Die Abreise

[32] Mister Stopps hatte gedacht: Früh reisen ist am besten, Abschied genommen wurde gestern genug.

Das war klug gedacht, aber die Torburger dachten anders; besonders die Buben und Mädel, die sonst gern recht lange in den Federn lagen, waren an diesem Morgen schon vor Sonnenaufgang putzmunter. Der alte Postillon hatte nämlich Kasperles frühe Abreise verraten. Dem tat es leid, daß Kasperle so ohne einen letzten Abschied davonfahren sollte, darum sang und blies er auch laut durch alle Gassen. Mister Stopps konnte es ihm verbieten, soviel er wollte.

»Kasperle reist ab!«

Da purzelten alle Buben und Mädel aus ihren Betten, da liefen und rannten die Großen herbei, um nichts zu versäumen. Der Zuckerbäcker machte seinen Laden schon in aller Morgenfrühe auf für diejenigen, die Kasperle eine Abschiedstüte schenken wollten. Und alle, die Kasperle nahestanden, rannten in den Laden und kauften. Kein Bonbon, keine roten oder weißen Lutschstengel, kein Gebäck, kein Stückchen Schokolade blieb mehr übrig, alles, alles wurde für Kasperle gekauft. Und Meister Dusterling gab die schönsten Schächtelchen und Kästchen her, er selbst aber schenkte die allerfeinste Pralinenschachtel, um Kasperle eine besondere Freude zu machen.

War das ein Gewusel, ein Schreien und Lärmen im Städtchen! Wie vor einem großen Festtag. Der Bürgermeister betrachtete immer wieder das viele Geld, das der Engländer ihm gegeben hatte, und rechnete und rechnete, und immer[32] wieder kam heraus, alle Häuser konnten neu aufgebaut und eingerichtet werden. Immer wieder kam ein Ratsherr gelaufen und fragte: »Hat er wirklich zwei Millionen Pfund bezahlt? So wertvoll ist ein Kasperle? Unglaublich!«

Die Bäcker hatten am Abend vorher noch eine Beratung abgehalten, und statt Morgenbrötchen buken sie lauter Kuchenkasperles. Und gerade als Mister Stopps Umschau nach der Postkutsche hielt, rannten die Bäckerjungen von Haus zu Haus und schrien: »Wir bringen Kasperle, lauter frische, warme Kasperle!« Zwei Bäckerjungen trugen einen großen Korb frisch gebackener Kasperle auch in Meister Severins Haus. Kasperle sah seine Ebenbilder mit Rosinenaugen und aß gleich sechs Stück hintereinander und hätte auch noch mehr gegessen, aber Frau Liebetraut sagte: »Kasperle, es wird dir bestimmt schlecht, wenn du so viel warme Kuchenkasperles ißt.« Sie packte einen Korbvoll ein, denn alle Bäcker schickten an diesem Morgen Kuchenkasperles zu Meister Severin. Und alle Torburger aßen frischgebackene Kasperles, und Kasperles gute Freunde verdarben sich bald den Magen daran. Nur das feine Marlenchen weinte, als sie ihren kleinen Freund als Gebäck vor sich sah. Sie aß keinen Bissen und stand dann bitterlich weinend vor der Haustüre, als draußen mit Trara die Postkutsche vorgefahren kam.

Kasperle war plumpsatt, es hatte sich seinen Abschiedskummer mit lauter Kasperles weggegessen, als es aber Marlenchen so bitterlich weinen sah, fing es zu heulen an. Mister Stopps erschrak. Gestern hatte Kasperle gelacht und geweint, das war ihm manchmal etwas laut erschienen, aber so ein Geheule, das liebte er ganz und gar nicht, das war, als holte Kasperle alle Tränen aus dem Herzen. Ganz erschrocken sah Mister Stopps den Bürgermeister an. Kasperle heulte wie ein Mensch.[33]

Und doch war es kein Mensch, Kasperles haben das so an sich.

