Ein spaßiger Gärtnerlehrling

[130] Das Geldsäcklein, das Kasperle so heftig an die Tür geschleudert hatte, war dem Herzog gerade auf den Magen gefallen. Platsch, da lag es, platsch, da lag auch die Schokolade, und der Herzog schrie, als hätte er das von Kasperle gelernt. »Das Gespenst, das Gespenst!« brüllte er, und wieder rannte, wer das Schreien hörte, herbei, und alle starrten in die schmale Kammer hinein, und keiner traute sich recht hineinzugehen. Vielleicht saß das boshafte Gespenst noch irgendwo in der Ecke. Endlich kamen etliche Kammerherren, auch Rosemaries Vater; die untersuchten das Kämmerlein, sahen die Schatzkiste, sahen auch die Treppe und stiegen in den dunklen Gang hinab. Auf dem Flur drängten sich die Küchenmägde zusammen und jammerten: »Das Gespenst wird uns alle umbringen!«

Der arme Herzog lag ganz käseweiß in seinem Bett, und der Leibarzt gab ihm Magentropfen und sagte, Kamillentee würde wieder helfen. Ehe der Herzog aber noch Kamillentee getrunken hatte, kamen die Kammerherren zurück; einer hielt einen Wurstzipfel in der Hand und sagte: »Den muß das Gespenst verloren haben. Und da Gespenster doch keine Würste essen, muß es schon jemand Lebendiges gewesen sein.«

»Das Kasperle war's«, rief der Herzog. »Ich glaube auch, ich habe es gesehen, als die Türe aufging.«

Der Graf meinte auch, es könne wohl Kasperle gewesen sein, denn ein Einbrecher hätte nicht mit dem Geldsack Fangball gespielt, sondern ihn lieber mitgenommen.

»Die ganze Gegend muß abgesucht werden!« befahl[130] der Herzog. »Irgendwo muß doch der kleine Kobold zu finden sein!«

Als Michele an diesem Abend seine Herde heimtrieb, zog er dicht am Schloß vorbei. Er traf auch eine Küchenmagd, und als er die ein bißchen dies und das fragte, da erzählte ihm die flugs alles, was geschehen war. Dem Michele wurde das Herz schwer, und er konnte in der Nacht gar nicht ordentlich schlafen vor lauter Angst um Kasperle. Er trieb am andern Morgen seine Herde so früh aus, daß die Bauersfrauen schalten, es sei noch nachtschlafende Zeit. Als Michele am Schloß vorbeikam, sah das auch noch ganz verschlafen aus; an der Stelle aber, wo der geheime Gang in den Wald mündete, stand ein Wächter. Der blickte grimmig drein und schrie Michele zu: »Nimm heute deine Ziegen in acht, Bub, nachher wird der Wald von Jägern und Hunden abgesucht.«

Ei, da rannte Michele, und die armen Ziegen konnten nicht genug hopsen und springen. Michele trieb sie zu immer größerer Eile an, und der Wächter lachte hinter ihm her. Hätte der nur geahnt, zu wem das Michele eilte! Der fand Kasperle noch in seiner Felsspalte sitzen, und aufgeregt erzählte er ihm die neue Gefahr. »Bleib da drinnen«, sagte er, »ich stecke flink Äste davor, da sieht dich niemand.«

Und Michele tat, wie er gesagt hatte. Er riß einige Äste ab, steckte sie vor die kleine Höhle und machte das so geschickt, daß wirklich der Eingang verdeckt wurde. Kasperle saß drinnen, Michele außen. So schwätzten sie zusammen.

Die Mittagsstunde kam, es blieb ganz still im Walde, und gerade sagte Kasperle, nun wolle es ein bißchen herauskommen, als aus der Ferne her lautes Rufen und Hundegebell erklang. Da schlugen den beiden Kameraden die Herzen arg, denn näher und näher kam der Lärm. Und auf einmal trat der brummige Matthias mit zwei andern[131] Jägern aus dem Walde heraus. Als der Förster Michele so ruhig seine Ziegen weiden sah, rief er ihm nur zu: »Ist hier jemand vorbeigekommen?«

»Nä, niemand!« schrie Michele, und er dachte mit heimlichem Lachen vergnügt bei sich: Nun habe ich doch die Wahrheit gesagt, denn wer in der Höhle sitzt, kann nicht vorbeigegangen sein.

