörte, kam vom Wald herüber. Aber noch etwas anderes hörte es: Pferdegetrappel und dann Stimmen; vom Försterhaus herüber kam es, und im klaren Licht des Mondes sah Kasperle einen Reiter vor dem Hause drüben halten. Es wurde ihm ganz unheimlich, und rasch kroch es wieder in sein Bett, tief unter die seidene Decke. Da schlief es denn auch bald ein.

Als Kasperle am Morgen aufwachte, dachte es erstaunt: Was ist denn das? Es rumorte, knarrte, klappte und klirrte laut im Schloß, es war gar nicht so still wie sonst. Ja, und auf einmal ertönte ein lautes Rufen: »Matthias, Matthias, jetzt wollen wir erst in dem Schlafzimmer scheuern!«[118]

Mit einem Satz war Kasperle aus dem Bett heraus. Eine furchtbare Angst ergriff es. Menschen waren im Schloß! Ein paar Augenblicke wußte es vor Entsetzen gar nicht, was es tun sollte; doch da fiel ihm die Kammer hinter dem Bilde ein. Flugs schlug es auf den Knopf, die Türe rauschte leise auf, Kasperle nahm seine Sachen und die Wurst und schlüpfte in die Kammer. Es war die höchste Zeit, denn draußen dröhnten schon schwere Schritte über den Flur, und kaum hatte sich die Bildtüre geschlossen, als der Förster und seine Frau das Zimmer betraten. Kasperle vernahm einen lauten Schrei; die Försterin hatte das zerwühlte Bett erblickt. »Matthias, Matthias«, rief sie, »es ist wahrhaftig jemand im Schloß gewesen! O du meine Güte, und in des Herrn Herzogs Bett hat er gelegen! Wenn das unser gnädiger Herr wüßte!«

Der Förster brummte und knurrte, Kasperle hörte ihn sagen, es müßte gerade ein Gespenst gewesen sein, von einem lebendigen Menschen hätte er doch etwas merken müssen, auch seien ja alle Türen verschlossen gewesen.

»Matthias, die kleine Pforte war ja auf!« schrie die Försterin. »Weißt du, zu der der Schlüssel verlorengegangen ist. Jemine, jemine, wenn nun etwas gestohlen worden ist!«

Die Försterin weinte und klagte, der Förster knurrte und brummte, und Kasperle hörte ihn sagen, daß er die kleine Pforte verriegeln wolle.

»Nein, nein«, rief seine Frau, »unser großes Vorhängeschloß tu dran, das hält besser!«

Kasperle erschrak. Wenn der Förster die Türe mit einem Schloß versah, dann konnte es nicht mehr hinaus und – Da sagte die Försterin: »Und morgen kommt der Herzog schon. Spute dich, Matthias, damit wir fertig werden!«

Alle guten Geister! Morgen schon wollte der Herzog kommen, und die Pforte sollte geschlossen werden. Wie[119] sollte es denn da zum Michele hinausgelangen! Kasperle dachte: Ich klettere in der Nacht unten zu einem Fenster hinaus und schlafe im Walde. Damit tröstete es sich über diesen Tag hinweg. Den mußte es freilich in dem Kämmerlein verbringen, denn der Förster und seine Frau wirtschafteten immerzu im Schloß herum, und es wagte nicht, sein Versteck zu verlassen. Doch als es dunkelte, wurde es still im Schloß, und endlich wagte Kasperle die Bildtüre zu öffnen. Es nahm seine Wurst unter den Arm, die es schon halb aufgegessen hatte, und schlich sich leise durch des Herzogs Schlafzimmer, drückte die Klinke an der Tür nieder und – merkte, daß es eingeschlossen war.