»Uunderlich.« Mister Stopps nahm seine Brille und starrte Kasperle an, und da ging es bei Kasperle einmal wieder wie schon so oft, daß neben dem Weinen das Lachen stand. Mister Stopps mit der Brille auf der Nase erschien ihm zu merkwürdig.

»Huhuhähä!« lachte Kasperle, wie eben nur ein Kasperle lachen kann. Mit einem lachenden Kasperle fertig zu werden, traute sich Mister Stopps schon zu, das war nicht so unheimlich wie ein brüllendes. Er nahm Kasperle beim Kräglein, steckte es in die Postkutsche und rief: »Abfahren!«

Aber Mister Stopps hatte nicht mit den dankbaren Torburgern gerechnet. Die wollten nicht um ihren Abschied kommen. Ein lautes Rufen und Schreien erhob sich, ein paar Buben brüllten den Postillon an: »Nicht abfahren!«

»Ich fahre ja noch nicht, nehmt nur erst Abschied«, versicherte dieser. Er holte sich eine Pfeife aus der Tasche, zündete sie gemächlich an und rief: »Meinetwegen kann's noch lange dauern!«

Und es dauerte auch lange. So einen Abschied hatte Mister Stopps noch nie erlebt. Was geschah da nicht alles? Was wurde da nacheinander in die Kutsche geladen: Bonbontüten, Pakete und Körbe, Obst und Kuchen, Würste und Eier, alles schleppten die Torburger heran. Die Freunde Kasperles schenkten ihm altes Spielzeug, ein paar zerlesene Bücher, die kleinen Mädchen heulten, Marlenchen schluchzte immer bitterlicher, und die Buben versicherten mit trotzigen Blicken auf Mister Stopps: »Reiß nur aus, wenn dir's nicht bei ihm gefällt!«

»Das geht nicht, Kasperle muß bleiben!« rief der Bürgermeister, dem es himmelangst wurde, weil er glaubte, er müsse dann alles Geld wieder hergeben.[35]

Die Buben sagten aber: »Verkauft ist verkauft, aber daß er nicht ausreißen darf, hat Mister Stopps nicht gesagt.«

»Ausreißen? Kahs-pärle nicht ausreißen!« rief der reiche Engländer erschrocken.

»Es darf. Gelt, Kasperle, du reißt bald aus?«

»Himmel, Hagel, jetzt fahr endlich los!« herrschte der Bürgermeister den Postillon an. Doch der rauchte in aller Ruhe seine Pfeife und brummelte gelassen: »Erst sollen sie noch spielen.«

Ja, die Torburger Musikanten wollten Kasperle noch ein Ständchen zum Abschied spielen. Sie versammelten sich gerade, und alle Zuschauer dachten, nun fangen sie an, aber sie hatten alle nicht mit den alten Postpferden gerechnet.

Traratrara, bumbumbum, dideldideldum, ging es los. Mister Stopps hielt sich erschrocken die Ohren zu, die Postpferde aber spitzten die ihren. Beide erinnerten sich jetzt, daß sie einstmals Zirkuspferde gewesen, und daß sie beim Spielen von Musik immer flott gelaufen waren. Also liefen sie hoppla, hopp, und rumpelpumpel rollte die Postkutsche plötzlich über den Kirchplatz. Der Kutscher schrie: »Halt, halt!« Die Buben brüllten, der Bürgermeister sank in Herrn Severins Arme. Kasperle schrie. Marlenchen jammerte. Mister Stopps lag in der Kutsche auf der Nase, aber alles half nichts, die Pferde rannten immer schneller. Die Musikanten waren so erschrocken, daß sie immer lauter und schneller spielten; es gab keine Takte und keine Pausen mehr.

Bumbumbumbum, traratraratrara, dideldideldum tönte es, und risselrassel fuhr die Kutsche zum Tore hinaus, fuhr an verbrannten Häusern, am Zuckerbäcker Dusterling und an der Obstfrau vorbei. Da lag Meister Helmers Garten, in dem es nach dem Brand wüst und öde aussah, dann kam das freie Land, und schon lag der Postillon im Graben. Weiter[36] ging es, immer weiter, die Pferde kannten ihren Weg genau. Der Postillon erhob sich schimpfend. Er rannte dem Wagen nach und schrie immerzu: »Halt, Hans, Liese!«, denn so hießen die Pferde, aber die hielten nicht.