Die Jäger zogen weiter. Einer der Hunde freilich kam angesprungen, der roch am Boden Kasperles Spur. Doch Michele fing jämmerlich an zu schreien: »Meine Ziegen, meine Ziegen!« Da rief Matthias den Hund zurück, und Kasperle blieb unangefochten in seiner Höhle sitzen.

Danach wurde die Ruhe nicht mehr gestört, und am Abend zog Michele mit seinen Ziegen heim, und Kasperle blieb einsam zurück. Es dachte voll Sehnsucht an des Herzogs seidenes Bett, da hatte es schon weicher drin gelegen!

Und wieder brach ein heller, schöner Tag an. Das war aber ein Abschiedstag. Michele kam mit dem Brot, zum letztenmal trieb er heute seine Ziegen hierher. Ganz trübselig[132] hockten die beiden Freunde zusammen, und als das Michele scheiden mußte, da fing Kasperle bitterlich zu weinen an.

Der Freund versuchte es zu trösten, aber Kasperles Tränen flossen wie ein kleiner Gießbach, und zuletzt heulte Michele mit. Das einsame, verlassene Kasperle tat ihm bitter leid, und am liebsten wäre er mit ihm in die weite Welt gelaufen. Schließlich aber mußten sie doch scheiden. Kasperle blieb allein in seinem Felsenloch sitzen, und Michele trieb trübselig seine Ziegen heim.

Kasperle hockte traurig in seiner Höhle. Schlafen mochte es gar nicht, und als der Mond aufging, der nun schon ziemlich voll und rund war, da rüstete sich Kasperle, um weiter in die Welt hineinzuwandern. Es nahm das Rucksäcklein auf, das Michele ihm noch beim Abschied gegeben hatte, und in dem das Brot steckte, nahm einen Stock, den ihm der Freund geschnitten, und wanderte in die stille Nacht hinaus.

Der Mond goß helle silberne Lichtströme auf Kasperles Weg. Ganz einsam war der, nur einmal sah der kleine Schelm ein Dorf in der Ferne liegen. Da dachte er an Micheles guten Rat und machte einen weiten Bogen darum herum. Als es Tag wurde, suchte er sich tief im Wald einen verborgenen Platz, da legte er sich nieder und schlief, bis der Abend dämmerte, dann stand er auf und wanderte weiter.

Fünf Nächte lang wanderte so das Kasperle einsam dahin, und sein Brot hatte es bis auf ein kleines Schnitzchen aufgegessen. Endlich erblickte es in der Morgenfrühe einen Grenzpfahl, und unten im Tal sah es eine größere Stadt liegen. Es schlief nur ein paar Stunden an diesem Tage, zur Mittagszeit aß es sein letztes Stückchen Brot, und dann stieg es ins Tal hinab. Doch zur Stadt war es weiter, als Kasperle gedacht hatte, und die Sonne hatte sich schon ihr schönes rotes Abendkleid angezogen, als[133] Kasperle endlich an einem der Stadttore anlangte. Um die Stadt herum lief nämlich noch eine uralte Mauer. Die hatte Tore und Türme, und von den kleinen Turmfenstern herab hingen rote Hängenelken, und dahinter standen blühende Geranien.

Kasperle sah aber gar nicht, wie hübsch das war, es erblickte etwas viel, viel Schöneres. Außen vor der Stadtmauer lag ein großer Garten, in dem tausendfältig bunte Sommerblumen blühten. Da säumten die schönen Malven die Wege, golden leuchteten Beete voll gelber Ringelblumen; Rittersporn und Eisenhut, Braut im Haar und Hiobstränen, alles blühte dicht nebeneinander. Rote Rosen, weiße Nelken hingen von der alten Stadtmauer herab, und Kasperle staunte die bunte Pracht an und dachte, der Festsaal im Herzogsschloß sei nicht halb so schön wie dieser Garten. Zwischen den Beeten ging ein alter, weißbärtiger Mann umher, der begoß sorgsam Pflanze um Pflanze. Er füllte seine Gießkanne von Zeit zu Zeit an einem Brünnlein, trug sie zu den Beeten und goß sie dort leer. Es sah aber so aus, als würde ihm dies alles recht schwer. Und wie er gerade wieder eine Gießkanne füllen wollte, stand auf einmal Kasperle neben ihm. Das nahm die Kanne – schwipp, schwapp begann es mit einem großen Geplantsche zu gießen. Dazu lachte es über das ganze Gesicht, und der alte Gärtner lachte mit. Dem gefiel der kleine Helfer, der einfach über den Zaun gestiegen war, ganz gut. Er setzte sich auf eine Bank und sah zu, wie Kasperle den Garten goß. Das meinte, eine vergnüglichere Arbeit habe es noch nie getan. Es gefiel ihm sehr gut in dem bunten Garten, in dem ein kleines, ganz grün überwachsenes Haus stand. Und als Kasperle fertig war, setzte es sich auf die Bank neben den alten Gärtner, blinkerte den zutraulich an und fragte: »Darf ich bei dir bleiben?«

