Eine vergnügte Abschiedsfeier

[24] Das gute Marlenchen hatte mit Kasperle das allertiefste Mitleid. Es dachte ernstlich, Kasperle würde nur noch weinen und gar nichts mehr essen können. Doch darin irrte sich die kleine, gute Freundin sehr.

Kasperle heulte zwar eine Weile erbärmlich, aber als der Bürgermeister den allerschönsten Kuchen schickte, den Torburgs einziger Zuckerbäcker, Meister Dusterling, in seinem Laden hatte, da futterte Kasperle für drei. Bei den ersten Bissen heulte es noch ein wenig, weil aber der Kuchen gar so gut schmeckte, stopfte es immer mehr und mehr in seinen Mund und vergaß das Heulen.

Meister Severin, der, obwohl er Kasperle sehr, sehr ungern hergab, sich doch freute, daß die armen Abgebrannten nun ohne Sorge an den Wiederaufbau ihrer Häuser denken konnten, tröstete auch: »Du bekommst ja Ferien, und dann besuchst du uns immer.«

»Ferien, ja Ferien!«

Kasperle wußte wohl, Ferien waren etwas Herrliches. Und je mehr gute Dinge es aß, desto mehr wuchs seine Ferienfreude. Zuletzt dachte Kasperle überhaupt nicht mehr an Mister Stopps, sondern nur noch an die Ferien. Als Mister Stopps am Nachmittag kam und sagte: »Uir fahren bald ab!«, da schrie Kasperle: »Erst muß ich Ferien haben!«

Na, gleich mit Ferien anfangen zu wollen, das war etwas viel verlangt. Mister Stopps sagte es, selbst Herr Severin stand Kasperle nicht bei, und auch das feine Marlenchen meinte: »Kasperle, das geht nicht!«[24]

Da ließ der Schlingel die Nase hängen, sah wie ein betrübtes Lohgerberlein drein und wagte kein Gegenwort mehr. Weil der Kuchen ohnehin alle war, dachte Kasperle, nun kann ich ja wieder heulen, und schon wollte es damit beginnen, als Mister Stopps eine ungeheuer große Bonbontüte aus der Tasche zog. Die bekam Kasperle, und glücklicherweise lief der Bonbontüte nicht gleich die Mahnung hinterdrein: »Iß aber nicht so viel auf einmal!«

Kasperle zog also halb getröstet mit Marlenchen und der Tüte in den Garten, dort gesellte sich sein Freund, das Prinzlein dazu, und die Bonbons wurden geteilt. Kasperle war freigebig. Die Freundin bekam die besten Bissen, aber sie war nicht wie Kasperle, sie konnte vor Kummer nicht essen. Da fing Kasperle wieder zu heulen an, doch dazwischen steckte es ein Bonbon nach dem andern in seinen Mund, und so verging mit Heulen und Schmausen der Nachmittag.

Und dann kam etwas Wunderbares. Mister Stopps erinnerte gerade an das Weiterfahren, als der Bürgermeister kam und bat, er möge noch bis morgen früh bleiben, Torburg wolle für Kasperle eine Abschiedsfeier veranstalten. Bald lief ganz Torburg auf dem Kirchplatz zusammen zur Kasperlefeier, und als Mister Stopps das sah, versprach er, noch zu bleiben. Die Feier war sehr rührend und lustig zugleich. Erst sang der Gesangverein ein Wanderlied. Dann kletterte der dicke Bürgermeister auf einen Stuhl, der auf einem Tisch stand, und hielt eine Lobrede auf Kasperle, und ringsherum standen alle Buben und Mädel von Torburg mit bunten Papierlaternen, und jedesmal, wenn der Bürgermeister rief: »Unser allerbestes, herzensgutes Kasperle«, dann schwenkten sie ihre Laternen. Wunderhübsch sah es aus. Zuletzt rief der Bürgermeister laut: »Kasperle lebe hoch!« doch dabei purzelte er vom Tisch, und alle dachten,[25] er habe dies nur getan, um Kasperle Platz zu machen. Da hoben sie Kasperle auf den Stuhl, und während sich der arme Bürgermeister die Glieder rieb, denn er hatte sich braun und blau gefallen, kasperte Kasperle auf dem Stuhl herum.

Die Sänger sangen: »Wem Gott will rechte Gunst erweisen, den schickt er in die weite Welt«, und Kasperle steckte vor Rührung sein rechtes Bein in den Mund. Und weil das noch nicht half, wollte es auch sein linkes Bein in den Mund stecken, aber das war zuviel, und auf einmal saß Kasperle auf dem Bürgermeister, der gleich umfiel, und alle riefen: »Jetzt soll Mister Stopps reden!«

»Au«, stöhnte der Bürgermeister, denn Kasperle lag gerade auf seinem Bauch. Aber rasch stand Kasperle wieder auf, auch der Bürgermeister erhob sich, und Mister Stopps kletterte auf den Stuhl und sagte: »Uerte Festgenossen! Ich haben Kahspärle –«

»Kasperle heißt es!« schrien ein paar Buben.

