Wieder daheim im Waldhaus

[158] Es gab von Protzendorf nach dem Waldhaus einen Fußweg, der führte durch den dichtesten Wald und war wenig begangen. Ihn schlug Herr Severin ein. Kasperle durfte den Koffer verlassen, und beide wanderten fröhlich dem Waldhaus zu. Da sagte auf einmal eine liebe, bekannte Stimme: »Ach, lieber Gott, das ist ja Kasperle!« Ganz tief im Grünen, unter einer uralten Tanne, saß Liebetraut, und neben ihr weidete ein Reh. Herr Severin blieb stehen, Kasperle aber stürzte mit so lautem Jubel auf Liebetraut zu, daß das Reh eilends entfloh. »O Kasperle, du liebes, schlimmes Kasperle!« sagte Liebetraut. »Wo kommst du her?«

»Nicht böse sein!« bettelte Kasperle und schmiegte sich an Liebetraut an. Das schöne Mädchen lächelte, es streichelte Kasperles Strubbelkopf und sagte froh: »Nur gut, daß du wieder da bist, du Schelm, du Ausreißer, du mein kleiner Liebling, du!«

Und nun erzählte Kasperle, wie es ihm ergangen war, und Liebetraut lachte und weinte; dann sagte sie, der Kasperlemann sei schon zweimal dagewesen und habe gefragt, ob das Kasperle noch nicht wieder zurück sei. Doch könne er hier nichts machen, das Waldhaus liege gerade an der Grenze, und der Fürst dieses Landes und der Herzog,[158] die seien nicht gut Freund miteinander. Hier könne es daher der Herzog nicht mehr fangen, aber in Protzendorf wohne jetzt ein Landjäger, um aufzupassen, und Florian und Damian hätten gesagt, wenn sie Kasperle fingen, würde es ihm übel ergehen.

»Komm«, bettelte Kasperle, »wir wollen ins Waldhaus!«

Liebetraut stand auf, und alle drei schritten sie dem Waldhaus zu. »Jetzt kommt gleich die Grenze«, sagte Liebetraut, »Kasperle, schlüpf flink in den Koffer, mir wird so bange! Manchmal steht ein Landjäger an der Grenze.«

Da kroch Kasperle in den Koffer, und kaum hatte den Herr Severin wieder zugeklappt, da trat wirklich ein Landjäger aus dem Gebüsch. »Halt!« schrie der. »Ich muß alles untersuchen, ob hier nicht jemand ein Kasperle über die Grenze trägt.«

Herr Severin begann auf seiner Geige zu spielen, wundersam klang es, dazu sagte er: »Ich komme von des Herzogs Jagdschloß, aber der Herzog hat mir kein Kasperle geschenkt.« Darüber mußte der Landjäger lachen, und weil er auch dachte: So ein feiner Mann, der so schön spielen kann, was hat der mit einem Kasperle zu schaffen, ließ er Herrn Severin und Liebetraut ziehen. »Dies vermaledeite Kasperle!« schalt er. »Seit Wochen suchen wir danach, mal ist es da, mal ist es dort, nie fängt man es.«

»Ja, ja, es ist wohl ein arger Schelm, paßt nur gut auf, daß es Euch nicht an der Nase vorbeiläuft!« sagte Herr Severin lustig.

»Mir nicht«, schrie der Landjäger, »ha, ich bin ein ganz Schlauer, mir entwischt das Kasperle nicht!«

»Paßt auf, daß Euch Kasperle nicht entwischt!« rief Herr Severin noch, und da lachte auch Liebetraut. Lachend schritten sie weiter, und auf einmal tauchte das Waldhaus vor ihnen auf. Nun ließ Herr Severin das Kasperle wieder aus dem schwarzen Koffer heraus. Da tat es[159] einen lauten Freudenruf. Vor ihm lag das Waldhaus, ganz umblüht von einem sommerbunten Garten. Seine Fenster standen offen, und an einem der offenen Fenster saß Meister Friedolin und schnitzte. Kasperle rannte mit lautem Jubelgeschrei auf das Haus zu, und dem Meister Friedolin entfiel sein Schnitzmesser vor Staunen. Je, was war denn das!

Kasperle war wieder da, das Kasperle!

Mutter Annettchen kam herbei, sie hielt die Bratpfanne in der Hand, so schnell war sie vom Abendessenkochen weggelaufen.

Und Kasperle mußte immerzu erzählen, und dazwischen mußte es essen, und Herr Severin wurde genötigt, als Gast im Waldhaus zu bleiben. Er bekam das allerschönste Zimmer im Oberstock. Da schaute ihm der Wald in die Stube hinein, und Herr Severin spielte darin bis spät in die Nacht hinein so wunderschön, daß Liebetraut auf ihrem Bette saß und vor Freude weinte.

»Denkst du noch an das Fortlaufen?« fragte Liebetraut das Kasperle manchmal. Da schüttelte es immer heftig den Kopf und schrie: »Nein, nein, nein, ich will immer, immer im Waldhaus bleiben!«

Im Winter kam dann Herr Severin wieder. Im Waldhaus gab es eine stille, fröhliche Hochzeit. Und dann, nach einigen Wochen, kam ein Gast; der gute Herr Habermus war es, der brachte das Michele mit. Da gab es ein frohes Wiedersehen, und als Herr Habermus nach etlichen Tagen wieder heimreiste, sagte er: »Kasperle, du warst zwar ein schlimmer Schüler, aber ich hätte dich doch gern wieder in meiner Schule sitzen. Freilich, im Waldhaus hast du es am allerbesten.«

Und das war wahr. Nirgends, fand Kasperle, sei es so schön wie im Waldhaus; nur vielleicht auf der Kasperleinsel war es noch schöner. Doch niemand wußte, wo die lag, niemand kannte Kasperles eigentliche Heimat.[160]

Quelle:
Herold Verlag, Fellbach, 1985, S. 158-161.
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