Der Alte lachte: »Du bist aber ein schnurriger Bube«, sagte er. »Wie heißt du? Woher kommst du?«[134]

Kasperle seufzte tief. Bei dem alten Mann ging es ihm wie beim Michele, es konnte seine Lügengeschichte nicht erzählen, es schämte sich. Betrübt ließ es den Kopf hängen, und der alte Gärtner fragte ernst, doch voll Güte: »Du bist wohl ausgerissen, Kleiner?«

Wieder seufzte Kasperle, aber sagen konnte es nicht, wer es war; es hatte zu große Angst vor den Menschen bekommen. Da nahm der Alte es sacht an der Hand, führte es in das kleine Haus und sagte freundlich: »Bleibe nur bei mir in meinem Garten! Morgen sagst du mir wohl, wer du bist.«

Und Kasperle blieb. Sie aßen zusammen Abendbrot, und der alte Gärtner erzählte von seinen Blumen, wie die wuchsen und blühten, und Kasperle wurde nicht müde zuzuhören. Inzwischen war die Sonne ganz untergegangen, und der Alte sagte zu Kasperle, es solle schlafen gehen; er zeigte ihm auch eine kleine Kammer, darin stand ein Bett. Das dünkte dem Kasperle herrlich weich nach den vielen Nächten, die es im Walde geschlafen hatte. Durch das offene Fenster strömte der Duft der vielen, vielen Blumen in die Kammer, und wie Kasperle so dalag, hub es auf einmal an zu klingen und zu tönen, eine wundersame Musik war es, und Kasperle wurde darüber hellwach. Es hatte noch nie etwas Schöneres gehört als diese feine, sanfte Musik. Ganz seltsam wehmütig wurde ihm dabei. Dicke, dicke Tränen liefen dem Kasperle über das Gesicht, es dachte an seine Verlassenheit, und eine große Sehnsucht nach dem Waldhaus erfaßte es wieder. Immer lieblicher, zarter wurde das Klingen, und zuletzt schlief Kasperle darüber ein.

Es schlief sanft bis zum hellen Morgen, bis es der alte Gärtner weckte. »Komm«, sagte der, »jetzt wollen wir wieder in den Garten gehen und gießen, damit die Blumen am Tage nicht durstig werden; es wird heute heiß werden.«[135]

Kasperle sprang vergnügt auf, und vergnügt goß es die Blumen. Manche brauchten viel Wasser, manche hatten nur wenig Durst. Der alte Gärtner sagte ihm das alles, er nannte ihm auch die Blumen. Und dann mußte Kasperle Beeren pflücken, die reif an den Büschen hingen. Es durfte auch davon essen, die andern mußte es aber in kleine Körbe tun, die gar zierlich mit Blättern ausgelegt waren. Der Alte selbst pflückte Frühbirnen von einem Baum.

Beide waren noch eifrig bei der Arbeit, als etliche Frauen und Kinder kamen. Die kauften das Obst und wollten auch Blumen, sie verlangten Salat und allerlei Gemüse für die Küche. »Ei, Ihr habt Euch ja einen Lehrburschen zugelegt!« sagte eine der Frauen, die Kasperle erblickte. Die Kinder aber starrten den kleinen Gärtnerburschen erstaunt an, und der, dem dies Angestaune gar nicht recht war, schnitt ihnen blitzschnell sein Räubergesicht.