Von außen war das Zimmer verschlossen, und als Kasperle versuchte, das Fenster zu öffnen, sah es erst, daß dieses vergittert war. Es konnte nicht hinaus, es war gefangen. Kasperle stöhnte, seufzte und weinte und rannte verzweifelt im Zimmer hin und her; es half alles nichts, es konnte nicht hinaus. Zuletzt kroch es wütend in des Herzogs Bett, das mit feinem, schneeweißem Linnen frisch überzogen war. Und heulend wühlte sich Kasperle in die Kissen und schlief in dieser Nacht nicht wie ein Säcklein, sondern wachte immer und immer wieder auf. Am andern Morgen vernahm es lauten Lärm: Hörnerblasen, Wagenrollen, Hufschlag und Stimmengewirr. Und als es erschrocken aufsprang und hinausspähte, sah es draußen einen Zug Reiter ankommen, ein paar Wagen waren auch dabei; der Herzog hatte die Fahrt nach seinem Jagdschloß in den frühesten Morgenstunden angetreten, weil es ein heißer Tag zu werden drohte.

Das war der Herzog, sein Feind. Ojemine! Kasperle sah ihn aus dem Wagen steigen, und da entwischte es flink in sein Versteck. Es zitterte vor Angst, und ganz verdattert und bedrückt hockte es sich auf die Schatzkiste nieder. Wie sollte es nun entfliehen?

Im Schlosse wurde es laut. Kasperle vernahm Schritte,[120] und dann hörte es auch, wie in des Herzogs Schlafzimmer die Türe aufgeschlossen wurde und ein lautes, verworrenes Durcheinander entstand. Himmel, das Bett! Daran hatte das dumme Kasperle gar nicht gedacht.

In seinem Versteck konnte es genau alle Stimmen unterscheiden. Jemand schalt heftig, das war die Försterin. Sie schwor, das Zimmer sei vollständig in Ordnung und verschlossen gewesen; es müsse gerade ein Gespenst im Schlosse sein. Und sie beschrieb, wie gestern so viele Türen offengestanden hätten und auch das Bett zerwühlt gewesen sei. Nur ein Gespenst habe das anrichten können. Von den verschwundenen Würsten sagte sie nichts, das hatte noch niemand gemerkt, auch von dem offenen Pförtlein schwieg sie, weil sie ein schlechtes Gewissen hatte.

Als die Försterin immerzu rief: »Ein Gespenst, ein Gespenst muß im Schlosse sein!«, mußte Kasper lachen. Es hielt sich flugs die Hand vor den Mund, um nicht laut hinauszuplatzen. Weil es aber irgend etwas tun mußte, um seiner Lustigkeit Luft zu machen, schlenkerte es mit dem linken Bein hin und her; es stieß an einen der silbernen Becher, und der rasselte mit großem Getöse zu Boden.

Im Schlafzimmer erhob sich ein lautes Geschrei. Der Herzog rief: »Was war das, was war das?« Und die Försterin antwortete schluchzend: »Das Gespenst, das Gespenst!«

»Es muß alles genau untersucht werden!« befahl der Herzog. »Auch soll das Schloß ringsum bewacht werden. Schnell, schnell, sucht alle Räume ab!«

Dem Kasperle schlug das Herz. Es hörte, wie sich das laute Rufen weiter im Schlosse fortsetzte, und es hörte auch, wie nebenan jemand sagte, der Leibarzt müsse kommen, der Herzog sei vor Schreck krank geworden. O heiliger Bimbam! Wenn der Herzog krank war, legte er sich vielleicht ins Bett, und Kasperle war erst recht gefangen.[121]