Mister Stopps, der sich mit vieler Mühe wieder auf die Bank gesetzt hatte, stöhnte: »Es gibt ein Unglück!« Kasperle war zwar erst auch etwas erschrocken gewesen, dann hatte es sich aber doch besonnen. Warum sollte es selbst nicht auch einmal Kutscher sein? Es kletterte also auf den Bock, erwischte die Zügel, und ruck standen die Pferde! Kasperle hatte sich wie ein Bleiklötzlein an die Zügel gehängt.

Der Postillon sah den Wagen halten und dachte: Nun erreiche ich ihn doch noch; aber er hatte nicht mit Kasperle gerechnet. Das meinte, ich kann auch allein fahren, und schon schrie es: »Hü, hott«, schwenkte die Peitsche, und heidi weiter ging die Fahrt.

»O Kahspärle!« stöhnte Mister Stopps. »Du mußt stop –«

Bums ging es über einen großen Wegstein, und Mister Stopps klappte wieder wie ein Taschenmesser zusammen.

»Halt, halt!«

»Hü, hott, hüüüüh!«

»Kahspärle!«

Bums, da war wieder ein Stein, nun kam ein Loch, die Postkutsche wackelte hin und her wie eine junge Gans, die das erste Mal spazieren geht. War das eine wilde Fahrt!

Kasperle vergaß auf seinem Kutschbock all sein Abschiedsleid. Es zappelte hin und her, zog mal rechts, mal links am Zügel, und die braven Postgäule wurden ganz aufgeregt; so im Zickzack zu fahren, waren sie nicht gewohnt. Aber Mister Stopps auch nicht. Der lag im Wagen, zappelte mit Beinen und Armen und rief stöhnend: »Stop, stop!«[37]

Ruck, da fuhr der Wagen wieder nach rechts, aber gerade da war ein Graben, und die gute alte Postkutsche überlegte: Soll ich hineinfallen? Aber sie war eine vernünftige alte Dame, also fiel sie nicht in den Graben, sondern richtete sich wieder auf. Sie ließ sich weiterziehen, und derweil die Postpferde auch schon verständig und nicht mehr wilde Springinsfelde wie Kasperle waren, dachten sie: Beim nächsten Wirtshaus halten wir.

Und da stand auch wirklich, noch ehe alle im Graben lagen, ein Wirtshaus am Weg, und die Pferde hielten vor dem Goldenen Knopf zu Amberg. Ruck, da standen sie. Den Goldenen Knopf und das Städtchen kannten sie. »Hü hot hüüüüüh!« schrie Kasperle. Es schwenkte die Peitsche, zog rechts am Zügel, zog den linken, aber alles half nichts mehr, Postpferde, die vor einem Wirtshaus stehen, lassen sich auf solche Kasperlepossen nicht ein.

Und Mister Stopps fand endlich wieder Kraft. Er packte Kasperle am Kräglein und zog es neben sich auf den Sitz, und dann rief er laut und dringend nach dem Wirt, der Wirtin, dem Hausknecht, dem Stubenmädchen, der Köchin, nach allen, die im Haus sein konnten. Alle kamen angelaufen, und es gab ein großes Fragen und Auskunftgeben über die seltsamen Erlebnisse. Weil nun aber Kasperle im ganzen Lande bekannt war, gab es ein großes Geschrei, als Mister Stopps sagte: »Das Kahspärle gehört mir!«

»Das ist geraubt!« rief die Wirtin laut, und alle Umstehenden stimmten ihr bei.

»O nein, es gehören mir, ich haben es gekauft«, erwiderte Mister Stopps.

»Für zwei Millionen!« schrie Kasperle, denn auf den Preis war es ungeheuer stolz. Und dann erzählte es selbst die ganze Geschichte, denn Mister Stopps hatte von der ausgestandenen[38] Angst fast den Atem verloren. Er ächzte nur einige Male und sagte: »Gehört mir!«

»Na, wenn das Kasperle es selbst sagt, dann muß es wohl wahr sein«, sagte die Wirtin.