Kreischend liefen die Kinder erst ein Stück weg, doch sie kamen gleich wieder und bettelten: »Mach's noch mal!«

Da mußte Kasperle lachen und schnitt die lustigsten Gesichter. Die Kinder jauchzten laut, und der alte Gärtner[136] und die Frauen sahen erstaunt hin. »Ihr habt aber einen putzigen Lehrburschen, Meister Helmer!« sagten die Frauen. »Wo habt Ihr denn den her?«

Der alte Gärtner schwieg. Kasperle kam ihm gar sonderbar vor, und als die Frauen und die Kinder endlich wieder gegangen waren, fragte er seinen kleinen Gast: »Ei du, was bist du denn für ein Schelm? Sage doch, wo hast du deine Grimassen gelernt?

Da sah ihn Kasperle treuherzig an und erzählte ihm nun, wer es sei. Aber darüber wurde der Alte bitterböse: »Schäme dich«, rief er, »einem alten Mann solche Lügengeschichten zu erzählen! Ein Kasperle willst du sein? Ei, mein Lebtag habe ich noch nicht gehört, daß ein Kasperle etwas anderes als eine Holzpuppe ist! Pfui, ist das häßlich, so zu lügen!«

Kasperle stand ganz verdattert da, es wußte gar nicht, wie es dem erzürnten Gärtner erklären sollte, daß es wirklich ein Kasperle sei.

Indem tat sich die Gartentüre auf, und ein feiner junger[137] Mann trat herein. Der schaute verwundert den Alten an und sagte: »Was habt Ihr denn, Meister Helmer? Ich habe Euch doch noch nie so schelten hören.«

»Ach, Sie sind's, Herr Severin!« rief der Gärtner. »Nun hören Sie einmal, was mir dieser Schelm, den ich gestern aus lauter Mitleid aufgenommen habe, für Lügengeschichten aufbindet!« Er erzählte ärgerlich, was Kasperle ihm eben gesagt hatte, und Herr Severin blickte dabei das Kasperle ernsthaft mit seinen schönen dunklen Augen an. Dann schüttelte er sacht ein wenig den Kopf. »Er hat nicht gelogen, Meister Helmer«, sagte er, »es ist wirklich ein echtes, lebendiges Kasperle. Es gibt nur ganz wenige Kasperle in der Welt, und mein Lehrer, der ein hochweiser Herr war, hat mir einmal erzählt, irgendwo im Atlantischen Ozean liege eine winzige Insel, auf der die wunderschönsten Blumen blühen; dies sei die Heimat der Kasperle.[138] Blieben sie dort, dann würden sie freilich sehr alt, aber sonst würden sie leben und sterben wie wir Menschen. Verließ aber ein Kasperle die Insel, dann könne es wohl jahrelang schlafen, aber nicht sterben, es müsse immer ein kleines, törichtes Kasperle bleiben, und jedes Kind müsse über es lachen.«

Als Kasperle diese Geschichte hörte, wurde es ihm plötzlich ganz wind und weh zumute. Es fing bitterlich an zu weinen. Wo seine Heimat lag, hatte es vergessen, es wußte gar nichts mehr; alles hatte es verschlafen, aber wie ein Traum war ihm der Gedanke an den blühenden Garten gekommen. Da sagte der junge, schöne Mann mitleidig: »Du armes, verlaufenes kleines Kasperle, du!« Das klang beinahe wie gestern die Musik und tröstete Kasperle wundersam. Ganz leicht und froh wurde es ihm wieder ums Herz, als es der Fremde linde streichelte.

Meister Helmer schüttelte zwar noch immer den Kopf, die Kasperlegeschichte kam ihm zu sonderbar vor, aber sein kleiner Gast mußte noch einmal erzählen, was er alles erlebt hatte. Und Kasperle erzählte, und seine Zuhörer lachten und sahen mitleidig drein, und dann sagte Herr Severin: »In einiger Zeit reise ich fort, dann will ich versuchen, das Waldhaus zu finden, denn das ist nun doch deine Heimat, kleines Kasperle.«

»Und bis dahin bleibst du bei mir«, sagte Meister Helmer. »Ich will gut achtgeben, daß dir nichts geschieht.«

Da war Kasperle vergnügt wie vorher, und als Meister Helmer sagte: »Geh, pflücke für Herrn Severin einen Strauß«, da lief es eilig im Garten hin und her und pflückte einen ganz kunterbunten, lustigen Strauß. Der Gärtner und Herr Severin lachten, als sie ihn sahen, und Herr Severin sagte, dies sei ein so fröhlicher Strauß, wie er noch nie einen gehabt habe. Dann ging er. Er wohnte dicht neben dem schönen Garten in einem der alten Stadtmauertürme, und Meister Helmer erzählte Kasperle, Herr[139] Severin sei ein gar großer Künstler. Wenn er ein Instrument spiele, bekomme es eine Seele. Und von weit her, aus fernen Ländern, werde oft nach ihm geschickt, er solle kommen, damit etwa eine Orgel auch eine Seele bekäme.