Und wirklich, der Herzog legte sich gleich ins Bett. Er war nämlich an diesem Tag zu früh aufgestanden, das war für ihn die schlimmste Krankheit. Während der Leibarzt kam und der Kammerdiener allerlei gutes Essen herbeibrachte für den Herzog, saß Kasperle nebenan trübselig auf der Schatzkiste. Es kaute an der Wurst herum, die schmeckte ihm gar nicht mehr, denn es war durstig geworden und sehnte sich nach dem schönen Quellwasser, das es mit Michele zusammen getrunken hatte. Dazu wurde es allmählich dunkel in dem Kämmerchen, denn das winzige runde Fenster mit dem dichten Grün davor ließ wenig Licht herein. Auch ging draußen der Tag zu Ende, und zuletzt umgab Kasperle nachtschwarze Dunkelheit. Doch auf einmal drang ein feiner, schmaler Lichtstrahl in die Kammer, und Kasperle sah etwas weiter oben in der Wand ein rundes, helles Loch. Es stellte sich vorsichtig auf die Kiste, tastete sich zu dem Loch hin und sah nun zu seinem großen Erstaunen durch die kleine Öffnung gerade in des Herzogs Schlafzimmer hinein. Vor dem Loch hing drinnen in des Herzogs Zimmer das Bild eines Urahnen. Im Griff von dessen Schwert war das kleine Guckloch, und niemand im Zimmer sah Kasperles glitzernde Äuglein neugierig hereinspähen. Der Herzog lag im Bett, der Leibarzt saß daneben, dabei noch zwei Herren. In dem einen erkannte Kasperle gleich den Grafen, Rosemaries Vater. Sie sprachen von der seltsamen Unordnung, die in dem Schlosse geherrscht hatte; der Herzog erzählte es dem Grafen, der erst später gekommen war. Kasperle spitzte arg seine Ohren, und dabei drückte es sich fester an die Wand. Da rief der Herzog: »Was raschelt hier so?«

Kasperle fuhr erschrocken zurück, verlor das Gleichgewicht und purzelte mit ungeheurem Getöse von der Kiste herab. Ojemine, gab das wieder eine Aufregung! »Es ist nebenan!« rief der Herzog, »in dem Saal, schnell, schnell, man muß nachsehen!«[122]

Da rannte und lief alles, was Beine hatte, in den großen Speisesaal, der an des Herzogs Zimmer grenzte. Die Wände des Schlosses waren ungeheuer dick, und es kam niemand auf den Gedanken, hinter den riesigen Schränken, die im Speisesaal standen, könnte die Mauer ganz dünn sein. Die Schränke wurden abgesucht, Geschirr stand darin, Wäsche lag in den Fächern, von einem raschelnden, purzelnden Gespenst war aber nichts zu sehen. Von der schmalen Kammer zwischen den Wänden ahnte niemand etwas.

Dem armen Herzog war es vor Schreck ganz übel geworden. Als Kasperle endlich wagte, wieder durch das Löchlein zu schauen, sah es den Herzog Kamillentee trinken. Und gerade hörte es den Kammerdiener sagen: »Wenn das Gespenst nur nicht das Kasperle ist!«

»Wer, was, das Kasperle? Wie kommst du darauf?« Der Herzog richtete sich erschrocken auf und machte solch böse Kulleraugen, daß Kasperle sich flink zusammenduckte.

»Ja«, sagte drüben der Diener, »ein Landjäger hat erzählt, sie hätten vor einiger Zeit das Kasperle beinahe in Waldrast gefangen, doch sei es da wieder auf unerklärliche Weise entwischt. Und nirgends ist das Kasperle seitdem gesehen worden. Waldrast liegt doch ganz nahe, da ist es doch möglich, daß sich der kleine Kobold hier versteckt hat.«

Aber der Herzog meinte doch, dies sei wohl nicht gut möglich, eher möchte er an ein Gespenst glauben.