»Du bist ein Tausendsassa!« rief der Wirt. »Aber wo in aller Welt habt ihr denn den Kutscher gelassen?«

Ja, wo war der Postillon? Der keuchte noch die Landstraße entlang, und Mister Stopps und Kasperle saßen schon beim Mittagessen, als er anlangte. Er sah die Postkutsche vor dem Wirtshaus stehen und ahnte gleich, daß die Pferde stehengeblieben waren. Er wollte heftig schelten, aber da sagte der Wirt: »Warum bist du denn vom Bock heruntergefallen? Ein Postillon darf doch nicht von seiner Postkutsche fallen. Das ist geradeso, als wenn ein Kirchturm[39] von der Kirche fällt. Kasperle war am gescheitesten, es ist hierhergefahren. Geh hinein, drinnen sitzen sie.«

Kasperle saß beim Mittagessen. Mister Stopps hatte auch essen wollen, aber ihm war vor Staunen der Bissen im Halse steckengeblieben. Herrjeh, konnte das Kasperle schlingen, trotzdem es vor der Abfahrt so viele gebackene Kasperles aufgegessen hatte!

Mit der Suppe war es noch gegangen, beim Braten wurde es aber schon schlimm, beim Pudding aber ganz schlimm. Selbst der Wirt staunte.

»Oh«, rief Mister Stopps betrübt, »sie haben dich lassen hungern. Armes Kahspärle, hat nichts gegessen heute?«

»Doch«, sagte Kasperle. Es holte sein gebackenes Ebenbild von Teig aus der Tasche, zeigte es und sagte: »Sechzehn Stück davon.«

»Heute schon?« fragte der Wirt verdutzt.

»Na, das ist doch wenig.« Kasperle steckte gleich ein gebackenes Kasperle in den Mund, aber selbst ein Kasperlehunger findet einmal ein Ende. Der kleine Schelm war eigentlich plumpsatt. Und weil er nun sein gebackenes Ebenbild quer in den Mund gesteckt hatte, konnte er auf einmal nicht mehr schnaufen.

»Hollahopp!« sagte der Wirt. »Mir scheint, Kasperle geht die Luft aus.« Bums flog ihm Kasperles Bein an die Nase, das Teigkasperle rutschte bei dieser heftigen Bewegung hinunter, und Mister Stopps fragte erstaunt: »Oh, uarum du das tun?« Wenn Kasperle nur nicht so ein Schelm gewesen wäre. Es zog ein Gesicht, als könnte es nicht bis drei zählen, und sagte: »Wenn ich das Bein hebe, kann ich besser schlucken.«

Merkwürdig! Mister Stopps schüttelte erstaunt den Kopf, steckte ein großes Käsebrot in den Mund, hob ein Bein, und[40] da setzte sich der Wirt erschrocken auf einen Stuhl, denn sein Gast warf mit dem Bein eine Weinflasche vom Tisch und schrie und hustete, aber das Käsebrot wollte nicht hinunterrutschen, das war schon eine schöne Geschichte.

Der gute Mister Stopps wäre beinah erstickt. Der Arzt mußte geholt werden. Der kam, zog Mister Stopps das Käsebrot aus dem Munde, klopfte dem Herrn beruhigend auf den Rücken und sagte: »Wie haben Sie das angestellt?«

Weil Mister Stopps kein Wort sagen konnte, erzählte der Wirt die Geschichte, und der Doktor sah den Engländer von oben bis unten an und brummte: »Ja, ja, Sie sind doch auch kein Kasperle. Was das kann, können Sie noch lange nicht.«

»Das stimmt!« rief der Wirt.

»Stimmt!« schrie Kasperle dem Doktor in die Ohren. Doch der wußte, was eine rechte Maulschelle ist. O jemine! Kasperle kroch vor Schreck heulend unter den Tisch und legte sich bald darauf zu Bett.[41]

Quelle:
-, S. 32-42.
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