Das verstand Kasperle nicht recht, aber es wußte nun, daß es Herr Severin gewesen war, der gestern abend so schön gespielt hatte. Es freute sich schon darauf, die liebliche Musik wieder zu hören. Und wirklich schwebten am Abend die sanften Töne wieder über dem blühenden Garten. Die Blumen dufteten, und Kasperle saß lange neben dem alten Gärtner vor dem Hause und hatte alle Angst verloren, es könnte ihm jemand etwas Böses antun.

Am nächsten Morgen sagte Meister Helmer: »Kasperle, heute ist Sonnabend, da kommen viele Leute und kaufen Sonntagssträuße. Geh, binde welche, binde sie so bunt und lustig wie gestern den für Herrn Severin!«

Das war eine Lust! Kasperle fing eilends an, Blumen zu schneiden, und band sie so kunterbunt zusammen, daß Meister Helmer lachen mußte, als so Strauß neben Strauß im Brunnenbecken lag. Und wie der Gärtner, lachten auch die Leute, die kamen, um Sonntagssträuße zu kaufen. Selbst eine griesgrämige alte Muhme lachte über das ganze Gesicht, als ihr Meister Helmer einen Strauß gab. »So einen Strauß hab' ich noch nie gesehen«, rief sie, »ei, da muß man ja lachen, ob man will oder nicht.«

Immer mehr Menschen kamen, alle wollten sie bunte Kasperlesträuße haben, und alle lachten sie über den drolligen Gärtnerburschen, der wie ein Hase im Garten herumhüpfte. Er band Sträuße um Sträuße, bis der Gärtner endlich sagte, nun sei es genug, sonst blieben keine Blumen mehr übrig. Aber staunend sah er, wie geschickt Kasperle die Blumen gepflückt hatte; es schien, als fehlten gar keine. Da lobte er seinen kleinen Helfer, und als am Abend Herr Severin kam, erzählte er ihm, wie brav Kasperle sei. Ja, brav war das Kasperle schon, daneben aber[140] doch ein unnützer Schelm! Ein Kasperle muß eben kaspern, und Kinder müssen lachen, wenn sie ein Kasperle sehen. Das ist einmal so! Die Kinder der Nachbarschaft hatten es bald heraus, was Kasperle für ein Schelm war. Die sagten es andern Kindern, und schon nach etlichen Tagen gab es ein großes Gelaufe zu Meister Helmers Garten. Die Kinder standen am Zaun und warteten, und wenn Kasperle in den Garten kam, ertönte gleich ein großes Jubelgeschrei. Dann schnitt Kasperle sein Räubergesicht, schaute wie ein dummer August drein oder machte gar eine Teufelsgrimasse. Meister Helmer mußte dann wohl auch lachen, aber als Herr Severin das einmal sah, warnte er: »Kasperle, Kasperle, du verrätst dich noch!«

Und schon am nächsten Tag wurde es dem Kasperle himmelangst. Ein paar Buben riefen ihm nämlich zu: »Kasperle, kommst du übermorgen mit auf den Jahrmarkt? Da ist ein Kasperlemann, der kann es sicher nicht so fein wie du!«

Kasperle vergaß vor Schreck das Gesichterschneiden. Wenn das der Kasperlemann war, der es überall suchte! Ganz kläglich erzählte es Meister Helmer vom Jahrmarkt, und der versprach ihm, er wolle nachschauen gehen.