»Kahspärle, uohl, uohl! Kahs – pärle.«

»Kasperle heiß ich!« brüllte Kasperle.

»Gekaufen«, schloß Mister Stopps.

»Gekauft heißt es!« rief ein Bube naseweis.

»Für eine – – –«

»Zwei!« schrie der Bürgermeister.

»Oh, zwei Millionen! Das sein sehr viel.«

»Ich bin mehr wert«, brüllte Kasperle, »drei Millionen bin ich wert!«

»Ja, das ist es wert!« riefen Buben, Mädel, Männer, Frauen, alle durcheinander.

»Zwei Millionen sein genug, und –« »Ferien!« schrie Kasperle.

»Ja, Ferien«, brüllten alle Schulkinder, »und die muß es in Torburg verleben!«[26]

»Ja, es soll leben«, stotterte Mister Stopps, »und nun sein ich fertig, und – –«

Pardauz, da fiel auch Mister Stopps vom Stuhl.

»Hurra, hurra!« schrien die Torburger, die dachten, dies wäre eine neue Art, vom Rednerstuhl herabzusteigen.

»Hurra, hurra!«

»Jetzt kommt Meister Severin«, sagte plötzlich jemand. Wirklich stieg auch Meister Severin mit seiner Geige auf den Tisch.

»Er fällt nachher auch 'runter, fein!« riefen die Buben. Doch Meister Severin fiel nicht herab. Der nahm seine[27] Geige und begann wunderherrlich zu spielen, so schön, wie ihn noch niemand hatte spielen hören. Kasperles Abschiedslied spielte er. Die Geige weinte und klagte, und das Kasperle weinte auch, dicke Tränen rollten über sein schalkhaftes Gesichtlein.

Es weinten überhaupt viele. Am allerheftigsten aber weinte Mister Stopps. Steif und feierlich saß er auf der Kante des Tisches, auf dem Meister Severin stand, und steif und feierlich hielt er ein großes, himmelblaues, seidenes Taschentuch in der Hand, in das seine Tränen flossen.

Niemand lachte, denn Meister Severins Spiel hielt alle im Banne. Alle waren gerührt, und selbst der Bürgermeister dachte dabei: Ist doch schade, daß unser Kasperle weggeht.

Sobald Meister Severin fertig war, kletterte Mister Stopps wieder auf den Tisch. Er schwenkte sein himmelblaues Taschentuch und rief: »Ich uerden gut zu ihm sein!«

»Hurra«, riefen alle, »Kasperle soll es gut haben!«

Kasperle schrie mit, und dann wäre Meister Severin beinahe doch umgefallen, denn Kasperle hing plötzlich an seinem Halse, und Mister Stopps merkte, daß auch ein armes, unnützes Kasperle tiefes Leid verspüren kann. Er klopfte Kasperle auf die Schulter und sagte: »Sein nicht bange, uir kommen bald uieder.« Das war ein Trost.

Einer der Abgebrannten kletterte nun auch auf den Tisch und sagte Kasperle viel tausend Dank, und wieder schrien alle: »Kasperle soll leben hoch! Hoch!«

Da dachte das Kasperle: Nun muß ich ihnen doch noch etwas vorkaspern. Es kletterte also wieder auf den Tisch, und seine Freunde riefen ängstlich: »Fall nicht 'runter!« Doch Kasperle fiel diesmal nicht herab. Es machte zwar die tollsten Sprünge, schnitt die allerseltsamsten Gesichter, sah einmal wie der, einmal wie jener aus Torburg aus, und Mister[28] Stopps riß seine kugelrunden Augen immer weiter auf.

Nein, war das Kasperle spaßig!

Dem fremden Herrn wurde das Stehen zu mühsam, so sehr mußte er lachen, er sah sich nach einem Sitze um und – –

»Jemine, jetzt sieht das Kasperle wie unser Herr Bürgermeister aus!« riefen die Torburger, und ein unbändiges Lachen erhob sich.

Bumbum!

Was war denn das wieder?

Zwei Beine stocherten in der Luft herum. Einer schrie jammernd: »Meine Trommel, meine Trommel!«

Kasperle lachte wie toll, und die Leute, die etwas abseits standen, reckten die Hälse und fragten: »Was ist denn los?«

Ja, was!