»Mit Verlaub«, sagte da der Haushofmeister, der eben eingetreten war, »ein Gespenst frißt doch nicht die Räucherkammer beinahe leer! So etwas habe ich noch nie von einem Gespenst gehört!«

Da riefen alle, nein, das hätten sie auch noch nicht gehört, und so etwas wäre dem Kasperle schon eher zuzutrauen. Und als der Haushofmeister nun erzählte, wie[123] viele Würste in der Räucherkammer fehlten, befahl der Herzog streng: »Man muß suchen, auf dem Boden, in den Kellern, überall, auch in den Schornsteinen, und wer das Kasperle findet, dem gebe ich einen hohen Orden. Er wird auch Graf, wenn er das nicht schon ist. Das Kasperle, den Unhold, will ich aber streng bestrafen, wehe ihm!«

Sie redeten alle so viel durcheinander, wo wohl der kleine Unhold stecken könnte, daß niemand den tiefen Seufzer vernahm, den Kasperle ausstieß. Ach, es war schon schlimm! Es war gefangen, wurde verfolgt, und wer weiß, wie übel es ihm erging, wenn es entdeckt wurde! Als alle drinnen in des Herzogs Zimmer laut redeten, legte sich Kasperle müde auf den Fußboden nieder, vielleicht konnte es seine Angst verschlafen. Und Kasperle schlief wirklich ein, und nach und nach gingen auch alle anderen zur Ruhe. Sie hatten sich müde gesucht und sagten schließlich: »Es ist sicher ein Gespenst gewesen, ja, und Gespenster findet man nicht.«

Selbst der Herzog war eingeschlafen in seinem schönen Bett, um das Kasperle ihn sehr beneidete. Der Kleine aber wachte mitten in der Nacht auf, der Mond schien ihm gerade auf seine große Nase. Ganz verwunderlich war es. Hinter dem runden Fensterloch stand noch schief, aber glänzend der Mond und erleuchtete die winzige Kammer. Ach, dachte Kasperle, wäre ich doch jetzt auf der Waldwiese! Und weil es sich sehr arm und verlassen vorkam, seufzte es recht tief und vernehmlich.

»Johann!« schrie der Herzog, »hörst du, es hat geseufzt!«

»Jawohl, es hat geseufzt«, antwortete der Diener verschlafen. »Es ist doch ein Gespenst!«

Das kam Kasperle spaßig vor, daß es nun wieder ein Gespenst sein sollte. Es seufzte noch einmal und noch einmal, und da schrie drinnen der Herzog, man solle flink alles ableuchten, um zu sehen, was da seufze. Flugs schwieg[124] das Kasperle wieder, weil aufs neue das halbe Schloß lebendig wurde. Diener kamen, der Haushofmeister kam, Kammerherren rannten herbei, und alle lauschten auf das Seufzen. Aber Kasperle war mucksstill, da wurde es auch nebenan still, alle gingen wieder zu Bett.

Der Herzog war gerade wieder eingeschlafen, als das Geseufze wieder anfing. »Das Gespenst seufzt wieder!« Der Herzog schrie, der Diener schrie, und wieder rannten alle herbei, horchten und hörten doch nichts. Kasperle zappelte vor Vergnügen, und bums! klirrte und dröhnte die alte Kiste, an die es gestoßen war.

»Das Gespenst, das Gespenst!« Nebenan redeten viele Stimmen durcheinander, und Kasperle verhielt sich nun ganz still, denn auf einmal sagte jemand, man müsse morgen die Wände abklopfen; vielleicht sei einmal jemand eingemauert worden, und der geistere nun herum.

»Das ist recht«, antwortete der Herzog, »man soll morgen gleich den Hofbaumeister holen.«

O weh! Da verging dem Kasperle wieder der Übermut. Wenn der Hofbaumeister die Wände abklopfte, fand er sicher die geheime Türe, und man entdeckte es, das Kasperle. Es wurde mucksstill, und nichts störte fortan den Herzog mehr. Dabei schlief Kasperle nicht einmal. Es dachte an die Flucht und beschloß, morgen doch die Treppe hinabzusteigen, vielleicht fand es da einen Ausgang.