Am nächsten Tage gab es viel zu tun, und merkwürdigerweise kamen gar keine Kinder. Kasperle half fleißig, es hopste und sprang vom Garten ins Haus, war mal da, mal dort, und gerade war es wieder drin, als Herr Severin in den Garten kam. Der trug einen großen schwarzen Koffer auf dem Rücken, ging rasch in das Haus hinein und rief Meister Helmer zu, er möchte ihm schnell nachkommen. Drinnen im Hausflur erwischte er Kasperle, hielt es fest und zog es mit in die Stube. Dort stellte Herr Severin seinen Koffer hin, öffnete ihn und sagte: »Flink, flink, Kasperle, schlüpf da hinein!«

Kasperle gehorchte, und klapp! schlug der Deckel über ihm zu, und Herr Severin setzte sich auf den Koffer und[141] begann fein und lieblich auf seiner Geige zu spielen. Doch er kam nicht weit. Mit ungeheurem Geschrei kamen viele Kinder in das Haus gestürmt, ihnen folgte der Kasperlemann und ein paar Wächter, und alle brüllten sie: »Wo ist das Kasperle, wo ist das Kasperle! Wir wollen Kasperle fangen, der Herzog verlangt Kasperle. Wo ist es, wo ist es!«

Ein paar Buben aber tuschelten leise Meister Helmer zu: »Wir helfen ihm, daß es ausreißen kann.«

Meister Helmer schaute sich verdutzt um. »Kasperle war eben hier«, murmelte er, und Herr Severin nickte und sagte auch: »Es war eben hier.« Dabei spielte er aber ruhig weiter und erzählte: »Meister Helmer, ich verreise; ich habe schon meinen Koffer gepackt. Morgen ganz früh fahre ich mit der ersten Post.«

»Das ist ja ganz gleichgültig, ob Sie verreisen oder nicht«, schrie der Kasperlemann grob, »das Kasperle müssen wir finden, es muß hier sein!«[142]

»Wir durchsuchen das Haus!« riefen die Wächter streng und sahen Herrn Severin drohend an. Der nickte freundlich: »Ja, das tun Sie nur! Vergessen Sie den Garten nicht!«

»Zuletzt war es ja im Garten«, sagte Meister Helmer, der das wirklich glaubte. Bei sich dachte er: Hoffentlich hat es schon ausreißen können! Da rasten Kasperlemann, Wächter und Kinder alle in den Garten. Herr Severin nahm seinen Koffer auf die Schulter, seine Geige unter den Arm und sagte, Meister Helmer solle ihn heute abend doch noch einmal besuchen; dann ging er leise singend aus dem Haus, durchschritt den Garten, und niemand hielt ihn auf.

Alle suchten und suchten, der Kasperlemann kletterte sogar auf die Stadtmauer und überzeugte sich, ob Kasperle über diese hätte ausreißen können. Und dann liefen Kasperlemann, Wächter und Kinder in das Haus hinein; kein Winkel blieb undurchsucht. Sie schauten sogar ins Salzfaß, in Meister Helmers Kaffeetopf, Kasperle war nirgends zu sehen. Der Kasperlemann schrie und klagte: »Es ist uns entwischt, weil wir alle ins Haus gerannt sind. O wie dumm, dumm, dumm!«

»Wir werden es schon fangen!« trösteten die Wächter. »Ah, bah, papperlapapp, ein Kasperle kriegen wir schon!«

Und dann fragten sie den guten Meister Helmer. Der mußte erzählen, wie Kasperle zu ihm gekommen war, und was es getan und gesagt hatte. Dazwischen schrie der Kasperlemann: »Entwischt, entwischt, dumm, dumm, dumm!« Und die Wächter riefen: »Ach was, papperlapapp, das fangen wir schon!« Ein paar Buben aber brüllten plötzlich laut: »Kasperle ist ausgerissen, hurra, ausgerissen, hurra!« Und dann rannten sie auf die Straße und erfüllten die mit ihrem Geschrei. Sie erzählten es jedem, der es hören wollte, der Kasperlemann habe seine Bude aufgestellt für den Jahrmarkt morgen und dabei ein Kasperle[143] gezeigt, das ganz genauso ausgesehen habe wie der kleine Gärtnerjunge, und er habe dabei gefragt: »Habt ihr schon so einen flinken, lustigen Kasper gesehen?« Da hätten sie gerufen: »Meister Helmers Lehrbursche sieht geradeso aus!« Ja, und so sei es gekommen. Und dann brüllten sie wieder die Straße entlang: »Ausgerissen, hurra! Fein, fein, fein, ausgerissen!«

Der Kasperlemann aber ärgerte sich schwefelgelb. Je mehr die Buben brüllten, desto wütender wurde er. »Morgen hätte ich Graf sein können«, schrie er, »wenn dies blitzdumme, vermaledeite Kasperle nicht wieder ausgerissen wäre. Dumm, dumm, dumm!«[144]

Quelle:
Herold Verlag, Fellbach, 1985, S. 130-145.
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