Mister Stopps war in die große Trommel gefallen. Er hatte gedacht, auf eine Trommel könnte man sich setzen, doch da die Trommel anderer Meinung war, platzte das Fell.

Meister Severin faßte Mister Stopps am rechten Bein, der Bürgermeister am linken, und heidi hopsassa, da war er wieder draußen.

Komisch, dachte Mister Stopps, sehr komisch!

Man muß schon sagen, er machte dazu ein arg dummes Gesicht, und flink machte ihm Kasperle das Gesicht nach.

»Er sieht aus wie Mister Stopps!« jauchzten die Leute.

»Uer sehen aus wie ich?«

»Kasperle, Kasperle.«

»Oh, sehr merkuürdig, sehr merkuürdig!«

»Fein, Kasperle, fein!«

Mister Stopps nahm so etwas nicht übel, der fand es sogar seltsam, daß Kasperle aussehen konnte wie er, so daß[29] er erst vor Staunen seinen Mund riesengroß aufriß und dann laut lachte.

Na, Mister Stopps konnte beinahe wie Kasperle lachen.

Ein paar Buben meinten sogar: »Vielleicht ist's ein altes Kasperle!«

Mister Stopps lachte gewöhnlich nur einmal im Jahr, aber dann gründlich. An diesem Tage aber lachte er, als hätte er drei Jahre nicht gelacht. Kasperle lachte mit, es hopste und sprang hin und her, Mister Stopps lachte, und das Lachen steckte an.

War das eine vergnügte Abschiedsfeier! Das Lachen schallte dauernd laut über den Kirchplatz. Selbst die griesgrämigsten Leute lachten, und zuletzt meinte Mister Stopps: »Ich sein glücklich, das Kahspärle zu haben.«

»Kasperle, Kasperle!« brüllten die Torburger Buben.

»Oh, uell, Kahspärle. Ich lieben ihn.«

Kasperle legte plötzlich den Kopf auf die Seite, schielte Mister Stopps an und brummte: »Ich dich nicht!«

»Aber Kasperle!« mahnte der Bürgermeister.

»Oh, er liebt mir nicht!«

»Mich!« schrien die Buben wieder.

»Mich nicht, ich bin traurig!«

Und da sagte Kasperle, das wilde, lachlustige Kasperle plötzlich ganz ernsthaft: »Ich hab dich auch lieb, aber –«

»Uas aber?« fragte Mister Stopps.

»Die da hab ich lieber.« Kasperle zeigte im weiten Bogen herum, und jeder Torburger konnte denken, es meine ihn. Sie riefen dann auch alle wieder hoch und hurra, schwenkten die Taschentücher, die Musik spielte, die Sänger sangen, Kasperle hopste und sprang, kurz und gut, es war eine sehr lustige Abschiedsfeier.

Meister Severin sagte zu seiner schönen Frau Liebetraut:[30] »Der Abschied scheint ihm doch nicht zu schwer zu fallen.«

Aber ach, dem Kasperle tat sein kleines Herzchen doch arg weh. Und als es in seinem Bette lag und dachte: es ist das letzte Mal für lange, lange Zeit, da fing es plötzlich herzzerbrechend zu weinen an und klagte: »Nie hab ich eine rechte Heimat, immer muß ich wandern!«

»O du armes, kleines Kasperle, du!« Frau Liebetraut, die das Kasperle wirklich recht wie eine gute Mutter liebhatte, streichelte den armen, traurigen Schelm. Meister Severin aber holte seine Geige, und dann setzte er sich an Kasperles Bett und spielte nur ihm das allerschönste Abschiedslied.

Da meinte Kasperle plötzlich, es wäre draußen im alten, lieben Waldhaus, es zöge wieder wie einst mit Meister Severin über Berg und Tal, und sein trauriges Herzlein wurde still. Ganz sacht kam der Schlaf, schloß Kasperles Schelmenaugen; fröhliche Traumengelchen setzten sich an sein Bett, und das Kasperle schlief ein, schlief zum letztenmal in Meister Severins Haus so friedlich und fest wie schon viele, viele Nächte nicht. Kasperle wachte nicht einmal auf, und schlaftrunken drehte es sich um, als auf einmal auf dem Kirchplatz Wagenrollen erklang, und der Postillon gerade unter seinem Fenster mit seiner Knurrstimme traurig sang:


»Traratrara,

Die Post ist da,

Will mit Kasperlein

Fahren in die Welt hinein,

Traratrara in die weite Welt.

Zwei Millionen sind viel Geld.«


Ach du lieber Himmel, es half alles nichts, Kasperle mußte aufstehen und mit Mister Stopps in die weite Welt reisen.[31]

Quelle:
-, S. 24-32.
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