Als die Sonne aufging und etwas Licht durch das grüne Fensterloch in das Kämmerchen floß, rüstete sich Kasperle zur Flucht. Seinen letzten Wurstzipfel nahm es mit und den Geldsack aus der Truhe. Das raschelte und klirrte wieder, und der arme Herzog nebenan erwachte von dem Geräusch. Weil dann aber alles still blieb, dachte er, er habe geträumt. Er klingelte nach seiner Morgenschokolade. Das hörte Kasperle noch, als es das schmale Trepplein in die Tiefe hinabstieg. Ach, lieber Himmel, es[125] hätte auch lieber Schokolade getrunken, statt in die Finsternis zu steigen! Es tastete sich den schmalen Gang entlang, in den die Treppe mündete; feucht und kühl war es, und ein paarmal huschte etwas an dem erschrockenen Kasperle vorbei, es mochten Ratten sein. Kasperle ächzte vor Angst, dumpf dröhnte das Echo zurück, und in der Küche ließ just in dem Augenblick die Köchin des Herzogs Morgenschokolade fallen. »O du meine Güte«, schrie sie, »nun geistert es auch hier, hört nur!«

Alle Küchenjungen und Küchenmägde hatten das Geächze vernommen, denn Kasperle war gerade unter der Küche hinweggewandert. Endlos schien der Gang zu sein, er ging weiter und weiter, aber auf einmal sah Kasperle es in der Ferne hell werden. Nun rannte es, so schnell es mit dem Geldsäcklein vorwärts kam, weiter, plötzlich sah es nahe vor sich dichtes, dichtes Gebüsch. Es kroch hindurch, da stand es im Wald, und hinter ihm lag das Schloß. Kasperle wollte weiterrennen, denn es dachte an die Wächter, die das Schloß bewachten, doch da hüpfte und sprang es um Kasperle herum, und neben ihm schrie Michele: »Endlich kommst du, endlich!«

Kasperle blieb nicht stehen. Es packte Micheles Hand und zog ihn mit fort, die Ziegen folgten, und erst als alle weit drinnen im Walde waren, begann Kasperle seine Abenteuer zu erzählen. »Da«, sagte es stolz und hielt Michele den Geldbeutel hin, »den habe ich dir mitgebracht.«

Aber Michele griff nicht nach dem Beutel. Der sah den Freund tief erschrocken an. »Kasperle«, sagte er leise, »das Geld gehört dem Herzog, das – das – ist – gestohlen!«

»Nä!« Kasperle riß seine Augen weit auf. »Ich hab's doch gefunden!«

»Aber das Schloß gehört dem Herzog, und alles, was drin ist, gehört dem Herzog!« Michele war blutarm, und er wäre himmelgern lieber Geigenspieler statt ein Ziegenhirte[126] geworden, und doch rührte er den Beutel nicht an. »Du mußt das Geld zurücktragen«, sagte er, »es gehört dir nicht. Weißt du, schon die Würste zu nehmen war unrecht.« Und Kasperle mochte sagen, was es wollte, Michele blieb dabei.

Da schaute das Kasperle seinen Freund nachdenklich an und flüsterte leise: »Du bist gut.« Es ließ den Kopf hängen, denn es schämte sich, daß es nur ein unnützes Kasperle war; es wäre auch lieber so ein braver kleiner Menschenjunge wie das Michele gewesen. Und so schrecklich es ihm war, noch einmal durch den langen, langen, finstern Gang zu gehen, es war doch bereit, es zu tun.

»Aber gleich«, riet Michele, »ehe der Hofbaumeister die Tür findet.« Er kramte aus seiner Tasche ein Stückchen Kerze und eine Schachtel Streichhölzer heraus; auf den Besitz war er sehr stolz, aber für den Freund gab er die Herrlichkeiten hin.

Und Kasperle kroch wirklich durch das Gebüsch in den unterirdischen Gang hinein. Innen zündete es das Lichtlein an, da war es gar nicht mehr so schlimm, es kam bis zur Treppe, und da – wurde das Kasperle wieder übermütig.[127] Es schleuderte nämlich den Geldsack heftig gegen die Türe, der Herzog sollte noch einmal tüchtig erschrecken. Doch was war das – die Türe ging auf! Das schwere Säcklein hatte die geheime Feder getroffen.

Ein lautes Geschrei erscholl, und Kasperle rannte Hals über Kopf die Treppe hinab, in den Gang hinein. Das Licht ging ihm aus, es wagte gar nicht, es wieder anzuzünden. Es rannte und rannte, endlich wurde es hell, es kroch durch das Gebüsch. Unweit davon weidete Michele seine Ziegen. »Ausreißen«, rief Kasperle, »ausreißen!«

Michele ahnte, daß etwas Schlimmes geschehen war. Er trieb seine Herde an, und die armen Ziegen mußten laufen, daß ihnen Hören und Sehen verging. Erst als sie an dem Ort angelangt waren, an dem die Freunde sich zuerst getroffen hatten, hielt Michele an. Kasperle sank ganz atemlos ins Gras; Michele brachte ihm Wasser, gab ihm Brot, und erst dann konnte der kleine Schelm erzählen, was geschehen war. Er blickte dabei Michele verlegen an. Was würde der sagen?

Doch Michele war eben auch ein Bube mit Freude an unnützen Streichen. Er lachte und meinte, der Herzog habe sich gewiß über das Geldsäcklein gefreut, und nun wüßten sie auf dem Schloß auch, wo die geheime Schatzkammer sei. »Aber nun hast du keinen Unterschlupf mehr«, fügte er traurig hinzu. »Hier zwischen den Felsen ist zwar eine kleine Höhle, aber lange drin hausen kannst du nicht. Und – und« – Michele tat einen ganz tiefen Seufzer – »was machst du, wenn ich nicht mehr komme?«

Kasperle riß erschrocken seine Augen und seinen Mund weit auf. Michele wollte nicht mehr kommen! Ja, warum denn nicht? Da erzählte ihm der Kamerad, in den nächsten Tagen würden sie mit allen Rindern und Ziegen aus dem Dorf für ein paar Wochen auf eine hochgelegene Bergwiese ziehen; da müsse er mit, um die Milch hinabzufahren.[128]

»Ich geh' mit!« schrie Kasperle, denn das Hausen auf der Bergwiese schien ihm lustig zu sein.

Doch Michele schüttelte betrübt den Kopf. »Es geht nicht«, sagte er ernsthaft, »du mußt weiterwandern; hier finden sie dich. Bei uns ist auch schon ein Landjäger gewesen, um nach dir zu suchen.«

Kasperle ließ betrübt den Kopf hängen. Ach, das Weiterwandern machte ihm keinen Spaß mehr, und am liebsten wäre es in das Waldhaus zurückgekehrt! Doch wo war das? Es wußte den Weg zurück nicht mehr, zuviel war es kreuz und quer gelaufen, und Michele wußte es auch nicht. Der gab aber verständigen Rat. Am letzten Tag wollte er Kasperle ein großes Brot herausbringen, das dafür seine Batzen hergeben sollte, die ihm die Lehrersfrau geschenkt hatte. Dann sollte der Kleine immer auf dem Bergrücken weiterwandern und ein paar Tage alle Dörfer meiden, bis er in das benachbarte Fürstentum gelangt sei. Dort, meinte Michele, könnte ihn der Herzog wohl nicht fangen lassen. »Wenn du an einen blau-gelben Grenzpfahl kommst«, sagte Michele, »dann bist du an der Grenze.«

Kasperle versprach, sich alles zu merken, auch fortan sehr vernünftig zu sein. Es tat auch, wie Michele ihm geraten, kroch in die Felsenhöhle, als der Freund mit seinen Ziegen heimwärtszog, und drin schlief es die Nacht besser als im Gespensterkämmerlein.[129]

Quelle:
Herold Verlag, Fellbach, 1985, S. 113-130.
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